Protokoll der Sitzung vom 27.11.2007

Zweitens, zur Frage des Referendums. Ich komme noch einmal auf Frankreich und die Niederlande zurück. Da unterscheiden wir uns, Herr Kollege Bocklet, aus historischen Gründen – darauf komme ich gleich noch zu sprechen –, aber auch aus den erwähnten aktuellen Gründen. Mehrfach habe ich an dieser und an anderer Stelle immer wieder gesagt: Europa erscheint nach wie vor als eine Art Kopfprojekt für ökonomische, politische Eliten. Wenn es diesen Status nicht überwindet, kann das auf Dauer nichts werden, ob mit oder ohne Verfassungsvertrag, in Lissabon oder wo auch immer. Wir müssen es schaffen, in einem intensiven, volksnahen – das meine ich nicht ironisch und schon gar nicht überheblich – Dialog die Ziele und die Wünsche, die wir mit Europa verbinden, mit dem breiten Publikum diskutieren. Wäre das ausreichend während des Prozesses von 2003 bis 2005 geschehen – davon bin ich felsenfest überzeugt –, wäre das Referendum in Frankreich und Holland anders ausgegangen. Alles, was ich darüber gelesen habe, deutet darauf hin: Die Eliten und das Volk haben einander nicht verstanden. Man konnte sich nicht verstehen, weil die einen so geredet und die anderen anders verstanden haben. Daraus sollten wir für die Zukunft lernen. Allein aus diesem Grunde treten wir dem Gedanken des Referendums nicht näher. Um die staatspolitischen Feinheiten, die der Kollege Bocklet hier vorgetragen hat und denen ich gar nicht folgen kann – ich bin kein Jurist –, geht es hier gar nicht.

Wir haben aber noch einen weiteren Grund. Wir sind bayerische Sozialdemokraten. Sie haben soeben gesagt, es gebe kein plebiszitäres Element in der Bundesverfassung; das wissen wir wohl. Aber wenn es einen historischen und einen geografischen Ort für plebiszitäre Elemente in deutschen Verfassungen gibt, dann ist es die Bayerische Verfassung. Wir bayerische Sozialdemokraten sind sozusagen Kinder bzw. Enkel des Vaters dieser Verfassung, nämlich von Wilhelm Hoegner. Deshalb muss man uns zugestehen, dass wir jeden, der irgendwo den Gedanken an plebiszitäre Elemente auf die Bundesebene heben will, als unseren Verbündeten betrachten. Deshalb werden wir diesem Antrag zustimmen.

Herr Kollege, würden Sie bitte am Mikrofon bleiben? – Herr Kollege Dr. Runge möchte eine Zwischenintervention machen.

41 Sekunden? – Es geht schon. Herr Runge!

Herr Kollege Hoderlein, ursprünglich hatte ich vor, eine Zwischenfrage zu stellen. Aber nachdem ich nicht drangekommen bin, mache ich jetzt eine Kurzintervention. – Herr Kollege, konzedieren Sie mir und uns, dass der vorliegende Antrag weit vor dem Gipfel von Lissabon gestellt worden ist?

Zum Zweiten: Konzedieren Sie, dass wir unsere Monita zum Vertragswerk auch an dieser Stelle seit vielen Jahren vortragen?

Konzedieren Sie mir – das betrifft den Inhalt –, dass Demokratiedefizite in Europa nicht nur durch die Tatsache geheilt werden können, dass der Katalog des Mitentscheidungsverfahrens gegenüber Nizza stark erweitert worden ist?

Drittens. Konzedieren Sie, dass die fehlende Kompetenzabgrenzung Europa, der europäischen Integration und auch uns noch ganz große Schwierigkeiten bereiten kann?

Wenn Sie darauf eingehen möchten, Herr Kollege?

Ja, gerne. Ich konzediere Ihnen im Grunde genommen alle vier Aussagen. Es waren übrigens vier, nicht drei Aussagen. Das ändert aber an den Voten letztlich nichts. Sie waren früh dran mit Ihrem Antrag, Sie haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass Sie eine andere Position haben als Fischer; das habe ich auch dargelegt und ich habe Sie darauf auch immer angesprochen, aber nicht belehrt, wie das andere tun. In der Frage der Übertragung liest man mal den Artikel und kommt zu dem einen Ergebnis, dann liest man einen anderen. Im Zweifel würde ich sagen: Wenn es nicht eindeutig ist, ob Grundgesetzmaterie übertragen wird, ist es für mich erst recht ein Grund zu sagen: Im Zweifel muss ich den obersten Souverän, sprich: das deutsche Volk, fragen. Formal gesehen ist das völlig unwichtig; aber politisch materiell ist es von erheblicher Bedeutung.

Dann, nur dann, wenn ich das mache, sind wir als Politiker gezwungen, dann ist das ganze System gezwungen, die Strategie einer Kommunikation mit der Bevölkerung über die Medien aufzubauen. Dann und nur dann haben wir überhaupt die Chance, den 90 %, die nach den mir zugänglichen Informationen überhaupt keine Ahnung davon haben, worüber wir hier reden, wenn sie gefragt würden, etwas zu vermitteln. – Ich rede nicht vom schönen und großen Europa. Sobald man aber in die materielle Substanz geht, sind 90 % blank. Diese Menschen sind also denjenigen ausgeliefert, die sie und ihre Emotionen steuern.

Vor diesem Hintergrund sage ich: Wenn auch nur im Ansatz die Vermutung besteht, dass hier grundgesetzliche Materie übertragen wird, wäre die formale Notwendigkeit gegeben, den Souverän zu befragen. Allein vor diesem Hintergrund sind wir gut beraten, zu sagen: Wir müssen alles tun, um dieses Plebiszit herbeizuführen, auch wenn es nach heutiger Sicht, das weiß ich wohl, sehr unwahrscheinlich ist, dass es tatsächlich kommt.

(Reinhold Bocklet (CSU): Warum wart ihr dann im Bundestag dagegen, als die FDP den Antrag gestellt hat?)

An dem Beispiel wird deutlich, dass es auch mal Bewegung in der Politik gibt. Die GRÜNEN haben gegen ihren Außenminister gestimmt. In der Frage der plebiszitären Elemente – ich sage es noch mal – erlaubt sich die baye

rische SPD aus historischen und aus Vernunftgründen eine andere Position einzunehmen als die Bundes-SPD. Punkt, aus. Das habe ich als Landesvorsitzender seinerzeit gesagt. Damit habe ich mir wenige Freunde gemacht. Ich hoffe sehr, dass andere in der bayerischen SPD diese Tradition beibehalten; denn es ist eine derjenigen Traditionen, auf die wir wirklich stolz sein können. Ich glaube, dass sie sich eines Tages, obwohl sie alt ist, gerade im Zusammenhang mit europäischer Materie als protagonistische Idee erweisen wird.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön, Herr Kollege Hoderlein. Jetzt noch für die Staatsregierung Herr Staatsminister Söder.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der GRÜNEN ist ein bisschen so zu sehen, wie er in der heutigen Zeitabfolge beraten wird: Im Grunde genommen ist für eine sinnvolle Behandlung und Abstimmung die Zeit abgelaufen. Vielleicht gibt es ein Fleißbildchen dafür, dass man den Antrag rechtzeitig gestellt hat. Aber um etwas zu bewegen und substanziell zu verändern, ist es viel zu spät.

Wir haben hier einmal in einer Aktuellen Stunde lange und ausführlich über diese Fragen diskutiert. Wir waren eigentlich alle der Meinung, dass in der Gesamtabwägung trotz allem, was schwierig ist, wovon wir uns mehr gewünscht hätten und was wir kritisieren, zu dem Ergebnis kommen, dass wir ein positives Ja sagen. Darüber, Herr Runge, dass Sie heute hier nur das Negative herausstellen, würde sich Joschka Fischer wirklich ärgern. Das ist der GRÜNEN, ehrlich gesagt, nicht würdig.

Zum Zweiten. Wir haben jetzt wirklich zu arbeiten. Da würde ich Sie um Ihre Mitarbeit bitten. Wir haben einige Elemente eingeführt. Herr Bocklet und Frau Männle haben das in der Debatte schon erwähnt. Wir haben beispielsweise ein Frühwarnsystem eingeführt, die verstärkte Subsidiarität, die Klagerechte im Ausschuss der Regionen. Lassen Sie uns daran arbeiten, diese Rechte wahrzunehmen. Wir sollten aber nicht daran arbeiten, zu überlegen, was bei welcher Ausschusssitzung in der Vergangenheit wer hätte vielleicht machen können, sondern es steht eine Fülle von Themen an, bei denen gemeinsames Handeln notwendig ist: die Bodenschutzrichtlinie, die Situation im Binnenmarkt, die Weinmarktverordnung. Es gibt eine Fülle von Themen, an denen wir alle Interesse haben. Es wäre richtiger und besser, sich darüber Gedanken zu machen, wie wir an einer konkreten Stelle Punkte machen, als darüber zu reden, wer wann wo welchen Antrag gestellt hat. Ich finde, das ist der falsche Weg.

Drittens, zur Volksabstimmung. Wir haben Jahre gebraucht, um Europa wieder handlungsfähig zu machen. Nach den Referenden von Frankreich und der Niederlande war Europa de facto nicht mehr handlungsfähig. Wir Deutschen hatten elementares Interesse daran,

neben dem Demokratiedefizit auch die Tatsache zu bearbeiten, dass unsere Interessen als Volk, gewichtet nach der Bevölkerungszahl, eingebracht werden können. Es war ein unendlicher Verhandlungsmarathon in Berlin. Unsere Kanzlerin hat es in diesem Fall zusammen mit dem Außenminister geschafft, eine Lösung zu erreichen, die sich jetzt hoffentlich in einer Unterschrift in Lissabon manifestiert.

Man weiß, dass die Ratifizierungen schon einmal gescheitert sind. Die europäischen Staatschefs haben begriffen – beispielsweise England, beispielsweise Frankreich –, dass die Einführung eines erneuten plebiszitären Elements genau zum Gegenteil führen könnte.

Genau so könnte es wieder ausgehen, weil dann nationale Abstimmungen wieder eine Rolle spielen. Der Trend in Europa geht eindeutig dahin, dass wir diesen Vertrag wollen, und zwar ohne Volksabstimmung. Jeder, der jetzt sagt, wir wollen eine Volksabstimmung machen – wenn der dann auch noch weiß, dass die Deutschen nach dem Grundgesetz gar keine Möglichkeit haben, eine Volksabstimmung durchzuführen –, der nimmt in Kauf, dass nicht nur das Verfahren lange dauert, sondern dass der Vertrag möglicherweise nicht zustande kommt. Ich finde, das ist eine europafeindliche Haltung, und diesen Vorwurf müssen Sie sich auch gefallen lassen, Herr Dr. Runge.

Ein Letztes: Ich bin gespannt, ob Sie auch bereit sind, über eine Volksabstimmung zu reden, wenn es um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geht. Wären Sie bereit, eine Volksabstimmung bei der Beitrittsfrage zu akzeptieren? Wir glauben, dass der Vertrag viele Chancen bietet, die man aktiv angehen muss. Das sage ich aus tiefer Überzeugung.

Manchmal habe ich den Eindruck – eine neue Erfahrung im Amt –, wir glauben, dass wir mit Debatten, wie wir sie beispielsweise gerade hier führen, in Brüssel tatsächlich etwas ändern könnten. Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, diese Debatten sind zur Meinungsbildung sehr wichtig. Am Ende aber muss man doch wissen, Europa hat sich weiterentwickelt. Der amerikanische Präsident mag in der Außenpolitik mehr Rechte haben, doch die Kommission hat in vielen Detailfragen mehr Durchgriffsmöglichkeit – manchmal muss man sagen: leider – als der amerikanische Präsident. Für uns heißt das aber Folgendes: Wenn wir etwas bewegen, etwas ändern wollen, dann müssen wir uns positiv einstellen und nicht immer hinterher nachtarocken und ängstlich und kleinkariert reden. Wir, vonseiten der Staatsregierung, sagen deshalb ein klares „Ja“ zum Staatsvertrag und ein klares „Nein“ zu den Anträgen der GRÜNEN.

(Beifall bei der CSU)

Herr Staatsminister, ich bitte um Ihre Geduld und darf Sie noch einmal an das Rednerpult bitten.

Herr Kollege Dr. Runge, bitte.

Leider lassen die zwei Minuten nicht mehr als zwei oder drei Anmerkungen zu.

(Manfred Ach (CSU): Das genügt!)

Wir meinen, das Thema ist es wert, länger zu debattieren. Das Thema ist es wert, unserem neuen Europaminister inhaltlich auf die Sprünge zu helfen.

Herr Kollege, im Ältestenrat wurden fünf Minuten pro Fraktion vereinbart.

Danke, Frau Präsidentin.

Wir haben von allen Fraktionen immer gehört, es ist nicht alles gut. Wir haben sogar von allen Fraktionen gehört, der Vertrag enthält einiges Schlimme. Ich erinnere beispielsweise, Herr Bocklet, an einen Artikel von Ihnen in der „Bayerischen Staatszeitung“, in dem Sie den Zwang und den Drang zur weiteren Zentralisierung gegeißelt haben. Sie haben dargelegt, das Vertragswerk gehört geändert. Das hören wir schon seit Jahren. Gleichzeitig hören wir seit Jahren, um etwas zu ver- ändern, ist es zu spät. Das hören wir leider von Ihnen, und das haben wir auch von der rot-grünen Bundes- regierung gehört. Komischerweise war es aber so, dass die anderen Länder es immer geschafft haben, etwas zu verändern. Selbst zuletzt, beim Gipfel in Lissabon, wurde noch etwas verändert. Diese Einstellung ist deshalb schon etwas ulkig.

Wir fragen deshalb schon: Wo war denn der Einsatz der Bayerischen Staatsregierung, um den damaligen Artikel III/C bzw. III/122 zu verändern? – Da ist nur Fehlanzeige. Ich sage es noch einmal: Hier sagen Sie „Hü“ und dort sagen Sie „Hott“, und dann passiert nichts.

Zur Volksabstimmung: Ich hoffe, Ihnen ist Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes bewusst, dort steht: Das deutsche Volk entscheidet in Wahlen und Abstimmungen. Das heißt, man könnte, relativ unaufwändig, die für eine Volksabstimmung notwendigen Voraussetzungen herstellen.

Der letzte Punkt. Sie haben die Türkei angesprochen, Herr Dr. Söder. Wir könnten uns selbstverständlich eine Volksabstimmung vorstellen, aber nicht nach der Zusage, sondern die Volksabstimmung muss vor der Zusage stattfinden. Jetzt ist es ganz klar: „Pacta sunt servanda“. Ich erinnere an diejenige Gruppierung, die das am meisten gefordert hat. Das waren doch Sie, die CDU/CSU. Ich erinnere an eine Pressemitteilung von Herrn Michael Glos. Im letzten Jahr der CDU/CSU/FDP-Bundesregierung hat er einen Artikel mit der Überschrift „Die Türkei gehört nach Europa“ geschrieben. Der letzte Satz darin war: „Eines ist klar: Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen.“ – Das war Ihr Michael Glos und niemand anderes.

Herr Kollege, ich darf Sie daran erinnern, Ihre Redezeit einzuhalten.

(Beifall eines Abgeordneten der CSU)

Wissen Sie, Frau Präsidentin, bei mir loben Sie sich, dass Sie eine Minute überziehen, bei Herrn Kollegen Bocklet machen Sie das schon wieder nicht. Seien Sie doch bitte nicht so parteiisch.

Herr Kollege, unterlassen Sie das!

(Manfred Ach (CSU): Sie Lümmel! – Engelbert Kupka (CSU): Anmaßend! Schämen Sie sich! – Weitere Zurufe von Abgeordneten der CSU)

– Nein, seien Sie doch bitte nicht so parteiisch.

(Anhaltende Unruhe bei der CSU)

Ich beende aber meinen Redebeitrag.

Herr Staatsminister, wenn Sie darauf noch eingehen wollen, bitte schön.

Ehrlich gesagt, aus Respekt vor der Zeit und vor den Kollegen, und weil mir ehrlich gesagt auch nicht mehr viel dazu einfällt, verzichte ich darauf. Sie sollten sich einmal überlegen, ob Sie sich in der Art, wie Sie sich hier benehmen, nicht sehr allein fühlen.

(Beifall bei der CSU)

Vielen Dank, Herr Staatsminister Dr. Söder.

Es wird heute über diesen Antrag nicht mehr abgestimmt. Die Abstimmung erfolgt in der nächsten Sitzung, und zwar, wohlgemerkt, ohne Aussprache. Wir haben die Aussprache zu diesem Antrag durchgeführt.