Wir müssten dann in jedem Einzelfall diese Fragen lösen. Wenn wir das nicht über den Einzelfall regeln würden, müssten wir – auch das steht in Ihrem Antrag – sektoral alle Bereiche der Dienstleistungen regeln. Das heißt, dass wir vielleicht 60 neue Richtlinien oder Verordnungen auf europäischer Ebene bräuchten. Wollen wir das? Wollen wir neue Bürokratie aufbauen, oder wollen wir Bürokratie abbauen? – Der horizontale Ansatz der Dienstleistungsrichtlinie spart Bürokratie und dient dem Standort Deutschland und Bayern.
Sie sprechen die Euro- und Europamüdigkeit an. Worüber regen sich denn die Menschen im Land auf? – Sie regen sich auf, weil die Regelungswut in Europa so groß ist, weil sogar Traktorsitze europaweit geregelt sind.
Genau das wäre die Konsequenz, wenn man von diesem horizontalen Ansatz abginge. Die Staatsregierung ist deshalb der Meinung, dass das, was der Binnenmarktausschuss beschlossen hat, eine gute Grundlage ist und das wesentlich verbessert, was Bolkestein einmal vorgelegt hat. Herr Kollege Förster, Sie befi nden sich nicht auf der Höhe der Diskussion. Wir hoffen, dass wir auch im Koalitionsausschuss eine Meinungsbildung dahin gehend bekommen, dass Arbeitsplätze im Dienstleistungsgewerbe hier in Bayern und im Export eine Chance haben.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit ist die Aussprache geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Dazu werden die Anträge wieder getrennt.
Wer dem Dringlichkeitsantrag auf Drucksache 15/4652 – das ist der Antrag der SPD-Fraktion – seine Zustimmung geben will, den bitte ich um ein Handzeichen. – Das sind die Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN. Gegenstimmen? – Das ist die Fraktion der CSU. Das ist die Mehrheit. Stimmenthaltungen? – Keine. Damit ist der Antrag abgelehnt.
Wer dem Dringlichkeitsantrag auf Drucksache 15/4666 – das ist der Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. – Das sind die Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN. Gegenstimmen? – Das ist die CSU-Fraktion. Stimmenthaltungen? – Keine. Damit ist der Antrag mit der Mehrheit der CSU-Fraktion abgelehnt.
Dringlichkeitsantrag der Abg. Margarete Bause, Dr. Sepp Dürr, Ulrike Gote u. a. u. Frakt. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bericht zu Todesfällen durch Fixierung (Drs. 15/4653)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Seit März letzten Jahres starben allein in München sechs alte Menschen an den Folgen von Fixierungen. Erst vor wenigen Tagen starb eine neunzigjährige Frau, angegurtet auf ihrem Stuhl. Die genaue Todesursache wird noch untersucht. Das sind nur die Zahlen von München. Es ist zu befürchten, dass es in Bayern noch wesentlich mehr derartige Fälle gibt.
Wie kommt es zu diesen Todesfällen? – Die Zustände in vielen Altenheimen lassen nichts anderes zu, als alte Menschen zu fi xieren. Fixieren ist zwar in Einzelfällen notwendig – das will ich gar nicht bestreiten –, aber es ist nicht nötig, alte Menschen so häufi g zu fi xieren, wie es geschieht.
Eine Münchner Studie sagt, dass jeder zweite der 6000 Altenheimbewohner in München fi xiert wird. – Jeder zweite von 6000! In den Altenheimen gibt es zu wenig Personal. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind unglaublich belastet, müssen teilweise von Patient zu Patient eilen und haben keine Zeit, sich wirklich um die einzelnen Bewohner zu kümmern. In vielen Heimen wird auch die Fachkraftquote unterschritten. Es gibt keine Konzepte für eine sinnvolle Beschäftigung mit diesen Menschen. Es wird viel zu wenig Wert auf Prophylaxe gelegt. Deshalb kommen immer wieder solche bedauerlichen Todesfälle vor.
Frau Prof. Berzlanovich vom Gerichtsmedizinischen Institut in Wien, die jetzt an der Universität München arbeitet, untersucht diese Todesfälle. Das Fazit der Forscherin aus ihren Untersuchungen zu Fixierungen fällt erschreckend aus. Sie sagt: Es gebe hervorragende Empfehlungen der Stadt München zum Umgang mit Fixierungen und auch ein gutes Fixierungssystem. Wenn dieses angewandt würde und die Empfehlungen eingehalten würden, sollte nichts passieren. Verletzungen oder gar der Tod seien die Folge, wenn der Bauchgurt falsch angelegt werde oder etwas zu groß sei. Dann könne es vorkommen, dass der Betroffene ein Stück herausrutsche, der Oberkörper über die Bettkante gerate und der alte Mensch – mit dem Kopf in tödlicher Schiefl age – hängen bleibe. Manchmal werde kein Gurt, sondern nur ein Bettgitter verwendet. Der Patient könne ins Bettgitter rutschen und sich strangulieren. Durch genaue Fallrekonstruktionen will die Expertin dazu beitragen, künftig tödliche Fehler zu vermeiden. In Wien sei ihr in 16 Jahren nur ein einziger derartiger Fall untergekommen.
Es geht also nicht nur darum, die Fixierungen zu reduzieren, sondern auch darum, notwendige Fixierungen
fachgerecht anzulegen. Um alte Menschen, die fi xiert sind, muss man sich kümmern; man kann sie nicht stundenlang in ihrem Zimmer alleine lassen.
Das wiederum geschieht natürlich aufgrund des eklatanten Personalmangels, der in Altenheimen immer wieder herrscht.
Zu befürchten ist, dass die Dunkelziffer derartiger Todesfälle noch viel höher ist. In Bayern werden nur rund 8 % aller Leichen gerichtsmedizinisch untersucht, und damit steht der Freistaat Bayern im Vergleich mit anderen Bundesländern sogar noch gut da.
Ganz anders in Berzlanovichs Heimatstadt Wien, in der sie bisher gearbeitet hat. Dort liegt die Quote bei rund 40 %. Den Menschen, die daran gestorben sind, hätte eine Obduktion natürlich nichts mehr geholfen. Trotzdem ist es aber wichtig festzustellen, dass es offensichtlich sehr viele Fälle gibt, auch Fälle, in denen im Nachhinein von einem natürlichen Tod gesprochen wird, obwohl es gar keiner war.
Was sagt uns das? – Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass die Menschen in den Altenheimen menschenwürdiger behandelt werden können. Wir müssen dafür sorgen, dass sie Bewegungsfreiheit haben, soweit dies irgendwie möglich ist. Wir müssen dafür sorgen, dass Konzepte eingeführt werden, die Therapien und Beschäftigungsformen beinhalten, in denen die alten Menschen wirklich als Menschen behandelt und nicht nur als Teil einer Einrichtung betrachtet werden, den man festbindet, damit nichts Schlimmeres passiert.
Das alles muss sich in unseren Altenheimen ändern. Damit noch nicht genug. Es gibt noch andere Missstände, wie zum Beispiel, dass Menschen stundenlang auf dem Nachtstuhl sitzen müssen und teilweise dabei sogar essen müssen. Es gibt Windeln, die mittlerweile vier Liter Flüssigkeit aufnehmen, was zur Folge hat, dass die Menschen nicht so oft gewickelt werden müssen. Es werden auch Menschen gewickelt, die eigentlich gern zur Toilette gehen würden; sie werden daran aber gehindert, weil dies eine unzumutbare Mehrbelastung für das Pfl egepersonal bedeuten würde. Das sind untragbare Zustände,
die teilweise sogar die Vorschriften des Tierschutzes – entschuldigen Sie diesen Vergleich – unterschreiten. So können wir mit den alten Menschen in unseren Heimen nicht umgehen. Es wird höchste Zeit, dass wir das in der Politik so ernst nehmen, wie es tatsächlich ist. Wir werden in Zukunft immer mehr alte Menschen bekommen, und wir sind es ihnen schuldig, uns um sie zu kümmern und sie menschenwürdig zu behandeln. Das Alter soll dafür da sein, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten noch wohl zu fühlen. Ein würdevolles Leben soll ermöglicht werden, statt es zu gefährden.
Weil wir einen Beitrag dazu leisten wollen, dass sich die Zustände ändern, aber auch, dass die bereits geschehenen Todesfälle aufgeklärt und daraus Konsequenzen gezogen werden, haben wir einen Berichtsantrag vorgelegt. Aus der Beantwortung der detaillierten Fragen erwächst möglicherweise die Erkenntnis, dass wir noch sehr viel ändern müssen.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat ist es nicht hinnehmbar, wie die von Kollegin Ackermann zitierte Frau Professor Berzlanovich festgestellt hat, dass allein in München bzw. im weiteren Sinne im Freistaat Bayern 30 bis 50 Todesfälle durch Fixierungen in der Pfl ege aufgetreten sind. Dies an sich ist ein Skandal, ein gesellschafts- und sozialpolitischer Skandal, der nicht hingenommen werden kann.
Die Verbesserung der Pfl egebedingungen ist in der Tat der entscheidende Punkt. Damit kann eine Verbesserung der Situation herbeigeführt werden. Im Freistaat Bayern muss die Pfl egepolitik in der Sozialpolitik auch weiterhin Priorität haben. Sie wissen sehr genau – da spreche ich Sie, Herr Kollege Dürr, aufgrund Ihrer Bemerkung nochmals an –, dass Frau Staats ministerin Christa Stewens die Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Pfl ege, gerade in der stationären Pfl ege, aber insbesondere auch die Beseitigung von Missständen im Einzelfall in Heimen zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben gemacht hat. Dafür danken wir ihr ausdrücklich. Sie hat auch die volle Unterstützung und Solidarität der Pfl egekritiker. Es ist notwendig, dass sich niemand, auch nicht die Träger der Einrichtungen, in irgendeiner Art und Weise ausgebootet vorkommt. Hier müssen alle an einem Strang ziehen.
Im Einzelfall – Frau Kollegin Ackermann, Sie haben das angesprochen – kann eine medizinisch indizierte Fixierung notwendig sein, nicht aber in der immer wieder auftretenden Häufi gkeit, die vom MDK – dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung – und von der Heimaufsicht zu Recht thematisiert wird. Deshalb ist es in der Tat notwendig, sich die Rahmenbedingungen in der Pfl ege genau anzusehen. Neben der Notwendigkeit der Verbesserung in der Personalausstattung müssen wir aber auch sehen, dass es manchmal zu wenig Akzeptanz bei den Angehörigen gibt, manchmal auch zu wenig die Möglichkeiten in Anspruch genommen werden, die die Sozialhilfeträger oder die Pfl egekassen bieten. Das haben wir immer wieder erlebt. Der verbesserte Pfl egeschlüssel wird da nur zu 50 % bis 60 % in Anspruch genommen. Das ist eine Situation, die etwas mit Akzeptanz zu tun hat.
In der Tat ist es notwendig, mit einer Weiterentwicklung der Pfl egeversicherung auch die Prophylaxe zu stärken, die Prophylaxe, die auch verhindern hilft, dass es in der Pfl ege zu solchen Entwicklungen wie den beschriebenen kommt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, eigentlich ist es ein absoluter Systemfehler, dass die Erstattungen umso höher sind, je pfl egeintensiver die Leistungen sind, dass aber im Umkehrschluss Maßnahmen, die zu einer Verbesserung in der Pfl ege führen, schlechter dotiert werden. Dieses System muss korrigiert werden. Notwendig ist, Anreize zu schaffen.
Die Fixierung ist aus meiner Sicht aber nicht nur eine Frage der Pfl egefachlichkeit, sondern auch der Strafverfolgung. Man muss das sehr differenziert betrachten. Ich meine aber trotzdem, dass diesbezüglich bei der Abfrage dieses Berichtes ein ergänzender Schwerpunkt gesetzt werden sollte. Frau Kollegin Ackermann – ich habe Sie vorhin schon einmal kurz angesprochen –, ich darf bitten, in den Bericht noch zwei Punkte im Sinne der von mir vorhin thematisierten Bereiche aufzunehmen, nämlich erstens die Frage, welche Möglichkeiten zur Fortbildung in der Rechtspfl ege, insbesondere bei Staatsanwälten, bestehen und umgesetzt werden können, damit auch hier eine höhere Sensibilität vorhanden ist, und zweitens, dass in diesem Zusammenhang Erkrankungen durch Dekubitus genau geprüft werden und untersucht wird, welche prophylaktischen Maßnahmen zur Abhilfe bestehen. Auch hier ist nämlich ein Zusammenhang mit der Frage zu sehen, welche Auswirkungen Fixierungen haben. Man kann nämlich schon im Vorfeld viel verhindern.
In diesem Sinne bitte ich Sie, diese Ergänzungen noch aufzunehmen. Wir werden dem Antrag mit diesen Maßgaben zustimmen.
Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in der Bewertung einig, dass es sich hier um Skandale handelt, die eigentlich nicht vorkommen dürften. Ich meine, dass dieses Thema parteipolitischen Hickhack, gleich welcher Art, nicht hergibt. Einig sind wir uns darüber, dass Aufklärung in den schon geschehenen Fällen notwendig ist. Deswegen werden wir ebenso wie die Kollegen von der Mehrheitsfraktion diesen Antrag unterstützen. Allerdings ist es mit Aufklärung alleine nicht getan. Ein ganz wesentlicher Teil dieses Antrages ist für mich der drittletzte Spiegelstrich, der sich mit den daraus nötigen Konsequenzen beschäftigt.
Einig sind wir uns auch darüber, dass Fixierung immer nur die Ultima Ratio in den Pfl egeheimen sein darf, die – das sage ich als jemand, der während des Studiums jahrelang gepfl egt hat – bei einigen Krankheitsbildern oder auch bei alten Menschen manchmal tatsächlich nicht vermieden werden kann. Fakt ist aber auch, dass in den Pfl egeheimen – dies ist wiederum durch eine unzureichende
personelle Ausstattung bedingt –, dieses so nicht praktiziert wird und auch nicht praktiziert werden kann.
Für mich gehört es zur Ehrlichkeit, dass wir dieses Thema ernsthaft angehen und nicht nur große Worte darüber verlieren, die unsere Betroffenheit ausdrücken. Wir wollen die nötigen Konsequenzen, zum Beispiel bei der Pfl egesatzKommission und bei der Reform der Pfl egeversicherung, die überfällig ist und in Berlin ansteht, wissen. Dabei muss uns klar sein, dass dies Geld kostet, und zwar eine Menge Geld. Hier steht und fällt alles mit der personellen Ausstattung in den Pfl egeheimen.
Wir sind bereit, dieses Geld an dieser Stelle zu investieren. Ich hoffe, Sie sind es auch. Wenn das so ist, würde es Sinn machen, dass wir uns im Ausschuss diesen Bericht geben lassen. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, was der Bayerische Landtag dazu beitragen kann, dass solche Fälle in München und im restlichen Bayern nicht mehr vorkommen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Für die Fraktion der GRÜNEN möchte ich erklären, dass wir den beiden Zusatzfragen, die Herr Unterländer von der CSU gerade angefügt hat, zustimmen, weil sie wesentlich sind. Ich möchte aber auch anmerken, dass es wichtig wäre, das Augenmerk bei der Verhinderung weiterer Fälle auch darauf zu legen, dass bei der Altenpfl egeausbildung momentan ein Missstand herrscht, der dringend behoben werden muss.