Protokoll der Sitzung vom 09.07.2003

(Beifall bei der CDU)

Handwerker können ihr unternehmerisches Wirken nicht mir nichts, dir nichts verlagern. Sie sind auf ihren Standort, auf ihre unmittelbare Umgebung angewiesen. Sie können ihr Unternehmen nicht nach Tschechien, Ungarn oder nach Fernost verlagern, wie das große Firmen tun. Sie können praktisch keine Standortentscheidungen treffen. Sie arbeiten, wirken und operieren in unmittelbarer Nähe zu ihrem Standort. Ihr Einzugsbereich umfasst meist nicht mehr als 30 oder 40 km. Die Betriebe sind meist auch nicht weiter als 30 oder 40 km vom nächsten Finanzamt entfernt. Somit sind die Handwerker treue, brave und redliche Steuerzahler, die den Finanzbehörden überhaupt nicht entgehen können, denn viele von ihnen haben bereits eine jahrzehntelange Biografie als treue Steuerzahler.

In Hessen gibt es etwa 60.000 Handwerksbetriebe mit rund 400.000 Beschäftigten. Das Handwerk in unserem Bundesland bildet rund 32.000 junge Menschen aus. Es macht pro Jahr etwa 40 Milliarden c Umsatz. Erlauben Sie mir deshalb zu Beginn der heutigen Diskussion über das Handwerk, die Diskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Nicht das deutsche Handwerk bremst den Aufschwung am Arbeitsmarkt. Das deutsche Handwerk wird in diesen Monaten selbst in die Zange genommen:einerseits von einer sich immer weiter verschlechternden wirtschaftlichen Gesamtlage und andererseits von einer kränkelnden Bundesregierung, die sich zentralen Reformnotwendigkeiten bei Arbeit und Sozialem weiter verweigert. Daran ändern auch zaghafte Versuche von 2010 nichts – aus meiner Sicht ein übrigens vollkommen falsches Bild, weil wir Veränderungen nicht im Jahr 2010, sondern im Jahr 2003 benötigen.

(Beifall bei der CDU)

Was wir brauchen, ist ein Schub in Unternehmen, die den robustesten Teil unserer deutschen Wirtschaft darstellen. Deshalb bleibt es ein Geheimnis dieser Bundesregierung, wie in einem immer weiter schrumpfenden Arbeitsmarkt und Auftragsbestand im Handwerk durch die Quasi-Abschaffung des Meisterbriefs die wirtschaftliche Situation in den Unternehmen besser werden soll.

Die zurückgehende Zahl der Ausbildungsplätze im Handwerk in den letzten Jahren liegt doch nicht an der mangelnden Bereitschaft der Betriebe, sondern ist das Resultat einer katastrophalen Politik, die in den letzten Jahren dem Mittelstand und dem Handwerk konsequent das Leben schwer gemacht hat.

(Beifall bei der CDU)

Wer soll in unserem Land eigentlich ausbilden für die Industrie, wenn sich diese Industrie zunehmend – wie wir das in den letzten Jahrzehnten immer stärker beobachten konnten – aus der Ausbildung junger Menschen zurückzieht? – Wir hatten vor einigen Jahren bei den ehemaligen Farbwerken Hoechst eine große Auszubildendenabteilung, eine Lehrlingsabteilung, mit über 1.800 Auszubildenden. Die ist heute nicht mehr da.

Das Handwerk ist der Stand, der für die Industrie ausbildet, der qualifizierte Arbeitnehmer schafft, die nachher von Industrieunternehmen,die nicht ausbilden,angenommen werden und in komplizierte, moderne und fortschrittliche Arbeitsprozesse eingebunden werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer soll das tun, wenn wir den großen Befähigungsnachweis abschaffen, wenn wir einen ganzen Stand an Unternehmern, an Familien derart demotivieren, dass sie sagen:Wieso sollen wir ausbilden, wenn uns das nicht belohnt wird?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wieso soll ein junger, talentierter Handwerksgeselle den Meistertitel, den großen Befähigungsnachweis, erlangen, wenn er das, was er tun will, nämlich unternehmerisch tätig zu werden, auch ohne großen Befähigungsnachweis erlangt? – Dann wird er sich sagen:Wieso soll ich den Handwerksmeistertitel erlangen und ausbilden, während das die Industrie schon seit langen Jahren nicht mehr tut? Ich mache es ebenso.Ich mache mich selbstständig,lerne andere an und versuche mich so in meinem unternehmerischen Wirken zu qualifizieren.– Das ist eine fatale Wirkung,kann ich Ihnen nur sagen, wenn wir das wahr werden lassen.

(Beifall bei der CDU)

Man beklagt die fehlenden Ausbildungsplätze, wirft der ausbildungsstärksten Wirtschaftsbranche, nämlich dem Handwerk, Knüppel zwischen die Beine, brüstet sich mit großen Entlastungen wie beispielsweise der Freistellung von 50 oder 90 c Jahresbetrag zur Handwerkskammer und drückt dann den neuen Betrieben eine Ausbildungsplatzabgabe aufs Auge. Meine sehr verehrten Damen und Herren, paradoxer kann man Politik in diesem Sektor wirklich nicht gestalten.

(Beifall bei der CDU)

Wir sind grundsätzlich nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die die im Grundsatz bewährte deutsche Handwerksordnung regelrecht zerschlägt und damit versucht, Reformfähigkeit unter Beweis zu stellen, die auf anderen wichtigen Feldern schmerzlich vermisst werden.Am Ende – so meinen wir – muss doch das Handwerk stärker, es muss vitaler und lebendiger aus einer Reform hervorge

hen und nicht zerfleddert in Einzelbestandteile aufgelöst und demotiviert.

Richtige Ordnungspolitik baut zusammen, sie bildet ein Fundament,sie bildet ein Gerüst und ist kein Abrisstrupp, der nur mit der Abrissbirne umhergeht und hinterher das Bauland für Schwarzarbeit und Schwarzbauten lässt.

Handwerksmeister sind in unserem Land perfekt ausgebildet. Sie sind geschult, sie werden im Meisterkurs, der lange dauert, im theoretischen und im praktischen Wissen ausgebildet, und sie haben Ausbildereignungen. Zum großen Befähigungsnachweis gehört ein Teil, nämlich die Ausbildereignung, junge Leute ausbilden zu können. Sie sind vor allem auch betriebswirtschaftlich geschult, dergestalt, dass sie in der Lage sind, grundsätzliche betriebswirtschaftliche Aufgaben zu übernehmen, was in einem Land, in dem wir mit über 40.000 Insolvenzen im Jahr zu kämpfen haben, ungewöhnlich wichtig ist.

Lassen Sie mich ein Letztes erwähnen.Handwerksmeister und Handwerksbetriebe sind geeignet, ein hohes Maß an Qualität gegenüber dem Verbraucher abzuliefern. Wer schon nicht in der Lage ist, zu akzeptieren, dass das Handwerk in der Form, in der wir es heute betrachten und vorfinden, so weiter bestehen muss, der müsste eigentlich im Interesse des Verbraucherschutzes in der Lage sein, zu sagen, gerade deswegen muss das Handwerk in einer hohen qualifizierten Form in Deutschland weiter eine Chance haben.

Herr Reif, die zehnminütige Redezeit ist zu Ende. Kommen Sie bitte zum Schluss.

Es ist in Wirklichkeit der wahre Verbraucherschutz. – Herr Präsident, lassen Sie mich einen Schlusssatz sagen: Wir glauben, dass das Fitnesstraining für einen Konjunkturaufschwung und einen Konjunkturschub in Deutschland ohne das Handwerk nicht möglich ist.Deshalb lassen Sie die Finger davon, und kooperieren Sie vonseiten der Bundesregierung mit dem Handwerk für vernünftige Veränderungen, die uns in Deutschland weiterbringen und nicht weiter hemmen.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Michael Denzin (FDP))

Vielen Dank, Herr Reif. – Für die SPD-Fraktion hat die Abg.Tesch das Wort.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren! Meine sehr verehrten Damen und Herren der CDUFraktion, die Novellierung ist kein Schlag ins Gesicht für den Beschäftigungs- und Ausbildungsmotor, sondern ein Ganzkörperlifting einer alten Dame namens Handwerksordnung.

(Beifall bei der SPD)

Es ist auch kein Herumdoktern an einem Gesunden – wie Sie es nennen –, sondern eine längst überfällige Verjüngungskur.

(Beifall bei der SPD)

Es stimmt uns hoffnungsvoll, dass Sie sich zumindest mit Teilen der Änderungen der Handwerksordnung anfreunden können.

Der Vorschlag der Bundesregierung zur Novellierung der Handwerksordnung ist sehr zu begrüßen. Die Novellierung unterteilt die Handwerksberufe nicht mehr nach Berufsgruppen, sondern in Anlage A in gefahrengeneigte und in Anlage B in nicht gefahrengeneigte Berufe.

Bei den nicht gefahrengeneigten Berufen ist der Meisterzwang ein unzeitgemäßes Berufsverbot. Die Aufhebung des Meisterzwangs ist hier ein wirksames Instrument zum Abbau der Schwarzarbeit, fördert den Wettbewerb und kommt dem Verbraucher zugute.

(Beifall bei der SPD)

Der Meisterbrief kann in den Berufen der Anlage B weiter als Qualitätssiegel wirken, ist aber nicht die Voraussetzung für eine Existenzgründung.Der SPD-Fraktion ist bekannt, dass das Handwerk eine wirklich tragende Rolle in der Wirtschaft, gerade in Hessen, darstellt,

(Clemens Reif (CDU): Offenbar nicht!)

dass gerade die Handwerksbetriebe für Jugendliche mit Haupt- und Realschulabschluss ein Garant für Ausbildung sind.

(Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))

Herr Reif, hören Sie mir doch bis zum Ende zu. Sie werden mir sicher zustimmen, wenn meine Rede beendet ist.

(Beifall bei der SPD – Clemens Reif (CDU): Das kann selbst ich mir nicht vorstellen! – Michael Boddenberg (CDU): Die Rede, die Sie vorlesen, haben wir von anderen schon zehnmal gehört!)

Ich habe Ihnen doch auch zugehört, jetzt seien Sie doch ein bisschen tolerant. – Dennoch können wir uns den aktuellen Zahlen nicht verschließen, und dies bedeutet einen umgehenden Handlungsbedarf. Ich verhehle nicht, dass es bei einer Veränderung von Rahmenbedingungen zu einem kurzfristigen Rückgang der Ausbildungszahlen kommen kann. Denn Wirtschaftssubjekte benötigen Zeit, um sich an die veränderten Bedingungen und Anreizstrukturen anzupassen.

(Michael Boddenberg (CDU): Das ist ein gewolltes Ergebnis!)

Ich hoffe nicht, dass die Handwerksbetriebe den angedrohten Ausbildungsboykott umsetzen.

(Klaus Peter Möller (CDU): Haben Sie jemals einen Betrieb von innen gesehen?)

Darf ich bitte meine Rede zu Ende führen? Ich stehe Ihnen hinterher gerne für einen Dialog zur Verfügung. Ich habe 18 Jahre lang mit meinem Mann einen Handwerksbetrieb geführt. Ich bitte Sie, mich ausreden zu lassen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Unternehmen, die sich dem angedrohten Ausbildungsboykott anschließen, werden sich ins eigene Fleisch schneiden. Denn auf längere Sicht wird eine Verringerung der Ausbildungsplätze im Handwerk nicht zu einem dauerhaften Angebotsengpass auf den Ausbildungsmärkten führen. Zum einen wird die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen demographisch bedingt abnehmen, zum anderen wird die Ausbildungsleistung von Industrie- und Dienst

leistungsunternehmern sowie von Nicht-Meisterbetrieben zunehmen, wenn Arbeitskräftemangel droht – und das wird in den nächsten Jahren der Fall sein.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Der Meisterbrief bürgt nicht zwingend für einen hohen Qualitätsstandard. Qualitätsstandards sind in zahlreichen Gesetzen,Verordnungen und Fachregeln dargelegt. Sie sichern Verbraucherschutz, nicht der Meisterbrief.

(Beifall bei der SPD)

Daher ist es mir unverständlich, dass Sie, meine Damen und Herren von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Bäcker, Fleischer und Konditoren in Anlage A belassen wollen. Haben Sie kein Vertrauen in die Lebensmittelgesetze und -kontrollbehörden,

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))