Protokoll der Sitzung vom 29.03.2007

(Zuruf des Abg.Axel Wintermeyer (CDU))

um festzustellen, ob sie die Materie begriffen hat. Das ist nicht der Fall.Wissen Sie, was der schlimmste Beleg dafür ist? Zwei Drittel unserer Abfragen betreffen praktische Taten der Hessischen Landesregierung.Da wird nichts gemeldet als: Das wollen wir nicht, das haben wir nicht, das wollen wir erst, das passt uns nicht, das sehen wir anders, das kommt übermorgen erst vor, das soll es in Hessen nicht geben. – Meine Damen und Herren, das ist Ihre Praxis.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb haben wir das herausgearbeitet. Frau Ministerin Lautenschläger, Sie dürfen davon ausgehen, dass alle hessischen Frauen, die in Kontakt mit dieser hessischen Praxis sind, sich ein eigenes Bild machen. Sie brauchen nicht meine Übersetzung, sondern sie tragen bei uns vor, weil sie bei Ihnen – ich hätte fast ein unfeines Wort benutzt – einfach nicht weiterkommen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir haben die Große Anfrage betreffend Stand der Umsetzung des Gender-Mainstreamings in Hessen besprochen.

Tagesordnungspunkt 17, Große Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Zukunftsbranche Tourismus für Hessen, Drucks. 16/6863 zu Drucks. 16/5838, wurde zur endgültigen Beschlussfassung an den Ausschuss überwiesen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 18 auf:

Große Anfrage der Abg. Bocklet, Schulz-Asche (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) und Fraktion betreffend Armut in Hessen erfassen und bekämpfen – Drucks. 16/6864 zu Drucks. 16/5633 –

Die Redezeit beträgt zehn Minuten. Herr Bocklet, Sie haben das Wort für die GRÜNEN. Bitte sehr.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über die Antwort der Landesregierung zu unserer Großen Anfrage zum Thema Armut in Hessen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Antwort verdeutlicht ein weiteres Mal, dass dieses Land keine weiteren fünf Jahre eine solche konzeptionslose Sozialpolitik erträgt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben drei Initiativen zu einer Armutsberichterstattung eingeleitet. Jedes Mal wurden die Anträge mit der Begründung abgelehnt, es lägen umfangreich Daten vor. Ich komme darauf zurück.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Armutsbekämpfung ist eine der größten Herausforderungen an die Politik. Auch in einem wohlhabenden Land wie Hessen gibt es Armut. Armut widerspricht nicht nur dem verfassungsrechtlichen Gebot des Sozialstaates, sie gefährdet die Grundlagen unserer demokratischen Grundordnung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Die Vorbeugung und Bekämpfung von Armut muss daher ein entscheidendes Handlungsfeld einer Landesregierung sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, alle Signale, die diese CDU-Landesregierung mit dieser Antwort sendet, erwecken nicht den Eindruck, diesem Anspruch gerecht zu werden. Im Gegenteil, der Landesregierung scheint es förmlich egal zu sein,wie sich die Situation konkret entwickelt. Aus dieser Antwort ist kein anderer Eindruck zu entnehmen.

Was ist der Sinn einer Armuts- oder Sozialberichterstattung? Eine moderne vorausschauende Sozialpolitik. Armut zu erfassen und zu untersuchen, um so passgenaue Lösungen der Armutsbekämpfung einsetzen zu können, ist eine längst überfällige Aufgabe des Landes. Nur mit einem Armuts- oder Sozialbericht lassen sich klare Analysen der Lebenslagen von Risikogruppen vornehmen, Entscheidungsgrundlagen für eine wirksame Bekämpfung

und eine vorausschauende Sozialpolitik gegen Armutslagen und soziale Ausgrenzung vornehmen. Gerade angesichts der aktuellen Veränderungen in der Erwerbsarbeit, in den Familienstrukturen oder in der demographischen Entwicklung ist eine solche Berichterstattung unabdingbar.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, aber was ist Realität? Hessen leistet sich den zynischen Luxus, noch immer keinen Armuts- oder Reichtumsbericht zu erstellen. Die seit 1999 regierende CDU-Landesregierung hat in diesem Bereich auf voller Breite versagt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich will hinzufügen,dass wir von Bundesländern umgeben sind – im Gegensatz zum Thema Studiengebühren –, die alle eine Armutsberichterstattung haben, ob RheinlandPfalz, ob Bayern, ob Nordrhein-Westfalen. Auch das sind CDU- und CSU-regierte Länder. Das ist ein sozialpolitisches Armutszeugnis dieser Regierung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Schmitt (SPD): Bayern hat auch keine Studiengebühren!)

Es war uns deshalb wichtig,mit dieser Großen Anfrage einen ersten Schritt zu einer Sozialberichterstattung zu machen. Angesichts dieser Antwort müssen wir heute zugeben:Wir sind damit gescheitert.

Wer erinnern uns. Offiziell lautete die Aussage von Frau Lautenschläger im Wortprotokoll vom 14. Juli 2005: Wir brauchen keinen Armuts- und Reichtumsbericht, sondern die Daten liegen umfangreich vor.

Wir haben die Probe aufs Exempel gemacht. Ich glaube, meine Redezeit würde 30 Minuten überschreiten, wenn ich alle Belege vortragen würde. Ich habe einen Auszug dessen gemacht. Wir überspringen also, dass nahezu alle Daten, die uns Frau Lautenschläger vorlegt, aus dem Jahre 2004 stammen – brennend aktuell,drei Jahre alt.Wir überspringen auch, dass die Datengrundlagen dieser Landesregierung schon oft bizarr waren. Ich erinnere unter anderem an eine Drucksache der Arbeiterwohlfahrt. Besonders schön fanden wir als Anlage die 40 Seiten – schauen Sie sich es bitte an –, kopiert aus „Politik und Zeitgeschichte“ als Anlage einer Armutsberichterstattung zu Fragen nach Armut in Hessen.

(Norbert Schmitt (SPD): Ziemlich armselig!)

Das ist schon eine sehr bizarre, nennen wir es subwissenschaftliche Art der Armutsberichterstattung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Was konnte nicht beantwortet werden? Das ist das eigentlich Spannende. Über 20 Fragen konnten überhaupt nicht beantwortet werden. Selbst wortreiche Umschreibungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Landesregierung gar keine Antwort auf folgende Frage hat: nach verdeckter Armut. Sie wissen, das sind Menschen, die ein Recht auf Sozialhilfe oder soziale Transferleistungen haben, sie aber nicht in Anspruch nehmen. Sie wissen, dass es in Deutschland 1,8 Millionen Menschen gibt, die unter verdeckter Armut leiden. In Hessen gibt es dazu keine Zahlen. Wir wissen nichts zu verdeckter Armut in Hessen. Aber es gibt offensichtlich eine umfang

reiche Datenlage, wie Frau Lautenschläger noch im Juli 2005 behauptet hat.

Zu extremer Armut in Hessen gibt es keine Zahlen. Sie können die Seiten 12 bis 52 aufschlagen. Dort gibt es keine Zahlen. Noch blamabler ist allerdings die Definition. Die Hessische Landesregierung sagt zum Thema extreme Armut: Extrem arm sind Menschen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen. – Ein Sechstel der Weltbevölkerung gilt als extrem arm. In Hessen sind keine Fälle von extremer Armut bekannt. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist eine Definition vom letzten Jahrhundert.

Ich darf Ihnen auf die Sprünge helfen.Als extrem arm gelten Personen, die einen minimalen Lebensstandard deutlich unterschreiten und nicht in der Lage sind, sich aus eigener Kraft aus dieser Lebenslage zu befreien. Das deutliche Unterschreiten von Minimalstandards nennt man extreme Armut.Auslöser von extremer Armut ist Eintritt kritischer Lebenssituationen. Als kleine Nachhilfe: In Deutschland gibt es 310.000 Menschen,die als extrem arm gelten. In Hessen niemand? Wir wissen, dass es in Deutschland 7.000 Straßenkinder gibt, die unter extremer Armut leiden.In Hessen niemand? Sie definieren die Problemlage weg. Wir finden das unglaublich. Das ist unglaublich skandalös.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wir haben gefragt, wie die Situation von Familien in Armut ist.Antwort:Eine statistische Erhebung von Armut in Familien findet in Hessen nicht statt.

Wir haben zum Thema Arbeitslosigkeit gefragt, ob es Daten zur Grundsicherung Arbeitsuchender gibt. Zitat Lautenschläger 2005: Wir haben Visitenkarten erstellt. Wir wollen schauen, wie die Mittel fließen.Was bewirken sie? Wie kann man damit umgehen? – Wo sind denn Ihre Visitenkarten? Soziodemografisch gegliederte Daten zur Grundsicherung für Arbeitsuchende liegen nicht vor. „Sie werden nicht erhoben.“ „Wir haben sie im Moment nicht.“ Stereotype Antworten. Frau Sorge würde sagen: Das war nichts als Geblubber. – Sie haben keine Ahnung, was in dieser Situation passiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben nach Zahlen zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Armut in Hessen gefragt.Antwort: Landesspezifische Daten liegen nicht vor.

Besonderes Highlight allerdings war die Antwort auf die Frage von Armut und Bildung. Ich darf zitieren:

Ein Zusammenhang zwischen Bildungsarmut und sozialer Armut wird allgemein angenommen, ist aber bislang noch nicht ausreichend wissenschaftlich belegt und muss daher noch gründlicher erforscht werden.

Interessant.

(Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Nur in Hessen nicht!)

„In welchem Maße partizipieren in Armut lebende Jugendliche und junge Erwachsene in Hessen an höheren Bildungsangeboten?“, haben wir gefragt. Oder: „Wie viele Jugendliche aus armen Familien machen Abitur, und wie viele nehmen ein Studium auf?“ Die Antwort war:

Zu den Fragen 4 und 5 werden keine gesonderten Daten erhoben.

Achtung, jetzt kommt es:

Bei der Abiturprüfung spielt das eigene Einkommen oder das der Eltern keine Rolle, da diese Prüfung kostenfrei ist.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der SPD)

Das ist ein Stück aus dem Tollhaus. Zwischen Bildung und Armut besteht ein Zusammenhang, und Sie negieren das. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist geradezu lächerlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Norbert Schmitt (SPD): Ich traue denen auch noch zu, dass die Abi-Gebühren einführen!)