Protokoll der Sitzung vom 23.01.2019

nicht auf Bundesebene geregelt. Ich finde, hier besteht ein großer Veränderungsbedarf.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Die strikteren Sanktionen für unter 25-Jährige gehören abgeschafft, sage ich ganz klar.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Für mich gehören nicht alle Sanktionen abgeschafft. Denn insbesondere bei den unter 25-Jährigen ist nachgewiesen, dass sie wirken. So leid mir das tut, und so weh mir das auch manchmal tut: Ich habe oft genug die Erfahrung gemacht, dass junge Menschen durchaus auch manchmal einen Schuss vor den Bug brauchen. Es wäre hervorragend, wenn es ausschließlich mit Unterstützung ginge. Ich wäre die Erste, die begeistert wäre. Aber ehrlich gesagt, bis wir dort sind, glaube ich, kommt man ohne diesen Druck auch nicht aus.

Deshalb: Nicht mehr stärker sanktionieren und auf keinen Fall Situationen entstehen lassen, in denen diese jungen Menschen in die Obdachlosigkeit geraten. Das ist doch völlig paradox.

(Beifall SPD)

Insgesamt dürfen die Zuschüsse zum Wohnen nicht gestrichen werden. Das wissen wir alle. Das hat nichts mit positiver Arbeitsmarktpolitik zu tun und hat auch keine arbeitsmarktpolitischen Effekte. Je angespannter der Wohnungsmarkt wird, desto schwieriger wird es, diese Menschen nachher tatsächlich noch in ein normales Leben, in eine eigene Wohnung zu bringen.

Außerdem – darüber diskutieren wir auch schon sehr lange – muss das Arbeitslosengeld länger gezahlt werden. Das Äquivalenzprinzip zu den Beitragsjahren muss wiederhergestellt werden, denn mit der jetzigen Regelung wird das Gerechtigkeitsempfinden vieler gestört und verletzt. Ich muss, wenn ich viele Jahre und Jahrzehnte gearbeitet habe, natürlich länger Arbeitslosengeld I beziehen können.

(Beifall SPD)

Außerdem muss es höhere Regelsätze und Zuverdienstgrenzen geben. Auf der Bundesebene setzen wir uns deshalb für ein faires und der Realität angemessenes Existenzminimum ein. Es muss ein Verfahren – das sage ich ganz deutlich – unter Einbeziehung der Sozial- und Wohlfahrtsverbände

entwickelt werden, das insbesondere auf die Verzerrungen durch das Problem der verdeckten Armut und das Herausrechnen einzelner Bedarfspositionen in der sozialen Teilhabe Antworten gibt. Dann muss tatsächlich das Existenzminimum neu ermittelt werden.

Es muss darum gehen, wo immer es geht, Menschen aus der Grundsicherung zu holen und in Arbeit zu bringen. Dabei ist die Grundsicherung nur eine Stellschraube des Arbeitsmarktes und der Sozialpolitik. Man sollte auch nicht ein einzelnes soziales Sicherungssystem isoliert betrachten. Die Veränderungen in diesem System haben begonnen. Wir sind der Meinung es müssen noch weitere folgen. Das ist zurzeit sowohl auf Landesebene als auch auf Bundesebene in der Diskussion.

Auf Bundesebene sind, finde ich, gute Maßnahmen ergriffen worden. Mit dem sozialen Arbeitsmarkt schaffen wir echte Chancen, neue Perspektiven für langzeitarbeitslose Menschen. Mit dem Gute-KiTaGesetz wird Geld in die Hand genommen, um Kinderzuschläge für Geringverdiener auszuweiten, damit sie nicht mehr auf Grundsicherung angewiesen sind. Wir brauchen statt einer Arbeitslosenversicherung eine Arbeitsversicherung. Wir wissen, dass Qualifizierung in der heutigen Gesellschaft das Wesentliche ist. Das heißt, wir müssen unterstützen, wir müssen einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung organisieren, damit Menschen gar nicht erst in die Arbeitslosigkeit geraten.

Der Bundesarbeitsminister hat bereits jetzt einen Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern, Praktikerinnen und Praktikern zur Zukunft des Sozialstaates – denn genau darum wird es gehen – initiiert. Bis Herbst sollen konkrete Vorschläge vorliegen, wie wir den Alltag der Menschen verbessern können. Es geht nicht nur um Regelungen in der Grundsicherung. Viele Menschen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende sind keine Langzeitarbeitslosen. Das haben wir hier auch schon gehört. Es sind Erwerbstätige, deren Löhne nicht reichen und die mit der Grundsicherung aufstocken müssen. Auch für diese Menschen müssen wir etwas tun. In Bremen mit unserem Landesmindestlohn sind wir, finde ich, vorbildhaft vorangegangen.

(Beifall SPD)

Der Bundesmindestlohn ist nachgezogen. Wir sind in der Debatte, den Mindestlohn insgesamt zu erhöhen. Das ist aus unserer Sicht ein richtiger Schritt. Wir brauchen – das sage ich ganz deutlich,

das haben wir letzten Monat debattiert – mehr Tarifbindung. Das würde natürlich auch dazu beitragen, dass Menschen aus dieser Notsituation einen Ausweg finden. Wir müssen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen erleichtern, und wir müssen auch Anreize zur Stärkung der Sozialpartnerschaft geben.

Meine Damen und Herren! Sie und ich wissen nicht, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird. Ich glaube auch nicht, dass das die zentrale Frage ist. Ich glaube, dass es eine Menge Veränderungsbedarf gibt, an dem wird gearbeitet und ich bin sehr zuversichtlich, dass das System in einem Jahr auch anders aussehen wird. – Vielen Dank!

(Beifall SPD)

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich auf der Besuchertribüne recht herzlich die Klasse VAT 181 des Technischen Bildungswerkes Mitte begrüßen.

Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall)

Als nächster Redner hat der Abgeordnete Janßen das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Abgeordnete! Ein paar Anmerkungen noch zur Debatte: Es ist zwischenzeitlich ein bisschen der Eindruck entstanden, vor allen Dingen bei den Reden der CDU und der FDP – wobei, Sie hatten es eingeschränkt, aber bei der CDU zumindest –, dass all die Menschen, die Geld über das SGB II beziehen, zu Hause sitzen und nichts machen. Ein Viertel der Menschen im SGB-II-Bezug arbeitet.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Übrigens, ein Fünftel der Menschen, die arbeitet, bezieht SGB II, auch noch so eine Randnotiz, die man vielleicht zur Kenntnis nehmen müsste, wenn man darüber redet, wer hier auch sanktioniert wird. Wenn die Androhung von Sanktionen bei der Nichtannahme einer weiteren Beschäftigung möglicherweise dazu führt, dass mein erstes Beschäftigungsverhältnis danach nicht mehr ausgeführt werden kann, dann, meine Damen und Herrn, stellt sich sowieso die Frage, was die Sinnhaftigkeit dieser Sanktionspraxis ist.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Herr Buhlert, Sie hatten es auch angeschnitten: die Frage von Menschen mit Behinderungen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat zu Recht darauf hingewiesen, dass insbesondere Menschen im ALG-II-Bezug sanktioniert werden, die psychische Probleme haben.

(Abgeordnete Dr. Müller [Bündnis 90/Die Grünen]: Ja!)

Das ist etwas anders als eine Behinderung, aber Menschen, die Erkrankungen haben und Schwierigkeiten aufwerfen, sind insbesondere von Sanktionen betroffen. Ich glaube, hier muss man noch einmal die Frage stellen: Welchen Erziehungscharakter soll das eigentlich bitte schön haben?

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Weil die Zahl, diese drei von 100 jetzt oft genannt wurde: Ja, das sind drei von 100 Menschen im Leistungsbezug, die sanktioniert wurden. Daran hängen aber oftmals Bedarfsgemeinschaften. Wenn ich in einer Bedarfsgemeinschaft bei einer Person den Regelsatz reduziere, reduziert das selbstverständlich für die gesamte Bedarfsgemeinschaft das zur Verfügung stehende Haushaltseinkommen.

Das heißt, diese Annahme, dass hier nur drei Prozent der Menschen im SGB II betroffen seien, ist einfach schlicht falsch. Wenn wir uns anschauen, wie hoch die Zahl der unter 25-Jährigen ist, die sanktioniert werden, – hatten wir vor Kurzem in einer Fragestunde, in Bremen im Jahr 2017 allein 3 222 Personen – dann wissen wir, dass hier ganz klar über die Sanktionierung der unter 25-Jährigen das Haushaltseinkommen verringert wird, übrigens völlig unverschuldet das der Eltern in dem Fall. Es ist also klar, dass diese Sanktionen über dieses verringerte Haushaltseinkommen viel mehr als nur drei Prozent der Leistungsbeziehenden betrifft.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Das Interview von heute Morgen von Frau Ahlers ist sehr spannend. Ich finde übrigens eine Passage besonders gut. Darin heißt es: Wie sollen wir als Jobcenter eigentlich Vertrauen zu Menschen aufbauen, die uns in erster Linie als eine Instanz wahrnehmen, die uns im Zweifelsfall bestraft? Wie sollen wir diesen beiden Ansprüchen gleichermaßen gerecht werden. Zum einen den Menschen an die

Hand zu nehmen und auch Möglichkeiten zu eröffnen und auf der anderen Seite aber das Amt sein, das ihnen am Ende des Monats sagen kann: Sie haben jetzt zweimal den Termin verpasst oder sie haben die Beschäftigung nicht angenommen, die wir Ihnen angeboten haben, jetzt kürzen wir Ihnen die Leistung. Dass diese Aufgabenteilung in einem Amt überhaupt nicht mehr funktioniert und das von einer Person, die dafür verantwortlich ist, diesen Ablauf zu organisieren, finde ich bemerkenswert und zeigt für mich auch noch einmal, dass wir uns grundsätzlich mit der Frage der Sanktionen beschäftigen müssen, nicht nur mit der Frage des § 31a.

(Beifall DIE LINKE)

Die Grünen hatten das auch angesprochen: Hartz IV wird als Angstregime wahrgenommen oder es macht den Menschen im Hartz-IV-System Angst. Ich glaube, dass wir nicht vergessen dürfen, Hartz IV macht auch außerhalb des Hartz-IV-Systems Angst. Das ist auch ein Sinn von Hartz IV. Hartz IV ist selbstverständlich auch dafür da, der arbeitenden Bevölkerung deutlich zu machen: Sieh einmal, dass du deinen Job behältst, sieh einmal, dass du dich nicht zu viel beschwerst. Sieh einmal, dass du mit dem zufrieden bist, was du hast, denn sonst kannst du ins Hartz-IV-System geraten. Sonst drohen dir im Zweifelsfall Kürzungen unter das Existenzminimum und sonst droht dir auch eine Form von sozialer Ächtung, die sich in dieser Gesellschaft eingestellt hat, die selbstverständlich einen Druck auf die arbeitende Bevölkerung ausübt.

So zu tun, als ob hier nur ein kleiner Teil der Menschen von der Sanktionspraxis betroffen sei, die real gekürzt werden, ist doch eine Illusion. Dann verstehen Sie nicht, wie diese Gesellschaft mittlerweile reagiert und auch durch diese Form von Hartz-IV-Gesetzgebung strukturiert ist.

(Beifall DIE LINKE)

Ein Punkt einfach nur, um noch einmal zu versuchen, Wissen zu vertiefen: Das BGE hat überhaupt nichts mit Hartz IV zu tun. Es ist einfach strukturell von der Grundidee etwas völlig anderes, weil das BGE nicht an Bedürftigkeit ausgerichtet ist. Wenn hier ein Vergleich angezogen wird, es handle sich um ein BGE, wenn Menschen, die erwerbslos sind, einfach so Geld bekommen, dann hat offensichtlich jemand das BGE nicht verstanden, weil das BGE sogar an alle ausgezahlt werden würde unabhängig vom Beschäftigungsverhältnis oder nicht.

(Abgeordneter Dr. Buhlert [FDP]: Aber es weiß auch noch keiner, was du mit der Abkürzung meinst!)

Bedingungsloses Grundeinkommen, das hier dreimal genannt wurde! Ich glaube, dass hier nicht deutlich ist, wie das zusammenhängt, und ich will jetzt auch keine Diskussion an dieser Stelle darüber führen. Nur das als bedingungsloses Grundeinkommen zu verkaufen, wenn man sagt, die Sanktionspraxis gehört abgeschafft, zeugt nicht gerade von Fachkenntnis. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall DIE LINKE)

Als nächste Rednerin hat die Abgeordnete Dr. Müller das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal an den Kollegen Janßen und an die Kollegin Böschen anknüpfen. Ich will für meine Fraktion noch einmal deutlich machen: Die Stereotype von den typischen Hartz-IV-Empfängern, die auch heute wieder erneut in der Debatte vorgekommen sind, will ich nicht benutzen, weil ich sie mir überhaupt nicht zu eigen mache; diejenigen Menschen, die angeblich nicht arbeiten, weil sie sich so großartig und sicher fühlen im sozialen Netz. Dieses Weltbild und dieses Stereotyp von Hartz-IV-Empfängern teilen wir ausdrücklich nicht.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Nelson Janßen hat gerade noch einmal darauf hingewiesen, wie viele Menschen im Hartz-IV-System sind, obwohl und trotzdem sie arbeiten, obwohl und trotzdem sie arbeiten könnten, aber mit sogenannten Vermittlungshemmnissen stigmatisiert sind. Da fällt immer wieder der Begriff der Alleinerziehenden. Kinder zu haben ist ein Vermittlungshemmnis, das muss man sich einmal verdeutlichen. Über diese Menschen sprechen wir hier, und ich lehne das wirklich ab. Es gibt vereinzelte Fälle, da sind wir auch d’accord, aber so zu tun, als ob diese Zielgruppe nicht vermittelbar wäre, weil sie nicht über den Willen zur Arbeit verfügt, das muss ich für meine Fraktion wirklich weit von mir weisen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Wenn man sich die grünen Argumente oder die linken Argumente nicht zu eigen machen will, dann