Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Eckpunk te für die gesetzlichen und pädagogischen Rahmenbe dingungen für Inklusion – Drucksache 14/6158
Vielen Dank. – Frau Präsi dentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut einem Jahr hat der frühere Kultusminister Rau angekündigt, dass in Ba den-Württemberg die Sonderschulpflicht abgeschafft und für Kinder mit Behinderungen ein Elternwahlrecht zwischen Son derschule und Regelschule eingeführt wird. Diese Ankündi gung ist nicht ganz freiwillig erfolgt. Vielmehr wurde im März 2009 im Deutschen Bundestag die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Nach dieser Ratifizierung war klar, dass auch in Baden-Württem berg Handlungsbedarf besteht. Denn in Artikel 24 der UN
Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen wird ja gefordert, dass die Länder ein inklusives Bildungssys tem umsetzen müssen.
Die Ankündigung ist von vielen Eltern mit großer Erleichte rung aufgenommen worden, und zwar vor allem von Eltern, die über Jahre hinweg in einer Bittstellerfunktion waren, die, wenn sie eine inklusive Beschulung für ihre Kinder wünsch ten, hohe Hürden überwinden mussten, die oft auch selbst an Schulen Klinken putzen mussten. Viele Eltern haben auch die bittere Erfahrung gemacht, dass ihre Kinder an allgemeinen Schulen eigentlich nicht wirklich erwünscht sind.
Nachdem aber jetzt die Sonderschulpflicht abgeschafft wer den sollte, haben Eltern, Lehrkräfte und auch Schulen Ängs te geäußert. Diese Ängste bezogen sich nicht darauf, dass man keine Inklusion wünschte, sondern es waren Ängste, dass die Schulen von den neuen pädagogischen Aufgaben, die auf sie zukommen, möglicherweise überfordert werden. Es gab und gibt auch Ängste von Eltern, dass ihre Kinder an den Regel schulen nicht die Förderung bekommen, die sie brauchen, dass sie zwar aufgenommen, aber dann nicht ausreichend geför dert werden. Das haben uns Eltern auch geschrieben. Das heißt ganz konkret, dass es natürlich auf die Rahmenbedin gungen bei der Inklusion ankommt.
Die Ängste der Eltern sind ja nicht unbegründet. Frau Minis terin Schick, Sie haben, als Sie das Umsetzungskonzept am Tag der Menschen mit Behinderungen im April im Landtag vorgestellt haben, darauf verwiesen, dass in Baden-Württem berg bereits 29 % der Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf eine allgemeine Schule besuchten und dort son derpädagogische Förderung erhielten, was bundesweit die höchste Quote sei.
Nun muss man allerdings etwas genauer hinschauen: Bis auf 2,6 % werden diese Kinder zielgleich gefördert. Das steht auch in der Antwort auf unsere Große Anfrage und in dem Be richt des Landesinstituts für Schulentwicklung zur sonderpä dagogischen Förderung in Baden-Württemberg. Wenn man den Anteil der Lehrerstunden des sonderpädagogischen Diens tes umrechnet, stellt man fest, dass nur 0,38 Lehrerwochen stunden pro Kind dafür zur Verfügung stehen. Daraus resul tieren die Ängste der Eltern, dass beim gemeinsamen Unter richt dieser Anteil an Lehrerstunden für die Kinder nicht aus reicht.
Ich will nicht einmal böse Absicht seitens der Sonderschulen unterstellen. Vielmehr liegt es daran – Sie haben es eben in der Debatte zur Unterrichtsversorgung noch einmal deutlich gemacht –, dass wir an den Sonderschulen eine strukturelle Unterversorgung haben. Das heißt, dass die Ressourcen bis heute nicht ausreichen, um die Kinder mit sonderpädagogi schem Förderbedarf, die bereits heute an den Regelschulen sind, dort zu fördern. Ganz konkret bedeutet das, dass die ho he Quote, die wir jetzt bei der Integration haben, nichts mit einem inklusiven Ansatz zu tun hat. Denn wir brauchen einen Paradigmenwechsel: Alle Kinder, die an den Regelschulen mit sonderpädagogischer Förderung integriert werden, brauchen auch die Qualität und den Umfang der Förderung, die ihnen zustehen, um optimal gefördert zu werden.
Was brauchen wir nun? Wo ist der Unterschied zu dem, was Sie angekündigt haben? Wir brauchen einen Paradigmenwech
sel, der heißt: Die Eltern brauchen Sicherheit und den Vertrau ensvorschuss, dass ab jetzt ihre Bittstellerrolle zu Ende geht. Sie sagen, dass Sie die Bittstellerrolle der Eltern nicht mehr wollen. Dazu brauchen wir die Abschaffung der Sonderschul pflicht. Nur, wenn wir die Sonderschulpflicht jetzt abschaffen – nicht in erst drei Jahren –, werden die Eltern das als vertrau ensbildende Maßnahme verstehen.
Ich verstehe auch überhaupt nicht, warum Sie das nicht jetzt sofort machen. Wenn Sie sagen, dass der Elternwunsch die Leitschnur werden solle und dass es nur absolut zwingende Gründe dafür geben dürfe, dem Elternwunsch zu widerspre chen, dann sehe ich keinen Grund, der dagegen spräche, die Sonderschulpflicht gleich jetzt abzuschaffen.
Dass Sie die Sonderschulpflicht nicht sofort abschaffen wol len, haben Sie bisher mit der Notwendigkeit der Gewinnung von Umsetzungserfahrungen begründet. Aber solche Erfah rungen liegen aus den Außenklassen und aus den integrativen Schulentwicklungsprojekten teilweise schon vor. Diese Um setzungsschritte können selbstverständlich auch dann, wenn die Sonderschulpflicht abgeschafft wird, weiterentwickelt und dann auch in einer Verordnung fortgeschrieben werden, so, wie auch die bisherigen Verordnungen regelmäßig fortge schrieben worden sind.
Daher verlange ich von Ihnen, dass Sie die Sonderschulpflicht jetzt abschaffen, wenn Sie Ihre Ankündigung, dass der Eltern wunsch die Richtschnur werden müsse, wirklich ernst mei nen.
Zweitens – das ist mir genauso wichtig –: Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif. Bislang haben Sie nicht angekündigt, dass Sie zusätzliche Ressourcen brauchen, um in Baden-Württem berg Inklusion umzusetzen. Ich habe es eben gesagt: Die Res sourcen reichen derzeit nicht einmal aus, um den Kindern, die bereits integriert sind, tatsächlich auch die sonderpädagogi sche Förderung zu geben, die sie brauchen. Daraus, dass sie diese Förderung nicht bekommen, resultiert ja auch die Frus tration vieler Eltern und vieler Kinder.
Deshalb müssen jetzt beim Einstieg in die Inklusion die ent sprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Inklusion erfolgreich umgesetzt wird, damit auch all die El tern und die Schulen, die derzeit noch Ängste haben, nicht Wi derstand leisten, sondern diese Möglichkeit, die sie ja wün schen, im Vertrauen nutzen können.
Wir Grünen haben einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Sonderschulpflicht und zur Einführung des Elternwahlrechts vorgelegt. Wir haben damit auch bessere Rahmenbedingun gen für Inklusion – also diesen Paradigmenwechsel – ver knüpft. Der Gesetzentwurf wurde im Frühjahr dieses Jahres im Landtag von Baden-Württemberg abgelehnt.
Wir sind erneut initiativ geworden und haben einen Eckpunk teantrag eingebracht, der heute zur Abstimmung steht. In die sem Eckpunkteantrag sind die Rahmenbedingungen festge schrieben, die gegeben sein müssen, damit wir tatsächlich schrittweise in die Inklusion gehen können.
Rechtlich muss die Sonderschulpflicht abgeschafft werden. Diese Forderung gehört zu den wichtigsten Eckpunkten.
Wir brauchen aber an den Schulen ein Unterstützungssystem, wie wir dies auch aus anderen Ländern, z. B. aus den skandi navischen Ländern, kennen. Wir wollen an allen Grundschu len Heilpädagogen einstellen, die auch die Basis eines Unter stützungssystems bilden können. Wir brauchen Sonderpäda gogen in einem Basisunterstützungsmodell. Dafür wollen wir im ersten Jahr des Einstiegs 500 zusätzliche Stellen schaffen.
Wir wollen aber auch, dass die Sozialpädagogik an den Schu len ausgebaut wird, gerade wenn wir Kinder mit einem För derbedarf im Bereich der Erziehungshilfe, also der emotiona len und der sozialen Entwicklung, an den Regelschulen ha ben wollen. Das sind ja die Kinder, die oft scheitern, weil die Lehrkräfte an den Schulen nicht mit den Problemlagen dieser Kinder umgehen können. Deshalb wollen wir auch die Sozi alpädagogik an den Schulen integrieren.
Wir wollen selbstverständlich erreichen, dass es differenzier te Lösungen geben wird. Das haben Sie, Frau Kultusministe rin, auch gesagt. Denn wir haben bei den Kindern eine ganze Bandbreite an Vielfalt, und auch Kinder mit Behinderungen sind nur ein Teil davon. Da gibt es keine Trennung. Wir ha ben gerade auch unter diesen Kindern solche mit einer leich ten Lernbehinderung bis hin zu Kindern mit schwerster Mehr fachbehinderung. Deshalb brauchen wir hoch differenzierte Modelle der Inklusion.
Für uns Grüne ist ein ganz wichtiges Ziel: Inklusion darf nicht von der Art und der Schwere einer Behinderung abhängen. Auch Kinder mit schwerster Behinderung haben einen An spruch auf Inklusion. Auch dafür gibt es Modelle, wie sie auch schon der Landesverband der Körperbehinderten vor Jahren gefordert hat – mit sogenannten inklusiven Mittelpunktschu len, an denen auch die Therapie und die optimale sonderpäd agogische Förderung ausgestaltet werden können.
Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Eckpunkteantrag definiert klar die Rahmenbedingungen, die unserer Meinung nach unverzichtbar sind. Der Antrag de finiert auch, was wir in schulrechtlicher Hinsicht tun müssen. Selbstverständlich wird es ein Entwicklungsprozess sein. Aber der Entwicklungsprozess heißt Paradigmenwechsel.
die es auch den Lehrkräften ermöglicht, besseren Unterricht zu erteilen, weil sie jedes Kind individuell fördern, wie wir das schon aus den ISEP-Klassen kennen. Genau das ist der
Weg, der gut für alle Kinder, gut für unser Schulwesen und vor allem auch gut für die betroffenen Kinder ist, die ein Recht darauf haben, inklusiv beschult zu werden – in einer Schule, die jedem Kind gerecht wird, in der jedes Kind sein individu elles Bildungsziel erreichen kann.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass die Redezeit zehn Minuten je Fraktion be trägt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die UN-Behindertenrechtskonvention hat Bewe gung in die Debatte gebracht. Lange Zeit haben Sie von der FDP/DVP und der CDU hier diese Entwicklung blockiert.
Bundestag und Bundesrat – und damit auch Baden-Württem berg – haben den Artikel 24 der Konvention ratifiziert.
Die UN-Konvention enthält klare Bestimmungen: Sie enthält zum einen ein Verbot der Sonderschulpflicht. Die Sonder schulpflicht ist demnach verfassungswidrig. Das Kultusmi nisterium hat nun für die Abschaffung plädiert, aber doch nicht so ganz richtig, sondern sich ein paar Auswege offengehalten. Die Vertragsstaaten gewährleisten ein inklusives Bildungssys tem. Das ist auch Bestandteil dieser UN-Behindertenrechts konvention. Das heißt jedoch nicht – das sage ich auch gleich dazu –, dass jetzt automatisch Gymnasien oder die Sonder schulen abgeschafft werden müssten, sondern das heißt, dass ein Aufbau eines inklusiven Bildungssystems notwendig ist.
Jetzt ist die Frage: Erfüllt Baden-Württemberg nun diesen An spruch? Dazu möchte ich kurz ein Papier des Sozialverbands Deutschland zum Bildungsparameter Inklusion, bezogen auf Baden-Württemberg, vorlesen. Dort heißt es – ich zitiere –:
Das Schulgesetz entspricht bislang nicht den Erforder nissen eines inklusiven Bildungssystems. So ist weder der Vorrang gemeinsamer Beschulung gesetzlich verankert, noch haben die Eltern einen Rechtsanspruch auf integra tive Beschulung für ihr behindertes Kind. Integrative Klassen gibt es in Baden-Württemberg nur vereinzelt in Schulversuchen. Und auch diesen wird das Leben nicht leicht gemacht.
Entschlossenes Handeln zugunsten inklusiver Bildung sieht anders aus! Mit ihrem Vorstoß zur Abschaffung der Sonderschulpflicht erweckt die politische Führung in Ba den-Württemberg zwar geschickt den Eindruck, zuguns ten der inklusiven Bildung aktiv werden zu wollen. Der SoVD hat jedoch große Zweifel an der Ernsthaftigkeit des politischen Willens zur Inklusion.