Protokoll der Sitzung vom 05.11.2009

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Baden-Württemberg ist das Flächenland mit dem höchsten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Knapp ein Viertel der 10,7 Millionen Baden-Württemberger gehören zum Personenkreis der Migranten. Menschen mit Migrationshintergrund sind keine einheitliche und leicht zu definierende Gruppe. Sie kommen aus verschiedenen Herkunftsländern oder sind bereits in Deutschland zur Welt gekommen, entstammen jedoch einer zugewanderten Familie.

Aus dem in der Antwort der Landesregierung zu der Großen Anfrage erwähnten Bericht des Robert-Koch-Instituts geht hervor, dass Menschen mit Migrationshintergrund grundsätzlich nicht kränker sind als Deutsche. Gesundheitliche Unterschiede in der Bevölkerung sind stark durch sozioökonomische Unterschiede bestimmt. Bis heute erhebt die gesamte amtliche Statistik in Deutschland aber nur unzureichende Angaben zum sozioökonomischen Status.

Grundsätzlich ist festzustellen, dass in Baden-Württemberg bereits viel getan wird, um Menschen mit Migrationshintergrund den Zugang zu den Gesundheitsdienstleistungen zu erleichtern. Für den größten Teil der Migranten besteht ein gesetzlicher Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung. Unser Gesundheitswesen in Deutschland, aber auch in Baden-Würt temberg ist bei allen Herausforderungen noch immer eines der besten in Europa und in der Welt.

So gibt es hierzulande 28 Projekte – sehr gute Projekte –, die spezifische Gesundheitsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund zum Inhalt haben. Die Angebote zur gesundheitlichen Prävention und Vorsorge werden in der Regel auch gut von den Migranten angenommen. Beispielhafte Projekte im Gesundheitsbereich in Baden-Württemberg für Menschen mit Migrationshintergrund sind in Konstanz, Heilbronn, Mannheim, Ludwigsburg und im Rems-Murr-Kreis bereits fest installiert.

Daneben gibt es vielfältige Bemühungen, sprachlich oder kulturell bedingte Hindernisse abzubauen. Im Bereich der gesundheitlichen Vorsorge und in der gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit Migrationshintergrund finden sich natürlich auch Herausforderungen und offene Fragestellungen. Viele Einrichtungen und Angebote der Gesundheitsversorgung öffnen sich bereits aktiv gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund. Aber nicht immer gelingt im gewünschten Maß ein sichtbarer Erfolg. So werden beispielsweise Angebote im Bereich der Altenpflege von älteren Menschen mit Migrationshintergrund und von ihren Familien bislang noch unzureichend wahrgenommen und erschlossen. Daher fordert die CDU-Fraktion sinnvolle Wirksamkeitsnachweise im deutschen Gesundheitssystem für neue Angebote und Maßnahmen für Menschen mit Migrationshintergrund.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP – Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Sehr gut!)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Wehowsky für die Fraktion der SPD.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist ein Einwanderungsland. Mit dem Zuwanderungsgesetz haben SPD und Grüne dies zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert und dem Rechnung getragen. Seit den Fünfzigerjahren kamen Millionen von Menschen zur Arbeitsaufnahme oder zum Studium, als Spätaussiedler, als Flüchtlinge oder im Zuge der Familienzusammenführung zu uns.

Heute hat jeder fünfte Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund. Eine große Zahl dieser Zuwanderer ist gut integriert. Sie haben sich in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eingefügt. Wir dürfen aber nicht die Augen davor verschließen, dass es besonders dort, wo der Anteil der Migranten an der gesamten Bevölkerung hoch ist, auch soziale Probleme gibt, die wir lösen müssen.

Nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 wurde die Realität, dass Deutschland Einwanderungsland ist, auch von CDU/CSU akzeptiert. Schließlich konnten CDU/ CSU aufgrund der verifizierbaren Daten und Fakten ihre zuvor noch vehement vertretene Auffassung – ich erinnere an den Kanzlerkandidaten Stoiber seinerzeit während des Wahlkampfs –, Deutschland sei kein Einwanderungsland, nicht mehr aufrechterhalten. Das konnte man weder auf der Bundesebene noch auf der Länderebene aufrechterhalten.

Die SPD ging da schon einen Schritt weiter. Unsere politische Forderung lautete: Deutschland braucht Einwanderung, und zwar vor allem im Hinblick auf die bekannte demografische Entwicklung,

(Beifall des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)

deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und in der Folge auch auf unsere Sozialsysteme.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Hagen Kluck FDP/ DVP – Abg. Ingo Rust SPD: Sehr richtig!)

Aber Einwanderung – das ist klar – braucht Integration. Ziel einer umfassenden Integrationspolitik und der Umsetzung des von der Großen Koalition beschlossenen Nationalen Integrationsplans sollte es deshalb sein, dass Zugewanderte gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Bereichen teilhaben und Chancengleichheit erhalten. Dies umfasst eine sektorenübergreifende Integration in den Bereichen Gesundheit – davon reden wir jetzt gerade –, Arbeit, Bildung, Kultur, „Soziale Sicherung“ und „Politische Willensbildung“. Die SPD setzt sich deshalb für eine Kultur der Anerkennung ein, die kulturelle Vielfalt nicht leugnet, sondern kulturelle Unterschiede als Möglichkeiten für neue Gemeinsamkeiten begreift.

Meine Damen und Herren, Integration heißt Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Genau dies gilt insbesondere für Baden-Württemberg. Denn wir haben hier – das wurde schon von meinen Vorrednern gesagt – einen sehr hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Baden-Württemberg hat mit rund 25 % den höchsten Anteil unter den Flächenländern. Der Bundesdurchschnitt beläuft sich auf rund 18,5 %.

In den industriellen Ballungsräumen Stuttgart, Mannheim und Heilbronn hat fast jeder Vierte eine ausländische Nationalität. In der Landeshauptstadt Stuttgart, in der wir uns gerade befinden, beträgt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund nahezu 40 %.

(Abg. Walter Heiler SPD: Beim VfB ist er noch hö- her! – Heiterkeit)

Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist hier höher als in jeder anderen deutschen Großstadt.

In der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion GRÜNE werden viele aktuelle Beispiele und Projekte von Trägern der Integrationsmaßnahmen genannt, u. a. sehr viele Foren auf kommunaler Ebene, an der sich auch Konsulate, Sozialleistungsträger – da meine ich vor allem Krankenkassen – oder Selbsthilfeeinrichtungen für unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger beteiligen. Diese spezifischen Gesundheitsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund sind vorhanden und in der Antwort der Landesregierung dokumentiert.

Wichtig ist der SPD, dass diese Beratungsstellen, die jetzt schon vorhanden sind, bitte auch in ein Netzwerk – ähnlich wie die Gemeinsamen Servicestellen für Rehabilitation, die in Baden-Württemberg bereits erfolgreich arbeiten – eingebunden werden, damit auch das Backoffice für die Menschen mit Migrationshintergrund funktioniert. Dieses Backoffice ist ein Netzwerk der verschiedenen Institutionen, die es in diesem Bereich gibt, nämlich Sozialleistungsträger, Selbsthilfegruppen, Konsulate, Arbeitsämter, Integrationsämter – all die Einrichtungen, die wir haben, um diesen Menschen zu helfen. Genau das muss klappen, damit die spezifischen Anliegen auch gezielt unterstützt werden können.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich die baden-württembergischen Landkreise bereits mit dieser Sache beschäftigen. Wir fragen uns aber jetzt: Wo bleibt der Beitrag der Landesregierung?

Da komme ich zurück auf das Projekt „MiMi – Mit Migranten für Migranten“, das bereits von Frau Mielich angesprochen worden ist. Wir hätten auch die Bitte, dass dieses Projekt des Ethno-Medizinischen Zentrums Hannover zur Ausbildung von interkulturellen Gesundheitsmediatoren in Baden-Württemberg flächendeckend eingesetzt wird. Hier sollte sich BadenWürttemberg anderen Ländern anschließen, personelle und finanzielle Ressourcen für die Gesundheitsämter bereitstellen und dem Landesgesundheitsamt die Steuerung und Koordination eines entsprechenden Projekts interkultureller Gesundheitsmediatoren übertragen.

Darüber hinaus ist wichtig – das möchte ich bitte noch anfügen –, dass Bildung bekanntermaßen die effizienteste Gesundheitsprävention ist. Dazu gehört eben auch das, was schon im Landesintegrationsplan als Forderung der Städte und Gemeinden enthalten ist: Das Ganztagsschulangebot soll ausgebaut werden, die Schulsozialarbeit soll als Landesaufgabe anerkannt werden, und es soll endlich ein Konzept zur individuellen Sprachförderung vorgelegt werden; das ist wichtig, damit wir die Kinder in die Gesellschaft integrieren können.

Im Übrigen ist das ein zentraler Bestandteil des Orientierungsplans für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten. Der Schlüssel zu einer gelingenden Integration ist nämlich der Erwerb der deutschen Sprache.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Abg. Hans Heinz CDU: Sehr gut!)

Das besondere Augenmerk – dazu bitte ich insbesondere die Landesregierung um Unterstützung – in dieser Sache muss auf einem tragfähigen Kompromiss zwischen Landesregierung sowie Städte- und Gemeindetag liegen. Dann haben wir auch die Voraussetzung für eine erfolgreiche Integrationspolitik geschaffen.

Es ist viel zu tun – packen wir es an. Oder besser gesagt: Die Landesregierung sollte nicht nur einen Schalter umlegen, sondern die Weichenstellung verändern, damit der Integrationszug in die richtige Richtung fährt.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der SPD: Sehr gut! – Genau!)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Noll für die Fraktion der FDP/DVP.

Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um Frau Mielich eine Freude zu machen: Herzlichen Dank für diese Große Anfrage, mit der Sie meinen Antrag aus dem Jahr 2007 zur Situation behinderter und chronisch kranker Menschen mit Migrationshintergrund, über den Sie sich damals im Ausschuss etwas abfällig geäußert hatten, auf eine umfassendere Basis gestellt haben.

(Zuruf der Abg. Bärbl Mielich GRÜNE)

Daher gäbe es selbstverständlich viele Erkenntnisse aus der Antwort auf die Große Anfrage zu diskutieren.

Der Kollege Wehowsky hat völlig recht: Zu glauben, man könne die Probleme durch Einzelmaßnahmen lösen, ist völlig falsch. Ein Fazit aus der Großen Anfrage ist, dass der Schlüssel zu allem auch im Gesundheitswesen die Bildung ist, und zwar die frühzeitige Bildung. Da widerspreche ich Ihnen. Gerade wir haben zusammen mit unserem Justizminister als Integrationsbeauftragtem Druck gemacht, damit das Thema Sprachförderung auch den Stellenwert bekommt, der ihm gebührt.

Jetzt wird es ganz konkret: In dieser Großen Anfrage wird z. B. beim Thema Adipositas, also Übergewicht, darauf hingewiesen, dass die Einflussgröße „Migrationshintergrund oder nicht?“ eher hinter die Frage „Ist ein Elternteil adipös?“ und hinter die Frage „Wird in der Familie deutsch gesprochen?“ zurücktritt. Das heißt – da wird es wirklich ganz konkret –, dass dort, wo Bildungsfähigkeit und Bildungswilligkeit vorhanden sind, die Voraussetzungen für gesundheitsbewusstes Verhalten sehr viel leichter zu erreichen sind.

Wenn man überhaupt ein Fazit daraus ziehen darf, dann ist es das Fazit, dass das Thema Migrationshintergrund sehr unterschiedlich und differenziert ist. Dass z. B. Alkoholexzesse bei einem Teil, nämlich denjenigen, die islamischen Glaubens sind, keine so große Rolle spielt, wundert einen natürlich nicht. Auch beim Thema Allergien ist schon auf die Unter

schiede hingewiesen worden. Wir wissen auch, dass unsere Gesellschaft, unsere jungen Eltern – möglicherweise aus Ängstlichkeit – teilweise einem Sauberkeitswahn unterliegen, der vielleicht noch nicht alle, die zugewandert sind, in dem Maß erreicht hat.

(Vereinzelt Beifall)

Interessant ist für mich auch die Tatsache, dass von Eltern mit Migrationshintergrund die üblichen Impfungen – Röteln, Masern usw. – deutlich besser angenommen werden als von deutschen Eltern. Lassen Sie uns auch darüber einmal nachdenken. Bei uns geht es schon in die umgekehrte Richtung, da gibt es Impfskeptiker usw. Das sind Entwicklungen, die eigentlich nicht so sehr mit einem Migrationshintergrund, sondern mit der Zugehörigkeit zu den berühmten bildungsfernen oder bildungsnahen Schichten zu tun haben.

Deswegen bleibe ich dabei: Das, was wir gemeinsam mit unserem Integrationsbeauftragten an Integrationsbemühungen gebündelt und jetzt massiv zusammengeführt haben, ist der richtige Weg. In der Gesundheitsvorsorge gilt der alte Spruch: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Deswegen müssen wir sehr früh anfangen und bei den Kindern ansetzen.

Kleine Nebenbemerkung: Alles, was diese Menschen abhalten könnte, ihre Kinder in eine Betreuung zu geben, halte ich nicht unbedingt für sehr sinnvoll. Denn gerade über Betreuung – und zwar zu einem sehr frühen Zeitpunkt – kommen wir an die Kinder und damit auch an die Eltern heran. Ich rede nicht wie der Blinde von der Farbe. Ich war lange Zeit Jugendzahnarzt und habe in Kindertageseinrichtungen Untersuchungen durchgeführt, aber eben auch Prävention betrieben. Da erreicht man die Eltern und kann versuchen, den Menschen einen gesundheitsförderlichen Lebensstil nahezubringen.

Dass uns dies sowohl bei den Eltern mit Migrationshintergrund als auch bei den deutschen Eltern nicht immer in vollem Umfang gelingt, geht aus der Antwort auf die Große Anfrage auch hervor. Deswegen habe ich manchmal das Gefühl, wir sollten nicht so tun, als wäre bei uns alles okay, während es bei den Menschen mit Migrationshintergrund Probleme gibt; im Gegenteil.

Es gibt eine interessante Bewegung, wonach wir auch im medizinischen Bereich von anderen Kulturen etwas lernen können. Ich habe dazu gestern zufällig einen wunderschönen Vortrag gehört. Danach werden bei uns z. B. Heilmethoden aus der Türkei zum Teil durchaus wieder nachgefragt. Das alles ist also keine Einbahnstraße. Vielmehr haben wir es mit einem idealen Bereich zu tun, wenn wir das Thema Integration nicht eindimensional sehen und auf einzelne Probleme fokussieren, sondern es umfassend sehen, so, wie wir es im Land mit unserem Integrationsplan angegangen sind.

Letzte Bemerkung: Ich glaube, das Allerbeste in der medizinischen Versorgung ist das, was zunehmend auch zur Realität wird: dass immer mehr junge Leute mit Migrationshintergrund, wenn sie die Schule abgeschlossen haben, Arzthelferin in der Arztpraxis oder Pflegerin oder Krankenschwester im Krankenhaus werden. Dann haben wir einen doppelten Effekt: Einerseits wirken sie als Multiplikatoren, und andererseits müssen wir keine Sonderprogramme auflegen. Denn

wenn eine türkische Arzthelferin da ist, hilft das dem betreffenden Arzt sehr viel mehr als irgendein Programm, das wir durchführen.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Daher danke ich für die ausführliche Beantwortung dieser Anfrage.

(Beifall des Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP)

Wir sind, glaube ich, auf einem guten Weg. Aber sicherlich gibt es nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund, sondern für uns alle die Verpflichtung, den Menschen das Wissen zu vermitteln, dass sie gesund leben können – um damit auch der Verwirklichung unser aller Vorstellung etwas näher zu kommen – und dass jeder die Möglichkeit hat, an allen Gesundheitsleistungen in diesem Land zu partizipieren.