Protokoll der Sitzung vom 06.10.2006

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben während der Sommerferien erlebt, dass Familien abgeschoben worden sind, dass Familien getrennt worden sind. Kinder mit guten Schulabschlüssen, die gute Abiturnoten hatten, die kurz vor dem Studium waren, sind nach Serbien-Montenegro abgeschoben worden. Die Bundesrepublik Deutschland hat in diese Kinder viel investiert. Dann, wenn sie für die Bundesrepublik Deutschland von Nutzen sind, wenn sie sozusagen ihr geistiges Potenzial diesem Land zur Verfügung stellen wollen, setzen Sie sie in die Maschine und schieben sie nach SerbienMontenegro ab.Herr Innenminister,hier ist etwas nicht in Ordnung. Hier müssen wir unbedingt eine Lösung finden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Innenminister, es ist auch nicht in Ordnung, dass wir mittlerweile dazu übergehen, einzelne Personen mit Privatjets abzuschieben – bei allen Problemen, die wir bei der Rückführung haben und bei der Frage, ob Rückführungen gerechtfertigt sind oder nicht. In diesem Fall war es so, dass der junge Mann nur bei seiner kranken Mutter bleiben und sie pflegen wollte. Das sind überzogene Handlungen.Wir müssen über die Rückführung, über die Abschiebungen eine Diskussion führen.Herr Innenminister, diese inhumane Praxis, dass Familien abgeschoben werden, dass Familien getrennt werden, muss in Hessen schnellstmöglich ein Ende finden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich will Ihnen einmal sagen, welche Briefe wir – Mitglieder der Härtefallkommission, Mitglieder des Petitionsausschusses – bekommen. Sie kennen das, aber der eine Kollege oder die andere Kollegin im Raum vielleicht nicht. Ich lese Ihnen den Brief eines jungen Mädchens vor, das uns geschrieben hat. Es geht hier um eine Familie mit sechs Kindern, die seit 13 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland leben. Deren Klassenkameradin schreibt:

Von meiner Klassenkameradin habe ich mitgekriegt, dass sie ausgewiesen werden soll. Sie wohnt seit 13 Jahren hier. Die ganzen Freunde sind hier. Sie hat hier ein viel besseres Leben. Bald kommen die Prüfungen, und sie kann dann ihren Abschluss machen.Für ihre Zukunft ist das sehr wichtig.Sie ist

meine Freundin, und es tut mir auch sehr weh, dass sie gehen muss.

Das schreiben Klassenkameradinnen und Klassenkameraden eines Mädchens, die abgeschoben werden soll:

Hier hat sie sehr gute Freundinnen gefunden, die sie mögen. Und wir werden sie vermissen. Darum bitte ich Sie mit vollem Herzen, dass wir sie hier behalten können.

Oder der Kreisschülerrat einer Schule aus dem Hochtaunuskreis schreibt:

Der Angesprochene kommt aus Afghanistan und lebt mittlerweile seit sechs Jahren in Deutschland. Er beherrscht die deutsche Sprache gut, und man kann sagen, dass er die deutsche Kultur nicht nur respektiert, sondern sich auch angepasst hat. Seine Mutter, sein Vater, seine Geschwister sind vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes ohne Erfolg gesucht worden. Damit hat er keine Verwandten mehr in Afghanistan. In Deutschland hingegen hat er, wenn auch entfernte Verwandte, welche teilweise die deutsche Staatsbürgerschaft haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,das sind Briefe, die wir von Schülerinnen und Schülern bekommen, durch die man das humanitäre Problem, das wir haben, einmal deutlich vor Augen geführt bekommt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Klasse aus Frankfurt hat 650 Unterschriften an ihrer Schule gesammelt, mit denen sie sich für einen Klassenkameraden einsetzt,der 14 Jahre alt ist und in die 8.Klasse geht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir beschweren uns oft darüber, dass sich Jugendliche nicht mehr für Politik interessieren. Hier haben Sie ein Beispiel dafür, wie die Bürgergesellschaft funktioniert. Hier geht es nicht um irgendwelche Jugendlichen, sondern es geht um Klassenkameraden und Menschen,die mit anderen zusammen aufgewachsen, in den Kindergarten und in die Schule gegangen und hier sozialisiert sind und die in Länder abgeschoben werden sollen, deren Sprachen sie nicht können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben hier ein humanitäres Problem, das wir dringend lösen müssen. Herr Innenminister, tun Sie endlich etwas.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben einen Fall, den wir schon lange diskutiert haben: den Fall der Familie Agirman. Seit einem Jahr sitzen drei Kinder bei einer 85-jährigen Oma in Kurdistan.Diese Kinder sprechen überhaupt kein Kurdisch. Die Mutter ist hier; der Vater ist in der Türkei verschwunden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir Bleiberecht sagen, dann brauchen wir dringend einen Abschiebestopp. Es macht keinen Sinn, jetzt noch Menschen zurückzuführen, die von einem Bleiberecht unter Umständen profitieren würden.Wir haben mittlerweile die Entscheidung des Senats von Berlin; wir haben mittlerweile einen Abschiebestopp in Schleswig-Holstein, bei dem ganz detailliert auf die Gründe eingegangen wird, wann nicht mehr zurückgeführt werden soll.

Herr Innenminister, wenn Sie Bleiberecht sagen, dann machen Sie endlich einen Schlussstrich unter dieses humanitäre Problem. Verhängen Sie einen Abschiebestopp; beschließen Sie bei der nächsten Innenministerkonferenz eine Bleiberechtsregelung. Es macht keinen Sinn, in unserem Lande so mit Menschen umzugehen. Man trennt Fa

milien nicht, man schiebt Kinder nicht alleine ab. Lösen Sie dieses humanitäre Problem; Sie haben von uns, wenn Sie diesen Weg gehen, jede Unterstützung, die Sie brauchen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Frömmrich, vielen Dank. – Das Wort hat Frau Kollegin Waschke von der SPD-Fraktion.

Sehr verehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich freue mich zunächst einmal doch sehr, dass die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unsere Arbeit so würdigt. Es ist nämlich unsere Große Anfrage zur Umsetzung des Aufenthaltsgesetzes, die heute Morgen von den GRÜNEN zum Setzpunkt gemacht worden ist. – Das finde ich bemerkenswert, und das freut mich.

(Beifall bei der SPD – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist unser Antrag, und wir haben Ihre Anfrage mit aufgerufen!)

Ich weiß, ja. – Meine Damen und Herren, aber jetzt zum Thema: In Hessen leben etwa 15.000 Menschen in einer Grauzone, rechtlich geduldet, aber ohne legalen Aufenthaltsstatus. Die meisten von ihnen leben länger als fünf Jahre so. Das hat die Antwort der Landesregierung auf unsere Große Anfrage zur Umsetzung des Aufenthaltsgesetzes ergeben. Diese Menschen haben sich mittlerweile gut integriert. Denn ihre Kinder sind hier geboren, gehen zur Schule oder in den Kindergarten und haben zum Teil sogar schon ihre Ausbildung angefangen und müssen immer in der Angst leben, abgeschoben zu werden.

Das Aufenthaltsgesetz hätte eigentlich für diese Gruppe eine größere Rechtssicherheit schaffen sollen. Es war das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die Duldung als zweitklassigen Aufenthaltstitel abzuschaffen und den Kettenduldungen entgegenzusteuern. Aber einige Länder – allen voran das Land Hessen – legen die Ermessensspielräume, die sie haben, sehr eng aus. § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes sieht nämlich vor, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn eine Ausreise

aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Eine Aufenthaltserlaubnis darf nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist....

Bundesländer wie Hessen legen diesen § 25 Abs. 5 zuungunsten der Betroffenen aus, indem man unterstellt: Eine freiwillige Ausreise ist möglich und zumutbar.

Meine Damen und Herren, eine freiwillige Ausreise ist letztlich immer möglich. Zur versprochenen Abschaffung der Kettenduldung kam es nur in Einzelfällen, und die Chance, den Menschen eine vernünftige Lebensperspektive zu geben, wurde vertan. In Hessen erhielten seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes lediglich 183 von 17.429 geduldeten Menschen einen Aufenthalt nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes. Das waren 183 Menschen in 14 Monaten. – Zum Vergleich: In Rheinland-Pfalz wurde bereits in den ersten fünf Monaten 700 Menschen

eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Es ist schon interessant: Die rechtliche Voraussetzung zur Abschaffung der menschenunwürdigen Kettenduldung ist in § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes geschaffen worden; sie wird in Hessen nur nicht angewandt.

Die SPD-Fraktion dieses Hauses unterstützt die Initiative des Innenministers, in der Innenministerkonferenz eine Bleiberechtsregelung herbeizuführen, ausdrücklich. Das habe ich an dieser Stelle schon mehrfach gesagt.

(Beifall bei der SPD – Reinhard Kahl (SPD): Stimmen wir einmal darüber ab, ob das so ist!)

Dazu komme ich gleich. – Auch wir glauben, dass es inhuman ist, dass man diese Kinder – die schon lange in Deutschland leben und zum Teil hier geboren sind, den Kindergarten oder die Schule besuchen und praktisch überhaupt keinen Bezug mehr zum Heimatland ihrer Eltern haben und dessen Sprache auch gar nicht mehr sprechen – nach so vielen Jahren einfach in das Heimatland ihrer Eltern abschieben kann.Diese Kinder sind faktisch Inländer, weil sie hier aufgewachsen und sozialisiert sind. Es geht um Menschen, die in Deutschland ihre Heimat gefunden haben, aber dennoch auf gepackten Koffern sitzen müssen.

Was wir aber ganz gewiss nicht brauchen, das ist eine Minimalvariante der Bleiberechtsregelung, von der nur sehr wenige Menschen betroffen sein werden.

(Beifall bei der SPD)

Das möchte ich an dieser Stelle auch sehr deutlich sagen, denn die SPD in diesem Hause befürchtet, dass es genauso kommen wird.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Wir hatten das auch schon bei der Afghanistan-Bleiberechtsregelung. Davon waren auch nur sehr wenige betroffen. Wir brauchen eine vernünftige Regelung, die das Problem der hier lange geduldeten Menschen wirklich löst. – Wir werden dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Bleiberecht zustimmen und fordern ausdrücklich einen Abschiebestopp nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes für all die Menschen, die unter eine Bleiberechtsregelung fallen könnten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister Bouffier, andere Bundesländer wie Berlin und Schleswig-Holstein haben das getan.Auch wir hätten dies von Ihnen als Vorkämpfer der Bleiberechtsregelung erwartet. Denn das wäre logisch und konsequent gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie die Auffassung, die Sie in Berlin vertreten, auch in Hessen vertreten, dann mache ich den Vorschlag, heute gemeinsam einen Dringlichen Entschließungsantrag zum Abschiebestopp zu verabschieden, denn dann kann man zeigen, ob man wirklich hinter dem, was man sagt, steht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Hessen kann man wiederum den Eindruck haben, dass sogar vermehrt abgeschoben wird. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf entsprechende Presseartikel der letzten Zeit. Herr Kollege Frömmrich hat schon einige Beispiele gebracht. Hessen setzt die Bundesgesetzgebung nicht nur bei der Abschaffung der Kettenduldung sehr

restriktiv um, sondern auch bei der Härtefallkommission. Der Hintergrund der Härtefallkommission ist – noch einmal zur Erinnerung –, in besonders gravierenden Einzelfällen abweichend von der Rechtslage die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu empfehlen.

Insofern ist auch die Antwort auf unsere Frage 1 zur Härtefallkommission falsch.Denn die Kommission erteilt keinen Aufenthalt, sondern sie empfiehlt dem Innenminister lediglich,einen solchen auszusprechen.Das ist die Rechtslage.

In allen anderen Bundesländern sitzen in der Härtefallkommission neben Politikern auch Vertreter der Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Flüchtlingsorganisationen und zum Teil auch die Vertreter der Kommunalen Spitzenverbände. Die SPD hätte sich auch in Hessen eine solche Besetzung gewünscht. Dazu haben wir entsprechende Anträge gestellt, die leider von der Mehrheit des Hauses abgelehnt worden sind. Deswegen arbeiten in Hessen in der Härtefallkommission ausschließlich Politikerinnen und Politiker. Es soll lediglich am Rande erwähnt werden: Selbst Bayern wird eine Härtefallkommission haben, die politikfern besetzt ist.

In der Härtefallkommission von Niedersachsen – das haben wir vor Kurzem gelesen – haben ausschließlich Politikerinnen und Politiker gearbeitet. Und von Niedersachsen – das wissen wir – hat Hessen abgeschrieben,als es um die Besetzung der Härtefallkommission ging. Aber im Gegensatz zu Hessen ist Niedersachsen nach einem Jahr lernfähig gewesen. Es gibt im niedersächsischen Landtag einen gemeinsamen Antrag von CDU und SPD, die Härtefallkommission in Zukunft politikfern zu besetzen. Das bedeutet: Es gibt in Deutschland nur noch ein Bundesland, in dem in der Härtefallkommission ausschließlich Politiker arbeiten.In Hessen ist nämlich der externe Sachverstand nicht gewünscht.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Ich zitiere aus der Antwort der Landesregierung zur Großen Anfrage: „Es geht auch nicht darum, Experten des Ausländer- und Asylrechts in dieses Gremium zu berufen... Sondern es geht darum, die besondere Härtesituation zu beurteilen.“

Herr Minister Bouffier, glauben Sie nicht auch, dass die Menschen, die tagtäglich mit der Flüchtlingsproblematik zu tun haben, besondere Härten nicht mindestens ebenso gut beurteilen können wie wir Politikerinnen und Politiker?