Protokoll der Sitzung vom 20.01.2016

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, DIE LINKE)

Schauen wir auch über den Tellerrand. Besonders hart sind die Stadtstaaten betroffen, deshalb gibt es nur einen Ausweg, und dieser muss über das Bundesparlament beschritten werden: Die Vermögenssteuer wieder einführen, die Erbschaften weitaus stärker besteuern als bisher, sowie das Ehegattensplitting abschmelzen zugunsten einer Grundsicherung für Kinder.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, DIE LINKE)

Da, Herr Röwekamp, ist auch Ihre Fraktion gefragt, im Armutsausschuss haben Sie sich ja schon als Heilsbringer der Armutsbekämpfung präsentieren wollen. Starten Sie endlich eine Bundesinitiative in Ihrer Partei in Berlin, und begründen Sie das mit der steigenden Armut, aber auch mit dem zunehmenden Reichtum, auch im Land Bremen, was in diesem Buch auch dokumentiert ist. Liebe CDU, starten Sie durch! Das Problembewusstsein für die Armut in Bremen haben Sie ja jetzt. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete Frau Grönert.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bei der Vorbereitung für diese Debatte beschlich mich das Gefühl, dass alles, was man hier heute so sagen kann, in den letzten Monaten eigentlich schon gesagt wurde, doch der Mensch lernt ja bekanntlich aus Wiederholungen. Ich glaube, davon haben wir in Bremen noch ein paar nötig.

Auch die Überschriften der letzten Monate in den Medien sprechen für sich: Armutsquote ist ein Skandal, ungleich verteilte Chancen, arme Schüler, arme Schulen, Kürzung in armen Quartieren, und: Bremen fällt am Arbeitsmarkt zurück. Angesichts solcher Überschriften versucht der Bremer Senat natürlich stets, sein Tun und Lassen zu rechtfertigen. Es gibt ja auch vielversprechende Ideen und Projekte, aber was in dem Armuts- und Reichtumsbericht wunderschön klingt, verändert noch lange nicht die Stadt. Viele Projekte sind nämlich örtlich sehr begrenzt, und von einem tollen Projekt „Huckepack“ in Osterholz-Tenever haben Kinder in Kattenturm nun einmal gar nichts.

Schade, dass Rot-Grün es im Oktober nicht für nötig hielt, den Ausschuss zur Bekämpfung und Prävention von Armut und sozialer Spaltung erneut einzusetzen. Dieser Ausschuss hätte nicht nur das Thema, sondern auch den Senat bewegen können, denn er hätte sich ganz bestimmt engagiert und aktiv dafür eingesetzt, möglichst viele von den parteiübergreifenden fast 100 Vorschlägen umzusetzen.

Die 400 Seiten des Zweiten Armuts- und Reichtumsberichts sind keine leichte Kost. Drei Punkte sind mir beim Durchsehen besonders aufgefallen.

Erstens, in Bremen passiert viel, doch das Hemd ist in jeder Hinsicht zu kurz. Die Bremer Ergebnisse sind in Vergleichen fast durchweg am unteren Ende.

Zweitens, nach jedem Abschnitt werden Planungen genannt, die ich allerdings eher Visionen nennen würde, denn es gibt zwar Ideen, aber keine Fahrpläne. Das Thema und Visionen sowie deren Erfolgsaussichten stehen uns ja auch morgen in der Debatte zum Integrationskonzept des Senats bevor.

Drittens, bei erfolgreichen Projekten wird in der Beschreibung gern darauf verzichtet, den örtlich sehr begrenzten Wirkungsradius oder die geringe Ausstattung und den dadurch auch nur sehr kleinen Erfolg für Bremen darzustellen. Immerhin, es gibt aber Erfolge.

Ich kann allerdings nicht verstehen, warum vielversprechende Ansätze in der Armutsbekämpfung nicht besser unterstützt werden. Dazu gehört zum Beispiel auch die Möglichkeit der Ausbildung in Teilzeit für Mütter ohne Beruf, dessen aktive Förderung sehenden Auges einfach ausbleibt. Es geht hier doch um

nachhaltige Investitionen in die Gesellschaft, aber in Bremen vertreten leider viele die Ansicht, dass man Armut nicht in Eigeninitiative hier abbauen, sondern nur mit kleinen Wohltaten ein wenig lindern könne. Schade!

Mehrfach wird im Bericht auch die gute Entwicklung in Tenever, besonders in den Schulen, thematisiert. Auch davon könnte man für die anderen Stadtteile lernen. Stattdessen müssen wir zusehen, wie behinderte Kinder wegen fehlender Assistenzkräfte in der Schule fernbleiben, oder wie in Flüchtlingsklassen wegen der Haushaltssperre wochenlang die nötigen Deutschlernhefte fehlen. So ist die sich weiter ausbreitende Armut nicht aufzuhalten, meine Damen und Herren.

(Beifall CDU)

Wie der Senat im Bericht mehrfach betont, gibt es weiterzuentwickelnde Maßnahmen wie das „Wohnen in Nachbarschaften“, die sogenannten WiN-Mittel. Man mag über den Einsatz von WiN-Mitteln denken wie man möchte. Ich verstehe trotzdem nicht, wie sich die Weiterentwicklung mit den ständig debattierten Kürzungen verträgt.

Vor einigen Wochen sorgte zusätzlich zum Armutsbericht der Schuldenatlas für Aufmerksamkeit, weil Bremen auch hier die rote Laterne trägt. Während die bundesweite Schuldnerquote bei 9,9 Prozent liegt, leben in Bremen ungefähr 14 Prozent Betroffene. Wichtig wäre es deshalb auch, die Schuldnerberatungen mehr zu bewerben oder systematisch mit anderen Unterstützungsangeboten zu vernetzen, um Menschen, die bereits tief in der Schuldenfalle stecken, wieder in ein selbstbestimmtes Leben zu begleiten.

Es gibt noch viele Arbeitsaufträge an den Bremer Senat. Nehmen wir zum Beispiel die Jugendberufsagentur. Sie schaffen mit ihr taktisch klug vor der letzten Bürgerschaftswahl eine Ausbildungsplatzgarantie für alle Jugendlichen unter 25 Jahren, versäumen es aber, für ausreichend Ausbildungsplätze zu sorgen. Da haben Sie den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht und stolpern nun gehörig über Ihre eigenen Füße. Zurzeit leben in Bremen circa 7 000 Jugendliche zwischen 18 und 24 Jahren, die keinen Berufsabschluss haben und an keinem Bildungsangebot teilnehmen. Das kann uns doch nicht in Ruhe lassen.

Ziemlich genau 33 Prozent aller Kinder in Bremen und über 40 Prozent aller Kinder in Bremerhaven leben am Rande oder inmitten von Armut. Sehr viele dieser Kinder wachsen von Anfang an mit der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit von Vater oder/und Mutter auf, die häufig auch mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen kämpfen. Ein Eintritt in eine Erwerbstätigkeit ist hier kurzfristig nicht mehr zu erwarten.

Zu oft, aber natürlich nicht immer, fehlt es diesen Kindern neben einem geregelten Tagesablauf auch an persönlicher Unterstützung. Zu oft fehlt ihnen deshalb später auch das eigene Erkennen von Zusammenhängen zwischen lernen, arbeiten und Geld verdienen. Dazu kommen natürlich noch andere Faktoren wie zum Beispiel fehlende Sprachkenntnisse. Kinder sind aber unser aller Zukunft. Diese Kinder und ihre Eltern dürfen wir nicht aufgeben und auch nicht allein lassen.

(Beifall CDU)

Frau Wendland hat eben auch gesagt, dass Armutskarrieren im Kindesalter starten. Wenn wir das wissen, müssen wir auch hier ansetzen. Um aber möglichst zu verhindern, dass Kinder die Schule ohne Schulabschluss und ohne Zukunftsperspektive verlassen, benötigen wir Präventionsketten von Geburt an, und zwar bedarfsdeckend in der ganzen Stadt. Allerspätestens ab dem Kindergarten müssen wir uns intensiv um die Kinder, aber auch um die Eltern kümmern. Kinder benötigen frühe Unterstützung. Sie lernen gute wie schlechte Sozialkompetenzen, Selbstbewusstsein und die Sprache in Begegnungen und beim Tun. Sie brauchen Bezugspersonen sowie Menschen, die Zeit für sie haben und an sie glauben, ihnen aber auch Grenzen setzen. Wir benötigen U3-Betreuungsplätze wenigstens für alle Kinder, für die Bedarf angemeldet wird. Für Kinder von Alleinerziehenden muss unabhängig von deren Beschäftigungssituation ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung sichergestellt werden. Wir brauchen neben gut ausgebildeten Erziehern und Erzieherinnen auch möglichst kleine Gruppen, in denen man sich um einzelne Kinder kümmern kann. Die Rückkehr zu Vorschulklassen vor der eigentlichen Einschulung würde vielen Kindern sicher erfolgreich den Rücken stärken. Das ist auch eine unserer Forderungen. Auch in den Schulen stehen die Lehrer und Lehrerinnen in der nächsten Zeit vor gewaltigen Herausforderungen. In möglichst kleinen Klassen könnte für eine gute Lernatmosphäre gesorgt werden. Stattdessen wird es zunehmend enger. Die Klassen werden immer voller. Zeit, um sich um die einzelnen Kinder aufmerksam zu kümmern, finden die meisten Lehrkräfte schon lange nicht mehr. Frau Wendland, das wird sich voraussichtlich noch zuspitzen, wie wir auch am Integrationskonzept sehen können, welches wir morgen diskutieren. Das ist der Fall, obwohl es einen Sozialindikator gibt. Dieser ist inzwischen aber schon längst mehr Schein als Sein. Wir haben auch zunehmend mehr Bedarf an Schulsozialarbeitern. Es muss mehr Ganztagsschulangebote geben, in denen Kinder die Möglichkeit bekommen, sportliche, musische und künstlerische Fähigkeiten auszuloten und auszubauen.

(Abg. Senkal [SPD]: Einfach einmal ein paar Haus- haltsanträge stellen!)

Eltern sollten spätestens durch den Kindergartenbesuch ihrer Kinder einen niedrigschwelligen Zugang zu erziehungsbegleitenden Angeboten bekommen. Das steht aber auch alles im Armuts- und Reichtumsbericht. Darin stehen diese Maßnahmen. Sonst muss ich es irgendwie kennzeichnen, dass ich es nicht umsetzen kann. Wir benötigen auch einen sozialen Arbeitsmarkt, um gerade den vielen langzeitarbeitslosen Eltern Unterstützung für einen sinnvollen Alltag zu geben. Außer einer vollmundigen Zusage im rot-grünen Koalitionsvertrag und eben von Herrn Möhle, sehen und hören wir davon nichts. So wird das aber nichts, meine Damen und Herren. Gute Erkenntnisse haben Sie viele, aber es passiert nichts.

(Beifall CDU)

Diese Erkenntnisse umzusetzen, ist aber doch nicht unmöglich. Wem hilft es, sie ständig aufzuschieben und alle Jahre nur wieder derlei schöne Visionen in solch einem Bericht zu beschreiben? Sie reparieren ständig nur an den Folgen herum. Jugendliche ohne Schulabschluss mit quasi vererbter Hartz-IV-Karriere kommen uns aber auf Dauer doch sehr viel teurer zu stehen. Es stimmt nach Auffassung der CDU-Fraktion auch nicht, dass wir in Bremen, wie vom Sozialressort immer wieder einmal behauptet, Armut ohnehin nur lindern, aber nicht verhindern können. Soziales allein kann das natürlich nicht, Herr Möhle. Ja, das stimmt. Der Bericht ist aber vom Senat und nicht nur vom Sozialressort. Dabei ist Linderung grundsätzlich auch nicht falsch. Ganz falsch wäre es allerdings, beim Lindern stehenzubleiben und den Menschen keine Auswege aus ihrer Situation zu eröffnen. Ein Beispiel für dieses Lindern in Bremen ist der vor ein paar Wochen an dieser Stelle erfolgte Beschluss, kostenlose Verhütungsmittel für alle Transferleistungsempfängerinnen zu gewähren. Dabei kann gerade der Ruf nach kostenlosen Verhütungsmitteln auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit sein und wie ein verzweifelter Versuch wirken, vererbte Armutskarrieren auf diesem Weg verhindern zu wollen.

(Zuruf SPD: Quatsch!)

Schade, dass Sie im Kampf gegen Armut in der letzten Zeit nicht viel mehr als diesen Beschluss auf den Weg gebracht haben. Gerade aber in der Arbeitsmarktpolitik und in der Quartiersarbeit, in der es bereits vielversprechende Ansätze gibt, im Wohnungsneubau und im Kinderbetreuungs- und Bildungsbereich haben wir doch viel eigenen Gestaltungsspielraum. Den sollten wir auch nutzen. „Mit einer Stimme gegen Armut“ war das Ziel des Armutsausschusses. Nicht alle Maßnahmen sind immer gleich mit hohen Kosten verbunden, das haben wir eben schon gehört. Viele Verbesserungen lassen sich auch durch Umstrukturierungen erreichen.

Meine Damen und Herren, wir haben in Bremen kein Erkenntnis-, sondern einfach nur ein Umsetzungsproblem. – Danke schön!

(Beifall CDU)

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich auf der Besuchertribüne ganz herzlich eine Gruppe der Logistikschule der Bundeswehr, Hörsaal 32, begrüßen. – Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Buhlert.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir sind nicht überrascht, dass Bremen im bundesweiten Vergleich schlecht dasteht, was die soziale Situation angeht. Wir wissen um die Situation unserer Stadt. Wir wissen um die Zahl der Arbeitslosen und um die Zahl der Erwerbstätigen. Wir müssen feststellen, dass Politik hier vieles, was sie gern anders hätte, nicht erreicht hat.

Es ist richtig, dass wir in der Sozialpolitik gern zur Prävention kommen und Resilienzen bei Menschen schaffen würden, bei Sozialräumen und dergleichen. Wie Herr Möhle es gesagt hat, haben wir aber in der Tat sehr viel Reparaturbetrieb durch Fehler, die diese Landesregierung über Jahrzehnte zu verantworten hat.

(Beifall FDP)

Das Hauptrisiko von Armut ist und bleibt Arbeitslosigkeit. Das stellt auch dieser Bericht wieder ganz klar dar. Das ist kein Wunder. Es ist uns allen bekannt. Dann muss die Hauptaufgabe aber sein, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

(Beifall FDP)

Wer Arbeitslosigkeit bekämpft, bekämpft Armut, bekämpft damit soziale Probleme und sorgt dafür, dass wir keinen Reparaturbetrieb machen. Das ist Prävention, und zwar nicht nur Prävention in der Sozialpolitik, sondern Prävention in der Politik überhaupt.

(Beifall FDP)

Es ist schon erschreckend, dass wir uns fast damit abfinden, dass über Jahre jedes dritte Kind in Bremen in Haushalten lebt, die Hartz IV beziehen. Wir haben diese Situation quasi kontinuierlich.

Deswegen ist es eben wichtig, dass dort das fehlende Haushaltseinkommen erarbeitet werden kann, und daher bin ich bei Frau Wendland, wenn sie sagt, wir

müssen uns darum kümmern, dass gerade Alleinerziehende die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen. Es darf nicht sein, dass ein Arbeitsplatz, eine Arbeitsaufnahme daran scheitern, dass es keine Kinderbetreuung gibt. Das heißt, wir müssen hier wirklich dafür sorgen, dass, wer arbeitet, auch einen Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung hat, und wir müssen dafür Sorge tragen, dass dort eben auch – wenn es denn keine Kita, keine U3-Gruppe sind – Personen für die Tagespflege entsprechend zur Verfügung stehen.

(Beifall FDP)

Es ist dann ebenfalls zu überlegen, was wir weiter tun können. Es geht darum zu schauen, dass das, was in den vergangenen Debatten immer wieder kritisiert wurde, eben nicht so schlecht ist, wie wir finden, nämlich dass es Menschen gibt, die sich selbst etwas verdienen und ergänzend Sozialhilfe beziehen. Als FDP sind wir allerdings dafür, dass hier die Möglichkeiten des Zuverdienstes weiter nach oben angepasst werden, damit das stärker motiviert, nicht so viel Geld angerechnet wird, die Menschen mehr von ihrem Verdienst selbst behalten können, damit dies wirklich von ihnen genutzt wird, und es ihnen den Einstieg in den Ausstieg aus den Sozialleistungen ermöglicht.

(Beifall FDP)

Über das Thema Steuererhöhungen wollte ich eigentlich nicht reden, weil es mir ja schon klar ist, dass alle dann wieder sagen, wir brauchen mehr Geld und so weiter. Wenn ich aber über Arbeitsplätze spreche, muss ich sagen, mir ist nicht bekannt, dass Steuererhöhungen dazu beitragen, Arbeitsplätze zu schaffen.

(Abg. Rupp [DIE LINKE]: Doch!)

Ganz im Gegenteil! Das Geld fehlt dann den Unternehmen, denjenigen, die Arbeitsplätze schaffen, für Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Es geht um Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt, Herr Rupp, und diese kann man eben nur damit schaffen, dass man den Unternehmen auch die Möglichkeit belässt zu wirtschaften.