Meine Damen und Herren, Kunst ist eine Tochter der Freiheit. Es kann nicht sein, dass Kunst gefährdet ist oder gar nicht erst entstehen darf, wenn sie kritisch, unbequem, politisch zu wer den droht. Denn in der kritischen künstlerischen Auseinander setzung manifestiert sich die Freiheit der Gesellschaft. Kunst und Freiheit bedingen sich also gegenseitig.
Kulturpolitik hat den Auftrag, diese Freiheit zu gewähren. Kunst braucht eine auskömmliche Finanzierung, um sich frei entfalten zu können. Das gilt für Institutionen wie für einzel ne Personen. Dafür sind w i r verantwortlich. Dafür müs sen w i r Sorge tragen. Die Politik ist also, um beim Bild von Mutter und Tochter zu bleiben, die Geburtshelferin der Kunst. Kunst braucht Autonomie, Handlungsspielräume, Of fenheit für Neues, Innovation. Was Kunst ganz sicher nicht braucht, ist Zensur.
Kunst ist mehr als nur schmückendes Beiwerk. Sie denkt vo raus, sie eröffnet Spielräume, sie verbindet Kulturen, sie er findet Neues, und sie trägt dazu bei, unsere Gesellschaft als freie Gesellschaft zusammenzuhalten. Gerade erst hat Emma nuel Macron bei seiner Rede an der Sorbonne die Kultur als den „Kleber für den sozialen Zusammenhalt“ bezeichnet.
Es lohnt sich, jeden Tag und an jedem Ort für die Freiheit der Kunst einzutreten. Ganz konkret wollen wir heute mit dieser Debatte ein Zeichen setzen und zum Ausdruck bringen, dass wir die Entwicklung in Russland mit Sorge betrachten und es als skandalös empfinden, dass Serebrennikov sein Opernpro jekt in Stuttgart nicht vollenden durfte. Die internationale An erkennung und der Respekt für diesen großen russischen Künstler werden trotz des angeordneten Hausarrests sicher nicht nachlassen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Hänsel und Gretel – Ein Märchen über Hoffnung und Not“, sollte in der Stuttgarter Oper erzählt werden, ein deutsches Märchen, schriftlich überliefert seit dem ganz frühen 19. Jahr hundert durch die Gebrüder Grimm.
Die Gebrüder Grimm sind es übrigens auch, die mit ihren vie len Märchen, in denen sie die Todesangst der Menschen vor dem Wolf thematisiert haben, diese Angst tief – für meine Überzeugung: ganz tief – im kulturellen Gedächtnis verankert haben. Das muss ich in Bezug auf die Debatte von eben noch mal sagen.
Ein deutsches Märchen also, inszeniert von einem renommier ten russischen Regisseur und Regimekritiker, der diese Ge schichte über Hunger, Vertreibung und Todesdrohung von zwei Kindern in den Kontext der Globalisierung und des Völ kermords in Ruanda stellt.
Russland und Ruanda – viele von uns kennen weder das eine noch das andere Land, wie ich annehme. Aber die Bezüge und sogar die gemeinsame Geschichte von Baden-Württemberg und Russland sind durchaus vielfältig. Zuletzt hat uns das die großartige Ausstellung „Im Glanz der Zaren“ des Landes museums Württemberg vor Augen geführt. 140 000 Besucher haben sich für die Verbindungen der Häuser Württemberg und Romanow interessiert.
Auch heute bestehen vielfältige Beziehungen zwischen Deutsch land und Russland. Wir unterhalten dort drei Goethe-Institute. Es gibt 900 Hochschulkooperationen. 15 000 russische Stu dierende sind bei uns eingeschrieben, jeder Zehnte von ihnen mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Aus tauschdienstes. 2 000 junge Leute studieren jedes Jahr als Sti pendiaten in Russland. Es gibt auch 1 000 Schulpartnerschaf ten.
Es gibt also Bezüge, und der Regisseur, Bühnenbildner und Kostümbildner Kirill Serebrennikov war auch nicht zum ers ten Mal nach Stuttgart eingeladen worden, um eine Oper zu inszenieren. Aber bevor er jetzt mit den Proben zu „Hänsel und Gretel“ beginnen konnte, wurde er, wie der Kollege Kern eben schon beschrieben hat, in seinem Heimatland unter Hausarrest gestellt und hatte keine Möglichkeit mehr, seinen Projekten in der Welt nachzugehen.
Auch in anderen Ländern werden Künstler politisch verfolgt, wie der türkische Pianist Fazil Say oder der chinesische Kon zeptkünstler Ai Weiwei. Das bringt uns einmal mehr dazu, uns mit der Freiheit der Kunst zu beschäftigen, die in unserem Grundgesetz fest verankert ist. Ganz ausdrücklich ist die Kunstfreiheit in Artikel 5 festgelegt.
Uns, der CDU, war es wichtig, dies auch im baden-württem bergischen Koalitionsvertrag noch einmal ausdrücklich zu be tonen. Da heißt es:
In der globalen Welt müssen wir uns aber auch damit ausein andersetzen, dass es Versuche von außen gibt, bei uns hier im Land unsere Kunstfreiheit anzugreifen.
Ein Beispiel dafür gab es in Konstanz im Jahr 2014. Da soll te „Das Märchen vom letzten Gedanken“ uraufgeführt wer den. Es thematisierte den türkischen Völkermord an den Ar meniern. Der türkische Generalkonsul in Karlsruhe wandte
sich damals gegen diese Theateraufführung und forderte, dass zumindest ein Brief verlesen wurde, um diesen Völkermord abzustreiten.
Solch einen Angriff auf die Kunstfreiheit, meine Damen und Herren, können wir nicht tolerieren. Ich bin sehr dankbar, dass damals der Kollege Lasotta – als Einziger hier in diesem Haus – dieses Thema aufgegriffen hat und zumindest einen parla mentarischen Antrag dazu gestellt hat.
Ich gebe gern zu: Auch wir sind nicht davor gefeit, Kunst zu instrumentalisieren – das müssen wir uns wirklich immer wie der bewusst machen –: als Standortfaktor, als Wirtschaftsfak tor, als sinnstiftend für den Zusammenhalt der Gesellschaft, für die Sozialarbeit, für die Jugendarbeit und – seien wir ehr lich – für die kulturelle Bildung und für die interkulturelle Ar beit.
Aber, meine Damen und Herren – das ist meine ganz persön liche Überzeugung –, wir dürfen Kunst nicht überfrachten. Ein Kunstwerk muss nicht nützlich sein. Ein Kunstwerk muss nicht gefallen. Umgekehrt gilt aber auch: Ein Kunstwerk darf auch einfach nur gefallen, es muss keinem Zweck dienen –
ganz nach dem Motto von Goethe in „Torquato Tasso“; Goe the lässt seinen Torquato Tasso sagen: „Erlaubt ist, was ge fällt.“ Das gilt immer noch. Ein Kunstwerk darf um seiner selbst willen da sein. Es darf rein ästhetisch und sinnlich wir ken. Das gehört meinem Verständnis nach auch zur künstle rischen Freiheit, meine Damen und Herren.
Uns Politikern – das müssen wir uns hier immer wieder klar machen – steht es nicht zu, Kunst zu bewerten oder gar Geld entsprechend unserem Geschmack oder unseren politischen Anforderungen zu gewähren oder zu verwehren. Wir haben einfach nur die Aufgabe, die Rahmenbedingungen so zu ge stalten, dass sich Künstlerinnen und Künstler frei entfalten können. Wir sollten dafür sorgen, dass möglichst viele Men schen – und zwar überall im Land, flächendeckend – die Mög lichkeit haben, kulturelle Angebote wahrzunehmen, wenn sie das möchten.
Für die CDU darf ich also ganz deutlich sagen: Wir verteidi gen die Freiheit der Kunst, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil unsere Verfassung, wie eben schon angesprochen wurde, auf den Trümmern einer Diktatur aufgebaut wurde.
Unsere Geschichte – deswegen haben wir ja heute auch des 9. Novembers 1938 gedacht – kennt Bücherverbrennungen und den Stempel der sogenannten entarteten Kunst. Sie holt uns immer wieder ein und zwingt uns zur Erinnerung.
Denken Sie z. B. daran, dass derzeit in Bonn und in Bern pa rallel zwei Ausstellungen unter dem Titel „Bestandsaufnah me Gurlitt. Der NS-Kunstraub und die Folgen“ gezeigt wer
den. Sie zeigen beschlagnahmte Kunstwerke aus der Zeit des Nationalsozialismus, die der Kunsthändler Hildebrand Gur litt im Auftrag der Nazis verwerten sollte. Die Sammlung wur de überraschend 2012 in München bei seinem Sohn entdeckt. Einmal mehr zeigt sich: Wir können uns unserem fatalen Er be nicht entziehen.
Daher fühlen wir uns auch berufen, Künstlerinnen und Künst ler in anderen Ländern dabei zu unterstützen, wenn sie für die Menschenrechte und die Kunstfreiheit kämpfen.
Für die CDU-Fraktion möchte ich daher ganz ausdrücklich al len Beteiligten an den Staatstheatern Stuttgart dafür danken, dass sie diese Inszenierung möglich gemacht haben, dass sie solch ein starkes Zeichen gesetzt haben, dass sie all diese Mü hen, die damit verbunden waren, dieses Provisorium zur Auf führung zu bringen, auf sich genommen haben. Sie haben da mit für uns alle die Solidarität mit Kirill Serebrennikov zum Ausdruck gebracht. Dafür ganz herzlichen Dank.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Zitat des Literatur nobelpreisträgers Heinrich Böll anführen, Heinrich Böll, der am 21. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, der sich schon in den Fünfzigerjahren gerade für russische Schriftsteller ein gesetzt hat – Alexander Solschenizyn, Lew Kopelew hat er nach deren Ausreisen 1974, 1980 bei sich zu Hause als Gäs te aufgenommen –, Heinrich Böll, der Mitglied in keiner Par tei war und der deswegen auch von keiner Partei vereinnahmt werden darf.
Sein Sohn sagt heute über ihn, er war in erster Linie Autor, Künstler und Literat, und er wünscht sich, dass in Zukunft sein literarisches Werk stärker gewürdigt wird und nicht immer nur sein politisches Engagement im Vordergrund steht.
Deswegen bewahren wir also die Freiheit der Kunst, die wir uns nach 1945 hier in Baden-Württemberg und in Deutsch land erworben haben. Helfen wir russischen und anderen Künstlerinnen und Künstlern, die Freiheit in ihren eigenen Ländern zu gewinnen. Denn das sind wir unserer eigenen Ge schichte schuldig.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Kollegen Abgeordnete! „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“ – schön gefunden, wahr und schön. Aber was hat das mit dem Fall Serebrennikov zu tun? Richtig ist: Wer unter Hausarrest sitzt, kann keine Opern inszenieren.