Protokoll der Sitzung vom 22.07.2020

(Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das globale Artensterben hat verschiedene Ursachen. Über Jahrhunderte haben wir die Landschaft zersiedelt und im Sinne des Menschen optimiert: größere Siedlungen, versiegelte Böden, ein immer engeres Straßennetz, größere Felder und Monokulturen. Wir haben si gnifikante Rückgänge bei den Insekten sowohl im Wald als auch im Grünland und selbst in Naturschutzgebieten zu ver zeichnen. Pestizide sind schädlich für Insekten. Das wissen wir. Doch in unserer heutigen Landschaft gibt es auch einen Mangel an geeignetem Lebensraum. Es fehlen Rückzugsmög lichkeiten und artenspezifische Nahrungsquellen. Die Flächen sind zu homogen und die Biotope zu stark voneinander ge trennt.

Bis vor Kurzem mangelte es auch an der Problemwahrneh mung. Ich erinnere mich noch, wie man über die Naturschüt zer geredet hat. Man hat z. B. gesagt: „Da kommen wieder die Krötenversteher!“ Das sagt viel darüber, wie man das Prob lem gesehen hat.

Heute wissen wir es besser. Wir wissen, wie wichtig jede ein zelne Tier- und Pflanzenart ist und dass alles wie in einem Netz verbunden ist. Dieses Netz – der große Biologe Konrad Lorenz hat es das „Wirkungsgefüge der Natur“ genannt – trägt alles Leben unter der Sonne, auch das von uns Menschen. Die einzelnen Tier- und Pflanzenarten sind darin wie Knoten. Wenn das Netz Löcher bekommt, dann haben wir ein Riesen problem, weil das ganze Ökosystem – dem auch wir Men schen angehören – aus dem Gleichgewicht geraten kann und gerät.

Die Probleme stehen uns heute deutlich vor Augen. 39 Wild bienenarten sind in Deutschland inzwischen ausgestorben. Die Biomasse von Fluginsekten ist im Offenland um bis zu 80 % zurückgegangen. Untersuchungen in drei Großschutzgebie ten haben von 2008 bis 2017 einen Rückgang der Zahl der In sektenarten um 30 % festgestellt. Fast die Hälfte aller Tagfal terarten in Europa ist in den letzten 20 Jahren verschwunden.

Insekten stehen in der Nahrungskette weit vorn. Geht die An zahl der Insekten zurück, hat dies Auswirkungen auf alle fol genden Arten. Etwa die Hälfte aller Vogelarten sind vom Aus

sterben bedroht. Im Offenland sind sogar drei von vier heimi schen Vogelarten gefährdet. Deswegen sprechen die Experten insgesamt vom größten globalen Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier. Das sind dramatische Entwicklungen – ähn lich wie beim Klimawandel.

Unser Biodiversitätsstärkungsgesetz ist eine Antwort darauf. Um was geht es konkret? Wir sind bei der Reduktion von Pflanzenschutzmitteln ganz gezielt vorangegangen. Wir been den den Pestizideinsatz in Naturschutzgebieten und ganz weit reichend auch den Einsatz chemisch-synthetischer Pflanzen schutzmittel in Privatgärten. Bei den landwirtschaftlich ge nutzten Flächen wissen wir, dass wir den Einsatz nicht über all sofort um 50 % senken können. Aber die Reduktion um 40 bis 50 % in der Gesamtmenge steht – und zwar in einem weit gehenden Konsens. Das ist das Erfreuliche dabei.

(Beifall)

Wir unterstützen den Ausbau des Ökolandbaus auf 30 bis 40 % bis 2030 und den Erhalt von Streuobstbeständen. Was mir persönlich besonders wichtig war: Wir haben den Blick über die Landwirtschaft hinaus geweitet

(Zuruf)

und gehen teilweise über das Volksbegehren und den Volks antrag hinaus und nehmen die Bürgerinnen und Bürger selbst in die Pflicht. Denn nicht nur die Landwirtschaft trägt Verant wortung. Wir alle können etwas tun, um den Artenreichtum zu schützen und zu erhalten. Wir schreiben eine insekten freundliche Gestaltung öffentlicher Grünflächen vor und neh men eine insektenfreundliche Beleuchtung in das Gesetz auf. Wir unterstützen den Ausbau des Biotopverbunds und die Ein richtung von Refugialflächen, also von Rückzugsräumen für Flora und Fauna.

(Beifall)

Es reicht nicht, nur Futter mit temporären Blühstreifen anzu bieten. Auch gegen die Unsitte von Schottergärten gehen wir vor, denn die nehmen wichtigen Lebensraum. Vögel oder In sekten fressen nun mal keine Steine, und auch sonst niemand.

(Zuruf)

Gleichzeitig stellen wir mit den modernsten und innovativs ten Regelungen in ganz Deutschland die Weichen für eine zu kunftsfähige Landwirtschaft in Baden-Württemberg. Wir las sen die Bäuerinnen und Bauern

(Zuruf der Abg. Dr. Christina Baum AfD)

mit den wirtschaftlichen Folgen nicht allein. Wir nehmen rich tig Geld in die Hand. Allein im Doppelhaushalt 2020/2021 sind rund 62 Millionen € für ein breites und, wie ich finde, ausgewogenes Bündel von Maßnahmen eingestellt. Das sind wirkliche Investitionen in die langfristige Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und der bäuerlichen Landwirt schaft.

(Beifall)

Ich denke, wir können aus der Debatte über den Volksantrag und das Biodiversitätsstärkungsgesetz für die Zukunft etwas Wichtiges mitnehmen: Wir haben gemeinsam einen Ge sprächsfaden aufgenommen, den wir weiterspinnen wollen

und müssen. Das übergreifende Ziel heißt: Gesunde Lebens mittel im Einklang mit der Natur erzeugen, und zwar so, dass bäuerliche Existenzen gesichert werden.

Damit das gelingt, müssen wir noch andere Gruppen einbe ziehen, vor allem die Verbraucherinnen und Verbraucher, den Handel. Auch sie sind in der Pflicht. Und da gibt es merkwür dige Diskrepanzen.

Herr Ministerpräsident, lassen Sie eine Zwischenfrage der Frau Abg. Dr. Baum zu?

Vielen Dank, Herr Minister präsident. – Gibt es Zahlen, wie hoch der Anteil der Windrä der an der Tötung von Insekten und Vögeln ist?

(Zurufe, u. a.: Am Thema vorbei!)

Wir haben ein derart ausgebautes Windrädernetzwerk in Ba den-Württemberg. Gibt es Zahlen dazu?

(Vereinzelt Lachen – Zurufe)

Die gibt es na türlich, Frau Abgeordnete. Die kann ich Ihnen jetzt natürlich freihändig nicht sagen. Aber man kann einmal sicher sagen: Bei der Dichte von Windkraftanlagen, die wir in Baden-Würt temberg haben, ist das mit Sicherheit vernachlässigbar.

(Beifall – Zurufe, u. a. Abg. Dr. Christina Baum AfD: Nein! – Unruhe)

Es gibt einige merkwürdige Diskrepanzen. Ich nenne mal ei ne: Die Verbraucher in Deutschland geben so viel Geld für Küchen und Küchenausstattung aus wie in kaum einem ande ren Land. Aber es ist doch merkwürdig, dass man, wenn man teure Kochtöpfe kauft, bei dem, was man dann dort hineintut, immer auf billig, billig, billig schaut. Das ist leider oft der Fall.

(Beifall)

Noch merkwürdiger ist es, wenn man sich das in der Historie anschaut.

(Unruhe)

Meine Damen und Herren, ich darf Sie um etwas mehr Ruhe bitten.

Zu Goethes Zei ten haben die Menschen, die keine Selbstversorger waren, noch 75 % des Einkommens für Nahrung ausgegeben. Noch 1950 waren es 44 %. Heute – die Zahlen sind von 2018 – sind es nur noch 13,7 %. Das zeigt doch: Wir geben im Durch schnitt von unserem Einkommen immer weniger für landwirt schaftliche Produkte aus. Ich denke, darüber müssen alle Ver braucher nachdenken.

(Beifall)

Mehr ökologische Standards, mehr Landschaft, mehr Vielfalt, mehr Tierwohl – und das alles billiger, billiger, billiger, das kann nicht aufgehen. Das muss jedem klar sein.

(Beifall)

Darüber hinaus gibt es aber auch noch den Handel und die großen Lebensmittelketten, die ebenfalls Verantwortung tra gen. Die Preise, die den Bauern dort gezahlt werden, liegen nicht selten unter den Gestehungskosten. Es ist kaum mehr zu glauben: Manchmal bekommt ein Bauer für ein Kalb weniger Geld, als man für einen Kanarienvogel zahlt. Letztens habe ich erfahren, dass eine Bäuerin für ein Kalb 10 € bekam. Bei Milch und anderen Produkten sieht es oft ähnlich aus. Auch hier muss die Politik ran und muss Gespräche mit den Dis countern über faire Preise für heimische Lebensmittel führen.

Wir sollten aber den Mut haben – das will ich jetzt deutlich machen –, die Fragen noch umfassender zu stellen. Wir brau chen ein neues Verhältnis zwischen Landwirten, Handel, Ver brauchern und Naturschutz, ein neues Denken, ein Verständ nis füreinander und einen neuen Konsens, der in so etwas münden muss wie eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft, auch in diesem wichtigen Sektor der Volkswirtschaft.

(Beifall)

Das, was wir heute beginnen, sollten wir als Blaupause be trachten für einen neuartigen Gesellschaftsvertrag, der Arten schutz, Landwirtschaft, Handel und Verbraucher zusammen bringt und die Natur als ureigensten Gegenstand des gesell schaftlichen Miteinanders definiert.

Wenn wir uns einmal die Zielsetzungen eines Gesellschafts vertrags in der Geschichte ansehen, dann sehen wir: Es ist na türlich ein großes Rad, das wir drehen müssen. Ich bin über zeugt: Wir müssen hier ein großes Rad drehen. Wir sehen nun seit Jahrzehnten, dass die Anstrengungen, die wir auf allen Ebenen unternommen haben, um in diese Richtung zu kom men, nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt haben. Des wegen, glaube ich, ist es nicht zu hoch gegriffen, solch ein großes Rad zu drehen und diesen Gedanken des Gesellschafts vertrags einmal aufzunehmen.

Bei den Gesellschaftsverträgen waren die großen Ideen von Demokratie, Freiheit und Sicherheit im Spiel: bei Hobbes et wa, in dessen Vertragsidee es um die Sicherheit der Bürger geht, die dem Staat das Gewaltmonopol übertragen, oder bei Locke, der den liberalen Rechtsstaat und die verfassungsmä ßige Zügelung des Staates betont, oder bei Rousseau mit ei nem Vertrag, der Selbstregierung und Volkssouveränität in den Mittelpunkt stellt.

Heute schließt sich ein neuer und zusätzlicher Schritt an. Wir müssen auch die Natur in solch einen Gesellschaftsvertrag mit hineinnehmen, in einer ganz umfassenden Weise den Konsens über den Schutz unserer ökologischen Lebensgrundlagen su chen. Wichtige Vertragspartner sind hier eben Bauern, Ver braucher und Handel. Zum Vertragszweck gehört eine Nah rungsmittelproduktion, die unsere Lebensgrundlagen erhält und nicht zerstört. Aber wir müssen noch weiter denken, et wa mit Blick auf eine marktwirtschaftliche Gestaltung der Le bensmittelpreise, die weder sozialen Ausschluss bedeuten darf noch Dumpinglöhne oder Tierquälerei.

(Beifall)

Dabei müssen wir auch nach Brüssel schauen. Auch hier rückt das Thema endlich stärker ins Bewusstsein. Die Biodiversi tätsstrategie und die „Farm to Fork“-Strategie der EU sind ers te wichtige Initiativen. Maßgeblich ist vor allem die Gestal

tung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Die Verhandlun gen über die Förderperiode der nächsten sieben Jahre werden gerade geführt. Der Naturschutz muss hier angemessen finan ziert werden. Hier gilt es in Brüssel, aber auch in der Umset zung bei uns und in Berlin die richtigen Weichen zu stellen.

Herr Ministerpräsident, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Weber zu?