Protokoll der Sitzung vom 05.07.2007

Ich will deshalb im Folgenden nicht im Detail auf den Text eingehen, sondern einige Punkte ansprechen, die zwischen den Fraktionen in der Beurteilung durchaus unterschiedlich waren. Ich glaube, das sollte man hier tun.

Die erste Bemerkung bezieht sich auf die Frage der Geburtenrate.Was wir nicht brauchen, ist der Ruf nach mehr Kindern.Wir brauchen den Ruf danach, dass jede und jeder die Kinder bekommen soll, die sie und er möchte.

(Beifall bei der SPD)

Denn wir reden in der Frage der sinkenden Geburtenrate über den Effekt einer fundamentalen zivilisatorischen Leistung, weil Frauen über ihren Körper und die Zahl der Kinder, die sie bekommen möchten, selbst bestimmen dürfen. Deswegen gibt es auch eine geringere, nämlich eine selbst bestimmte Geburtenrate. Länder, in denen die Geburtenrate noch weitaus höher ist, sind in der Regel solche, die auf diesem Weg noch etwas zu leisten haben.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Meine Damen und Herren,eine zweite Bemerkung – vielleicht sollten wir an dieser Stelle den Blick ein bisschen über die Grenzen des wunderschönen Hessenlandes hinausrichten –: Würde es gelingen, weltweit eine Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau zu erreichen, dann würde die Bevölkerung der Erde bis zum Jahr 2050 nur auf 7,7 Milliarden Menschen ansteigen. Das ist eine Zahl, die nur mit Mühe zu erfassen ist.

Aber lassen Sie mich gleich sagen:Wenn sich an der weltweiten Geburtenrate nichts ändert, endet die Zahl bei weit über 10 Milliarden Menschen. Man muss sich klarmachen: Wenn wir uns so ernähren, wie Amerikaner sich ernähren,reicht es nur für 2,5 Milliarden Menschen.Wenn wir uns wie Europäer ernähren, können wir vielleicht 5 Milliarden Menschen ernähren, aber viel mehr werden es nicht sein.

Meine Damen und Herren, die heutige Geburtenrate zu beklagen ist möglicherweise der falsche Ansatz. Tatsächlich haben wir ein Stadium nachhaltiger Bevölkerungsentwicklung erreicht, das an vielen Stellen dieser Erde noch zu erreichen ist.

Lassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen, der die Beeinflussung des demografischen Wandels angeht, nämlich die Frage der Migration und Integration. Ich für meinen Teil glaube,dass wir uns,wenn wir in langfristigen Perspektiven denken, klarmachen müssen, dass Integration nicht Assimilation und Sprachkurse heißt, sondern dass Integration eine gemeinsame Leistung aller daran Beteiligten ist.

Und der Anspruch an Integrationsleistungen muss sich besonders stark an diejenigen richten, die sie am besten bringen und die am stärksten dazu beitragen können. Die Stärksten aber in der Frage der Integration sind diejenigen, die schon da sind, nicht diejenigen, die eine Veränderung und eine Bewegung hinter sich haben. Integration bedeutet, dass vor allen Dingen wir, die wir schon da waren, einen besonderen Beitrag dazu leisten müssten, das friedliche Zusammenleben in den Griff zu bekommen.

Meine Damen und Herren, demografischer Wandel betrifft, auch das war eine Erkenntnis dieser Enquete, ganz besonders die Landes- und Kommunalpolitik weit mehr als möglicherweise bundespolitische Ebenen. Lassen Sie mich das in einem Wort zusammenfassen.Wir können da

für ein Akronym finden.Wenn wir „BINGO“ zum demografischen Wandel begriffen haben, werden wir unter diesem Akronym alle Fragen lösen, um die es geht, nämlich um Bildung, Infrastruktur, Nachhaltigkeit, gerechte Verteilung und die Organisation des Zusammenlebens.

Bildung ist die wichtigste Investition in die Zukunft. Das sagen wir alle. Aber sie ist vor allen Dingen der größte Schatz, den wir unseren Kindern mitgeben können.Wenn die Generation, die heute heranwächst, in der Lage sein soll, die Probleme, die wir bereiten, falsch: das Problem, das wir – mit „wir“ meine ich insbesondere die geburtenstarken Jahrgänge – bedeuten werden, zu lösen, geht das nur über optimale Bildung.

Sie müssen das Handwerkszeug in der Hand haben, mit dem man das bestreiten kann. Das heißt, wir müssen die Kinder ins Zentrum der Betrachtung stellen. Wir müssen vor allem höllisch aufpassen, keines unterwegs zu verlieren. Wir müssen uns an den Kindern orientieren. Wir brauchen eine hohe Durchlässigkeit. Wir brauchen viel mehr Weiterbildung, um Kompetenzen im Lebenslauf zu erhalten.

An dieser Stelle kommt dann auch die Tagespolitik ins Spiel. Wenn wir von der nächsten Generation verlangen, dass sie die Qualifikationen, die sie braucht, durch Studiengebühren selbst bezahlt, kann man an dieser Stelle durchaus auch eine pekuniäre Kategorie von Generationengerechtigkeit ins Spiel bringen.

Meine Damen und Herren, die zweite Ebene betrifft die Frage der Infrastruktur. Das ist etwas, was wir hinterlassen werden. Die Infrastruktur, die wir heute in Ordnung bringen, ist die, die in den nächsten 30, 40 Jahren zur Verfügung stehen wird und die man wird benutzen können. Im Jahr der Oderflut gab es einen breiten Konsens, auf Steuererleichterungen zu verzichten, um eine Aufgabe, die jetzt bestand, auch jetzt gemeinsam zu lösen. Da ging es um Strukturen, die repariert werden mussten.

Genau diese Verpflichtung haben auch wir:heute dafür zu sorgen,dass die Infrastruktur,die den Herausforderungen des demografischen Wandels gewachsen ist, heute bereitgestellt und finanziert wird. Da geht es um eine Menge Veränderungen. Stellen wir uns ausgedünnte Landstriche vor, neue notwendige Wasserrohre und Stromleitungen usw.

Wir sollten im Umgang mit dem Verkauf öffentlichen Eigentums gerade im Hinblick auf den demografischen Wandel und auf die Frage, dass die nächste Generation Steuerungsfähigkeit und Entscheidungsspielräume erhält, außerordentlich zurückhaltend sein. Denn was dem Staat nicht mehr gehört, kann auch nicht mehr von allen gemeinsam organisiert werden.Was in Privateigentum ist, kann auch nicht über 30 Jahre in die Zukunft gedacht werden. So lange hält kein Kredit.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die dritte Kategorie, das „N“, ist die Nachhaltigkeit.An dieser Stelle sind wir gefordert, in Fragen des Umgangs mit der Umwelt, mit den natürlichen Ressourcen und – das Thema ist in aller Munde – mit der Energiewirtschaft außerordentlich zurückhaltend zu sein. Es gibt keine Entschuldigung dafür, der nächsten Generation einen kochenden oder strahlenden Planeten zu hinterlassen. Es ist an der Zeit, weil wir in Kategorien des gerechten Umgangs mit nachfolgenden Generationen adäquat agieren müssen, dass wir heute und nicht erst morgen oder übermorgen den konsequenten Umstieg auf

erneuerbare Energien, auf nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen schaffen.

Ein vierter Aspekt, der vielleicht ein bisschen schwieriger zu fassen ist, ist die Frage nach demografischer Entwicklung und gerechter Verteilung. Ich will einen Punkt ansprechen, den wir als selbstverständlich annehmen und der keineswegs selbstverständlich ist.Das ist die steigende Lebenserwartung. Wir rechnen in all den Betrachtungen mit einer kontinuierlichen Steigerung der Lebenserwartung und verkennen völlig, dass wir schon heute zwischen Arm und Reich einen Unterschied von acht Jahren Lebenserwartung haben und dass diese Diskrepanz eher wachsen denn sinken wird.

Das lässt sich erkennen, wenn man sich anschaut, wie gerade Jüngere heute aufwachsen.Die Forderung,dass „länger leben“ für alle nicht nur „länger leben“, sondern auch „gut länger leben“ bedeuten muss,sollte Konsens sein und bedarf intensivster Bemühungen, um die Nachteile, die sich aus sozialen Unterschieden ergeben, auszugleichen.

Auch das ist etwas, wofür man in Generationen denkt. Denn die Fehler, die wir heute im Umgang mit der nachwachsenden Generation machen, werden wir noch generationenlang erleben.Dazu gehört aber genauso die Frage des gerechten Lastenausgleichs, und zwar zwischen den Menschen, zwischen den Regionen und innerhalb Hessens. Wir werden ganz neue Kategorien finden müssen, wie wir sicherstellen, dass an allen Orten in Hessen vergleichbare Lebensbedingungen bestehen bleiben – auch unter den Bedingungen des demografischen Wandels.

(Michael Siebel (SPD): Sehr gut!)

Gerade auch unter den Herausforderungen, die in den Investitionen und in der Bereitstellung von Strukturen liegen, haben wir noch viel zu tun.

Zur Frage der Gerechtigkeit gehört, wenn wir über demografischen Wandel, über Geburtenentwicklung und über Kinderzahlen reden, auch die Geschlechtergerechtigkeit. Lassen Sie mich das an dieser Stelle noch einmal sagen. Wir rechnen immer in „Kinder pro Frau“. Unser Problem sind aber die Kinder pro Mann.

(Beifall der Abg.Andrea Ypsilanti,Sabine Waschke (SPD) und Nicola Beer (FDP) – Michael Siebel (SPD):Da klatsche ich jetzt nicht! Das stimmt zwar, aber da muss ich nicht klatschen! Immer sollen wir schuld sein!)

Das hat etwas mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun.

Lassen Sie mich als Letztes die Organisation des Zusammenlebens ansprechen.Dazu gehört das Stichwort Integration. Dazu gehören aber vor allen Dingen lebende, lebendige, stabile und gepflegte soziale Strukturen.

Der demografische Wandel verlangt den vorsorgenden und die Zukunft im Blick habenden Staat. Dieser Staat ist vor allen Dingen ein vorsorgender Sozialstaat, der dafür sorgt, dass wir alle unterwegs an Bord behalten. Er schafft stabile Strukturen, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt.

Auch das ist eine Frage der Organisation des Zusammenlebens: Der Staat betrachtet das bürgerschaftliche Engagement nicht als Lückenbüßer für all das, für das wir kein Geld mehr ausgeben wollen.Vielmehr begreift er das bürgerschaftliche Engagement als eine Form der Teilhabe und der Beteiligung.

Das gilt ganz besonders für die Generation, die neu entsteht, nämlich die des dritten Lebensalters. Das sind diejenigen Menschen, die nicht mehr arbeiten müssen und noch nicht alt sind. Wie bereits gesagt: Es geht nicht nur darum, länger zu leben. Es geht darum, gut länger zu leben.

Herr Kollege Dr. Spies, ich darf Sie bitten, zum Schluss Ihrer Rede zu kommen.

Ein solcher Ansatz lässt sich in einem optimistischen Satz zusammenfassen – er stellt auch die Antwort auf die Behauptung all derjenigen dar,die uns das Methusalemkomplott oder den Krieg der Generationen einreden wollen –: Lassen wir uns nicht kirre machen. – Die Politik schafft und organisiert das gute und friedliche Zusammenleben. Der demografische Wandel macht uns klar, dass wir heute in Kategorien von Jahrzehnten denken müssen, damit wir die Zukunft angemessen organisieren. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Sigrid Erfurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Herr Kollege Dr. Spies, vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Frau Schulz-Asche. Sie spricht für die Fraktion BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wir werden älter, weniger und bunter, das war das Motto der Enquetekommission. Dieses Motto zeigt, dass wir alle ganz fest davon überzeugt sind, dass der demografische Wandel positiv gestaltet werden kann und dass es jetzt an der Zeit ist, dass sich Politik, die Gesellschaft und die Bürgerinnen und Bürger daranmachen,die Probleme zu beseitigen und positiv in die Zukunft zu schauen.

Dafür, dass wir diese Atmosphäre hatten, möchte ich ganz herzlich meinen Kolleginnen und Kollegen in der Enquetekommission danken. Das wurde schon angesprochen: Auch ich möchte vor allem Herrn Dr. Müller danken,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

der mit seiner Art der Leitung der Enquetekommission wesentlich dazu beigetragen hat, dass wir oft viel gelacht haben und dass wir über große politische Unterschiede in einer Art und Weise diskutiert haben, von der ich denke, wenn mehr Leute bei den öffentlichen Sitzungen anwesend gewesen wären, hätte das das Bild der Politik positiv beeinflusst.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Genau!)

Von daher ist es schade, dass das öffentliche Interesse so gering war.

(Beifall der Abg.Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Ich möchte der Landtagsverwaltung und hier insbesondere Frau Dr. Lindemann danken.

(Beifall)

Sie hat uns während fast aller Phasen begleitet.Sie hat das Thema Geburtenrate so ernst genommen, dass sie während dieser Zeit gleich auch noch Mutter wurde.

(Heiterkeit der Abg. Sigrid Erfurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Auch mit ihr hat es eine sehr gute Zusammenarbeit gegeben.

Ich möchte der Staatskanzlei und dem Statistischen Landesamt danken. Ich möchte aber auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus den Ministerien danken, die gekommen sind und an den Sitzungen teilgenommen haben. Sie haben uns zugearbeitet.

Ich möchte auch den Experten aller Fraktionen danken. Die fachlichen Inputs,die wir erhalten haben,waren meist interessant.