Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte Sie trotz der bevorstehenden verdienten Sommerpause noch einmal um Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema, nämlich das Thema Kinderarmut! Wie wir auch hier schon häufiger diskutiert haben, nimmt die Kinderarmut bundesweit zu. Zwischen 2011 und 2015 stieg der Anteil der Kinder unter 18 Jahren, die
in Familien mit Hartz-IV-Bezug leben, trotz guter Wirtschaftslage auf 14,7 Prozent, das heißt, Familien sind bundesweit von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt.
Hierbei gibt es starke regionale Unterschiede. Bremen ist als Bundesland wieder einmal trauriger Spitzenreiter, wenn man sich anschaut, dass hier der Anstieg auf 31,6 Prozent bundesweit am stärksten war. Lediglich Berlin lag bei der Kinderarmutsquote über Bremen. Allerdings ist dort der Trend rückläufig.
Schaut man sich unsere beiden Städte an, ist das Bild noch drastischer: In Bremerhaven leben 40,5 Prozent der Kinder in Familien im Hartz-IV-Bezug, das ist eine Zunahme von 5,1 Prozent. In Bremen sind es 29,7 Prozent, und auch hier ist ein Anstieg von 2,3 Prozent zu verzeichnen. Dazu kommt, dass die Kinder in Bremen und Bremerhaven überdurchschnittlich lange im Hartz-IV-Bezug sind.
Wir haben schon häufig darüber diskutiert, wie die Situation der Alleinerziehenden - 58 Prozent im Sozialleistungsbezug - ist. Kinder sind das Armutsrisiko Nummer eins, und das darf nicht so bleiben, meine Kolleginnen und Kollegen!
Soweit die nackten Zahlen, aber ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, was das für die Kinder konkret bedeutet, für jedes dritte Kind in Bremen und Bremerhaven! Es bedeutet, die Geburtstagseinladung ausschlagen zu müssen, weil kein Geld für das Geburtstagsgeschenk vorhanden ist. Es bedeutet, die Einladung ins Kino ausschlagen zu müssen, und es bedeutet zum Beispiel für die Kinder von Alleinerziehenden, dass sie im Reisebüro an Hochglanzplakaten vorbeigehen müssen und genau wissen, dass sie sich keinen Urlaub werden leisten können. Diese seelischen Wunden manifestieren sich in handfesten Benachteiligungen im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und sogar in der Lebenserwartung. Das muss geändert werden, und zwar umgehend! Es darf nicht länger entscheidend für die Zukunft eines Kindes sein, aus welchem Elternhaus oder Stadtteil es kommt. Alle Kinder müssen die gleichen Chancen erhalten. Die Kinderarmut ist neben der Altersarmut das Gerechtigkeitsthema unserer Gesellschaft!
Seit Langem bemängeln die Sozialverbände und auch meine Partei, dass die Regelsätze für Kinder nicht ausreichen, um Kindern eine gerechte Teilhabe zu ermöglichen. Auch die Bundesregierung hat das Problem ja erkannt und
das Bildungs- und Teilhabepaket aufgelegt. Allerdings sind zehn Euro pro Monat natürlich nicht ausreichend, um Musikunterricht oder einen Vereinsbeitrag zu gewährleisten. Auch die Inanspruchnahme in Bremen - wir haben das im letzten Monat abgefragt - ist extrem niedrig: In Bremen nehmen nur 45 Prozent der Anspruchsberechtigten die Leistungen für Bildung und Teilhabe in Anspruch, also nicht einmal jedes zweite Kind. Das zeigt doch, dass diese Leistungen nicht ankommen, und noch schlimmer ist es beim Kinderzuschlag. Bundesweite Studien schätzen, dass 68 Prozent der Anspruchsberechtigten diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen, weil sie eine Stigmatisierung befürchten, das heißt, hier gibt es extreme Lücken.
Ungerecht ist darüber hinaus natürlich, dass Familien gegenüber Kinderlosen benachteiligt sind und arme Familien in Relation zu reicheren Familien eine deutlich niedrigere Unterstützung bekommen. Die Debatte über den Kinderfreibetrag haben wir hier schon geführt.
Wir wollen Kinder und Familien stärker fördern, die es dringender benötigen. Wir wollen, dass alle Kinder eine ausreichende Existenzgrundlage haben, und die klaffenden Lücken bei der Inanspruchnahme schließen. Wir schlagen deshalb eine stigmafreie Kindergrundsicherung in Höhe von 573 Euro vor, und damit befinden wir uns in guter Gesellschaft. Es gibt ein breites Bündnis für eine Kindergrundsicherung mit den gleichen Vorschlägen: Ver.di schlägt eine Kindergrundsicherung vor, der PARITÄTISCHE fordert sogar eine Kindergrundsicherung in Höhe von 613 Euro. Der SPD-Unterbezirk Bremen-Stadt hat eine Kindergrundsicherung von rund 300 Euro beschlossen, und auch die Koalition hat in ihrem Koalitionsvertag eine Kindergrundsicherung festgeschrieben. Wir erinnern Sie gern daran, Sie sehen aber, dass es verschiedene Modelle und Vorstellungen unter dem Label Kindergrundsicherung gibt.
Wir haben uns eingehend mit den verschiedenen Modellen beschäftigt. Wir haben uns mit Expertinnen und Experten ausgetauscht und eine Konferenz zu dem Thema gemacht. Wir haben auch intern sehr kontrovers diskutiert, welches Modell infrage kommt und ob wir uns dazu entschließen, das vorzuschlagen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, ja, wir wollen das, und unsere Partei hat es kürzlich auch auf unserem Bundesparteitag beschlossen, weil wir
davon überzeugt sind, dass die Kindergrundsicherung Armut bekämpfen sowie ärmere Familien und ärmere Kinder stärker fördern kann.
Wir wollen das Geld allerdings nicht mit der Gießkanne verteilen. Deswegen schlagen wir vor, dass die Kindergrundsicherung zwar pauschal an alle Kinder und Jugendlichen ausgezahlt, aber dennoch als Einkommen der Familie gewertet wird und damit auch zu versteuern ist, sodass man erreicht, dass Kinder aus reicheren Familie netto weniger erhalten. Sie haben trotzdem immer noch nicht weniger als heute, es wird also niemand schlechtergestellt, aber die ärmeren Kinder aus ärmeren Familien werden bessergestellt. Ich glaube, das sollte unser aller Ziel sein, gerade in Bremen.
Zum Abschluss - ich glaube, das kann man der Ehrlichkeit halber nicht verschweigen -: Eine Kindergrundsicherung ist natürlich nicht umsonst zu haben, sondern erfordert jede Menge Geld netto. Es gibt Berechnungen, zum Beispiel von Irene Becker - sie ist bundesweit der Crack der Kindergrundsicherung -, die Anfang des Jahres eine aktuelle Berechnung angestellt hat, wonach dafür 28,1 Milliarden Euro Nettokosten entstehen. Das ist natürlich kein Pappenstiel, aber wenn ich mir anschaue, wie bereitwillig die Bundesregierung die Anhebung des Verteidigungsetats auf zwei Prozent der gesamten Ausgaben diskutiert - von 37 auf dann 60 Milliarden Euro -, dann frage ich mich, welchen Stellenwert die Bekämpfung von Kinderarmut hat. Ich glaube, wir sollten klare Prioritäten setzen, nämlich für die Bekämpfung von Kinderarmut.
Wir freuen uns, dass uns Offenheit signalisiert wurde, das Thema weiter in der Sozialdeputation zu diskutieren. Ich glaube, das ist notwendig, denn es ist natürlich ein tief gehendes Schiff. Es ist ein sehr komplexes Thema, und ich freue mich auf eine kontroverse, aber auch konstruktive Diskussion.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Grundzüge und Grundgedanken dessen, was DIE LINKE in ihrem Antrag aufgeschrieben hat, gibt es auch in Programmatik der Grünen. Deswegen auch der Vorschlag - um es schon vorwegzunehmen -,
den Antrag an die staatliche Deputation für Soziales, Jugend und Integration zu überweisen, weil wir dem Grunde nach auch in vielen Einzelheiten, die Sie genannt haben, derselben Meinung sind wie Sie: Die Vielzahl unterschiedlicher Unterstützungen für Kinder ist im Endeffekt nicht nur unzureichend, sondern auch sozial ungerecht, weil gerade bei den Steuerfreibeträgen natürlich manchmal von Summen ausgegangen wird, die am anderen Ende der sozialen Leiter bei Weitem nicht erreicht werden. Das Grundprinzip, das Sie gerade vorgetragen haben, gehört deshalb auch bei den Grünen seit vielen Jahren schon zu einer automatischen Forderung - Sie haben es ja auch gesagt - und hat hier auch im Koalitionsvertrag dieser Koalition Einzug gehalten.
Man muss, glaube ich, noch einmal daran erinnern, um was es geht: Es geht nicht um eine Sozialreform, die irgendwelche Strukturen verändern soll, sondern darum, effektivere Mittel zu finden, um die himmelschreiende Armut von so vielen Kindern in Deutschland - zurzeit sind es 2,5 Millionen in ganz Deutschland - zu verhindern und als Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland effektiver gegen diesen Missstand vorzugehen.
Das ist der Sinn, und deswegen sind wir Grünen, ist die Koalition insgesamt grundsätzlich der Meinung, dass das die Richtung ist, in die es gehen muss.
Es knüpft auch unmittelbar an einen Antrag der Koalition an, nämlich die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Es sind ja zwei Seiten einer Medaille: Einerseits braucht man als Kind die Rechte, um sich in dieser Gesellschaft entsprechend zu behaupten und nicht im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder zu kommen, andererseits diskutieren wir heute über die materielle Seite, die natürlich genauso wichtig ist wie der Aspekt der Kinderrechte, nämlich die dann auch tatsächliche Absicherung in Euro und Cent. Deswegen gehört für uns das Thema komplett zusammen.
Wir teilen die Auffassung, dass das zwei Seiten einer Medaille sind, nämlich die direkten Transfers einerseits, die in Richtung der Familien gehen, um die es heute geht, andererseits aber die Infrastruktur, die vorgehalten werden muss in Gestalt von offener Kinder- und Jugendarbeit, in Form von Kitas und Schulen. Diese Infrastruktur ist natürlich auch eine Art Kindergrundsicherung; nicht eine Kindergrundsicherung, die an die Familien ausgezahlt wird, sondern eine, die die Gesellschaft insgesamt leistet, damit Fa
milien existieren und Kinder in Zukunft ohne Armut aufwachsen und durch Bildung auch aus dieser Armut herauswachsen können.
Ich finde es bemerkenswert, dass Sie in Ihrem Antrag darauf hinweisen, dass man in dem Maße, wie diese Infrastrukturseite der Kindergrundsicherung ausgebaut und zur Verfügung gestellt wird, dann auch über die Höhe der individuellen Transfers nachdenken kann. Das Modell ist mir sympathischer als zu sagen, es muss von allem immer mehr werden, denn wenn es von einem mehr wird, kann man beim anderen dann auch möglicherweise etwas zurückstecken, weil eben beide Dinge den Kindern unmittelbar zugutekommen. Auch das ist ein Gedanke, der in der Programmatik der Grünen und in der Diskussion über dieses Thema ganz entscheidend ist.
Ich glaube, wir haben noch einige Differenzen. Eine betrifft zum Beispiel den Betrag, der dann am Ende dabei herauskommen soll, das ist ja ganz oft so bei solchen Reformvorhaben. Sie haben ja eine Neufassung vorgelegt, in der Sie den Betrag, den Sie in der ersten Fassung unmittelbar fordern, in eine Klammer gesetzt haben, der dann nach Ihrer Berechnung im Moment das Existenzminimum darstellen würde. Das ist ja auch bei dem Bündnis, das bundesweit für die Kindergrundsicherung kämpft, so ähnlich. Bei der Diskussion der Grünen ist man noch zu anderen Summen gekommen, das hängt ja auch ein bisschen damit zusammen, was man als Refinanzierungen und als Gegenfinanzierungen einrechnen kann. Wir Grünen sind nach wie vor der Meinung, dass wir das Ehegattensplitting auflösen und die Einzelbesteuerung einführen müssen.
Das Ehegattensplitting entzieht dem Staat Mittel, die dann an dieser Stelle gebraucht würden, um eine solche Kindergrundsicherung dann auch tatsächlich umzusetzen, die ja sehr viele Milliarden Euro umfasst, wie auch immer man es rechnet.
Deswegen sind wir auch so vorsichtig, und daher haben wir jetzt auch von einer Eins-zu einsZustimmung zu Ihrem konkreten Vorschlag abgesehen und die Überweisung zur Diskussion
in der Deputation vorgesehen. Wir glauben nämlich, dass man selbstverständlich die Fragen, was kostet das am Ende, was können wir hereinrechnen, was fällt alles weg - Kindergeld, Freibeträge und so weiter kann man hereinrechnen, aber was bleibt dann netto noch an Mehrkosten für den Staat übrig? -, selbstverständlich bei einer solchen Diskussion nicht einfach weglassen kann, und das haben wir ja hier in diesen Diskussionen immer vertreten, sondern zu einer realistischen Umsetzung dessen - -.
Ja, Sie sagen, man kann das leisten! Wir sind der Meinung, dass man diesen Betrag, den Sie da nennen, auf jeden Fall noch einmal in seiner fiskalischen Wirkung bundesweit diskutieren muss und möglicherweise an das angepasst werden muss, was man von den Einnahmen, die man bundesweit zur Verfügung hat, auch tatsächlich finanzieren kann.
Herr Dr. Güldner, eigentlich ist Ihre Redezeit zu Ende, aber gestatten Sie doch noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Vogt?
Wenn wir beide zustimmen, dann kann Frau Kollegin Vogt noch eine Zwischenfrage stellen. - Bitte sehr!