Protokoll der Sitzung vom 27.09.2007

Bei den christlichen Kirchen ist die Sichtweise natürlich geprägt von der Gefängnisseelsorge, von der ehrenamtlichen und der hauptamtlichen kirchlichen Straffälligenhilfe und der kirchlichen Jugendarbeit. Gerade diesen Blick von außen auf den Vollzug sollten Sie ernster nehmen, als Sie das bisher getan haben, und ihn nicht vollständig ignorieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Beeindruckend fand ich persönlich im Übrigen– das ging anderen wahrscheinlich auch so – die Stellungnahme der beiden Jugendrichterinnen aus Marburg, die wir eingeladen hatten. Sie haben sehr eindrucksvoll ihr Bemühen geschildert, junge Menschen, die nicht gelernt haben, sich bestimmten Regeln zu fügen – das ist das Hauptproblem –, an ein Leben unter Achtung solcher Regeln heranzuführen.

Sie haben ausdrücklich gesagt, ihnen wäre es sehr recht, wenn sie noch differenziertere Möglichkeiten hätten, als die Jugendlichen entweder in Freiheit zu lassen oder sie in den geschlossenen Vollzug zu schicken. Aus ihrer Sicht wäre es auf jeden Fall notwendig, mehr Plätze im offenen Vollzug vorzuhalten. Herr Gerling, das haben auch alle Praktiker gesagt, auch diejenigen, die, wie Sie völlig zu Recht gesagt haben, dem geschlossenen Vollzug im Prinzip den Vorrang geben. Selbst die haben gesagt: In Hessen gibt es für Jugendgefangene zu wenige Plätze im offenen Vollzug.

Ich darf daran erinnern – das wurde auch während der Anhörung noch einmal gesagt –: Nicht einmal 2 % der jugendlichen Strafgefangenen befinden sich in Hessen im offenen Vollzug. In manchen Jahren ist es sogar nur 1 %. In Niedersachsen sind es mehr als 17 %. In NordrheinWestfalen sind es mehr als 21 %. Kein Mensch glaubt, dass sich in den anderen Ländern die für den offenen Vollzug geeigneten und nur in Hessen die ungeeigneten Jugendgefangenen in Jugendhaft befinden.

Hinsichtlich der Frage offener oder geschlossener Vollzug geht die Landesregierung noch weit über das hinaus, was sie an und für sich mit ihrem Gesetzentwurf vorhat. Sie sagt, der geschlossene Vollzug solle die Regel sein. Nach der von Ihnen vorgesehenen Regelung wird der geschlossene Vollzug aber faktisch die einzige Strafvollzugsform sein, die Sie bei jungen Gefangenen vorsehen, die erstmals in Haft kommen. Nach Ihrem Gesetzentwurf wird es überhaupt nur möglich sein, während des geschlossenen Vollzugs die Bewährung für den offenen Vollzug zu erlangen. Nach Ihrem Gesetzentwurf müsste also jeder zunächst einmal zwingend in den geschlossenen Vollzug, ohne dass es die Möglichkeit geben würde, von Anfang an im offenen Vollzug untergebracht zu werden.

Das ist in den anderen Ländern ganz anders. Uns wurde geschildert, dass das sogar in Bayern anders ist. Sogar in Bayern ist die Möglichkeit vorgesehen, dass Erstverbüßer von Anfang an in den offenen Vollzug kommen.

Herr Gerling, ich sage Ihnen das, so glaube ich, zum 25. Mal. Ich werde nicht müde, es Ihnen zu sagen. Der offene

Vollzug bedeutet nicht, dass die jungen Gefangenen draußen frei herumlaufen.In der Justizvollzugsanstalt Rosdorf – das ist eine Anstalt des offenen Jugendstrafvollzugs – bekommen die jugendlichen Gefangenen in der Regel erstmals nach Ablauf von vier Monaten die Möglichkeit, unbegleiteten Ausgang zu haben.Offener Strafvollzug bedeutet nicht Freigang. Ich wollte das wieder einmal vollkommen klarstellen.

Wir haben in der Anhörung auch die Vermischung des Erziehungsziels mit dem Ziel der Sicherheit für die Allgemeinheit erörtert. Das ist bei vielen Sachverständigen auf erhebliche Kritik gestoßen. In der Tat wurde während der Anhörung ausdrücklich die Auffassung vertreten, dass die Formulierung, die die Landesregierung gewählt hat, nicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Danach muss nämlich in der Tat die Resozialisierung alleiniges Ziel im Jugendstrafvollzug sein. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass es da keinen Widerspruch zur Sicherheit gibt. Den gibt es auch nicht. Denn die größte Sicherheit erzielt man natürlich mit einer erfolgreichen Resozialisierung. Deshalb ist es aus Sicht der meisten, die Stellung genommen haben, nicht sinnvoll, das in das Gesetz hineinzuschreiben und damit den Auftrag zur Resozialisierung zu relativieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Auch der von Ihnen vorgesehene Arrest als Disziplinarmaßnahme wurde von den Sachverständigen, die sich dazu geäußert haben, rundweg abgelehnt. Eine isolierte Einzelunterbringung wie der Arrest verstößt gegen die Regeln der Vereinten Nationen zum Schutze der Jugendlichen in Freiheitsentzug. Wir haben das immer gesagt. Wir sehen in unserem Gesetzentwurf den Arrest nicht als Disziplinarmaßnahme vor.Wir sehen uns hierin durch die Anhörung bestätigt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass der Empfang von Paketen mit Nahrungs- und Genussmitteln für die Jugendgefangenen grundsätzlich ausgeschlossen ist. Auch das ist eine Regelung, die von den Sachverständigen erheblich kritisiert wurde. Die Kirchen schlagen z. B. vor, zumindest den Empfang von Paketen zu Weihnachten, zu Ostern und zum Geburtstag zu ermöglichen, wenn an diesen Tagen kein Ausgang gewährt wird.

Andere Sachverständige haben, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen,dass die Einkaufsmöglichkeiten beim Kiosk der Anstalt nicht den Lieblingskuchen von der Oma, die Lieblingsschokolade oder eine besondere, immer gern gegessene Wurst ersetzen können.Es kann sogar erhebliche resozialisierende Wirkung haben, wenn Angehörige, Freunde oder wer auch immer mit kleinen Aufmerksamkeiten in einem kleinen Paket die Brücke nach außen für hoffentlich bessere Tage aufrechterhalten. Dies kann erheblich zur Stabilisierung der jungen Gefangenen beitragen.

Diese Chance wollen Sie drangeben, nur um einen gewissen Kontrollaufwand einzusparen, der natürlich mit diesen Paketen verbunden ist. Das ist aus unserer Sicht nicht sinnvoll. Ein Sachverständiger hat dazu gesagt: Das ist gegenüber den jugendlichen Gefangenen geradezu kleinlich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Gleiche gilt auch für die Möglichkeiten, im Vollzug – natürlich unter Aufsicht – Computer zu nutzen, E-Mails zu schreiben oder zu empfangen sowie gegebenenfalls auch Spielkonsolen zu nutzen. Wenn das richtig ist, was wir beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt diskutiert haben, dass nämlich die Nutzung der neuen Medien bei den Jugendlichen heutzutage etwas völlig Selbstverständliches ist, dann werden Sie mit deren vollkommenem Ausschluss im Jugendstrafvollzug eine Scheinwelt schaffen, die mit dem, was die Jugendlichen vorher draußen erlebt haben und hinterher erleben werden, nichts zu tun hat. Mir ist völlig unklar, wie Sie dann wirkungsvoll resozialisieren wollen.

Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Kritikpunkte, die ich wegen der Kürze der Redezeit jetzt nicht erläutern kann.Wir werden die Gelegenheit der dritten Lesung nutzen, Änderungsvorschläge zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung einzubringen.

Wir werden bis zuletzt für ein Hessisches Jugendstrafvollzugsgesetz kämpfen, das von ideologischen Blockaden frei ist, das den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht und mit dem ein wirklich moderner Jugendstrafvollzug gestaltet werden kann. – Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank. – Die nächste Wortmeldung stammt von Frau Abg. Faeser. Sie spricht für die Fraktion der SPD.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit der zweiten Lesung von vier Gesetzentwürfen zum Jugendstrafvollzug. In allen vier Gesetzentwürfen steht das Ziel der Erziehung an erster Stelle.Es geht um das Fordern und Fördern junger Menschen.

Das schlägt auch eine Brücke zum materiellen Recht. Denn schon bei der Bemessung der Höhe und der Auswahl der Freiheitsstrafe geht es um die Erziehung. Deshalb wollen wir mit dem § 71 unseres Gesetzentwurfs umfassende Möglichkeiten der schulischen und beruflichen Aus- und Fortbildung schaffen.

Die inhaltliche Ausgestaltung des Strafvollzugs für jugendliche und heranwachsende Straftäter unterliegt besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen,die vom Verfassungsgericht ausdrücklich normiert wurden. Daran orientiert sich unser Gesetzentwurf. Meine Damen und Herren, es wird Sie deshalb nicht wundern, dass wir Ihnen heute empfehlen, ihn zu unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Ziel der Vorbereitung auf ein künftig straffreies Leben Verfassungsrang eingeräumt und seine Bedeutung hervorgehoben. Herr Kollege Dr.Jürgens hat es gesagt:Die Anhörung hat diese Auffassung noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Herr Kollege Hahn, deshalb freuen wir uns auch sehr über den Änderungsantrag der FDP. Wir haben es hier schon in mehreren Debatten erläutert: Nur das Ziel der Resozialisierung hat Verfassungsrang. – Die FDP will ihren Gesetzentwurf jetzt dahin gehend geändert sehen.Sie hat ihn

damit verbessert. Sie will mit einem gesonderten Paragrafen dieses Ziel ihrem Gesetzentwurf vorangestellt sehen.

Deswegen haben wir das auch während der Ausschusssitzung unterstützt. Herr Kollege Hahn, vielleicht haben Sie mit uns gemeinsam die Hoffnung, dass die Mitglieder der CDU-Fraktion das bis zur dritten Lesung auch noch verstehen und auch sie die entsprechenden Änderungen einbringen.

Im Vorgriff auf die Rede des Justizministers sage ich: Es geht dabei gerade nicht um Ideologie. Wir alle wollen die Sicherheit der Bevölkerung gewährleistet sehen.Aber das ist im Strafvollzug eine Selbstverständlichkeit und kein Ziel mit Verfassungsrang. Darin besteht der qualitative Unterschied.

Wir haben uns alle miteinander mit den Gesetzentwürfen größte Mühe gegeben, weil wir uns alle bewusst sind, dass wir bei den jugendlichen Straftätern eine Rückfallquote von nahezu 80 % haben. Diese gilt es in jedem Fall zu verringern. Das Risiko erneuter Auffälligkeiten und eventuell sogar erneuter Inhaftierung hängt neben den Rahmenbedingungen im Strafvollzug entscheidend von der Vorbereitung auf die Entlassung und von den Bedingungen ab, die für einen Gefangenen beim Übergang in die Freiheit konkret bestehen.

Deshalb sind die Außenkontakte und die Öffnung des Strafvollzugs sehr wichtig.Das hat die Anhörung sehr eindrucksvoll bewiesen. Dies haben sowohl Herr Prof. Michael Walter als auch der Vertreter des Arxhofs nachdrücklich bestätigt. Dieser Auffassung haben im Übrigen auch die Praktiker des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschland und von ver.di zugestimmt.

Erforderlich ist ferner die Zusammenarbeit mit den Personen und Organisationen, die künftig mit den Gefangenen in Verbindung stehen und die entsprechende Verantwortung tragen. Da sind unsere Nachbarbundesländer, aber auch das europäische Ausland, weiter als wir in Hessen. Dort gibt es schon seit Längerem Koordinierungsstellen und Betreuungspersonal, die das gewährleisten. Da müssen wir in Hessen einfach noch nachlegen.

Ein weiteres Problem,das wir alle miteinander noch lösen müssen – das betrifft auch die Gesetzgebung für den Jugendstrafvollzug –, ist die erhöhte Gewaltbereitschaft in den Jugendgefängnissen. Sie ist exorbitant höher als im Erwachsenenstrafvollzug. Deshalb gilt es, auch diesem Phänomen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Gerade hier in Hessen hatten wir in den letzten zwei Monaten zwei extreme Vorfälle. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Scheinhinrichtung im Wiesbadener Gefängnis. Außerdem erinnere ich an den Vorfall in der Justizvollzugsanstalt Rockenberg.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dabei ist zunächst die Einzelunterbringung der Gefangenen entscheidend. Das sehen auch alle Gesetzentwürfe vor. Aber jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Unterschied.Man muss weiterdenken und sich fragen,wie man die Gewalttaten in den Gefängnissen reduzieren kann. Lieber Herr Gerling, das geht mit Sicherheit nicht mit Überwachungskameras in den Aufenthaltsräumen.

(Beifall bei der SPD – Michael Boddenberg (CDU):Warum nicht?)

Hier kommt der von uns vorgesehene Vorrang des offenen Vollzugs als Regelvollzug ins Spiel. Experten führen hier nämlich immer wieder die negativen Erfahrungen an,

die die Jugendlichen erst im Strafvollzug erlangen. Das kann schlimmstenfalls zu einer Steigerung der Straftaten und zu einer erhöhten Rückfallquote führen.Wenn die Jugendlichen,die für den offenen Strafvollzug geeignet sind, diese negativen Erfahrungen erst gar nicht machen,ist das schon ein Erfolg.

Ich sage es ausdrücklich: Der offene Strafvollzug meint nicht, dass die Gefangenen draußen herumlaufen. Das ist ausdrücklich nicht in der Art gemeint, wie es in Hessen früher üblich war.

(Minister Stefan Grüttner: Früher, unter Rot-Grün war das so!)

Herr Grüttner, das war auch noch während Ihrer Regierungszeit so. – Damals waren die Strafgefangenen in der Schule oder in der Ausbildung. Jetzt sollen sie in Einrichtungen sein, die sie nicht verlassen dürfen. Aber es gibt dort eben keine Mauern und keine Subkultur,die die Karrieren jugendlicher Straftäter eher befördern.

Wir meinen, es sollte viel mehr Einrichtungen wie etwa den Arxhof in der Schweiz geben. Ebenso wie der Justizminister haben sich die Fachpolitiker der SPD diese Einrichtung kürzlich angesehen. Wir sind davon überzeugt: Dort wird mit den jungen Straftätern intensiv gearbeitet. Sie werden mit ihrer Straftat konfrontiert. Es wird ein sehr hohes Maß an Disziplin eingefordert. Ich sage einmal, wie es in der Praxis dort tatsächlich ist: Dort ist es für die Gefangenen anstrengender als in Vollzugsanstalten, die mit Mauern umgeben sind, wo man die Jugendlichen sich selber überlässt.

(Beifall bei der SPD)

Das ist Tatsache. Sie laufen gerade nicht draußen herum, wie Sie gerne behaupten, sondern sie leben in der Einrichtung und dürfen in den ersten Monaten gar nicht heraus. Wenn sie später heraus dürfen, dann nur begleitet. Hören Sie auf mit den Ammenmärchen, wir wollten dafür sorgen, dass jugendliche Straftäter draußen herumlaufen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie können sich von dem Erfolg dieser Einrichtung überzeugen.Kürzlich haben die „Frankfurter Rundschau“,der „Wiesbadener Kurier“ und der „Deutsche Depeschendienst“ den Arxhof in ihrer Berichterstattung als Einrichtung ausdrücklich hervorgehoben.

Natürlich bedeutet eine solche Form des Vollzugs mehr Personal. Darüber sind wir uns einig. Herr Justizminister, dafür reicht es nicht, 25 Sozialpädagogen einzustellen, wie Sie es im Haushalt vorgesehen haben, denn die „gefährlichen“ Zeiten, in denen die meisten Gewalttaten passieren, sind die Wochenenden und die Abendstunden. Dann sind die Sozialpädagogen aber nicht mehr in den Anstalten, weil sie eine Arbeitszeit von 8 bis 16 Uhr haben. Das heißt, man muss die Zahl der Beschäftigten im allgemeinen Vollzugsdienst erhöhen. Das hat auch die Anhörung ergeben.

(Peter Beuth (CDU): Das stimmt doch nicht! Das ist ein Märchen!)

Von den Vertretern des BSBD und von ver.di wurde Ihnen gesagt, dass eine Erhöhung des Personals im allgemeinen Vollzugsdienst gerade deshalb dringend erforderlich ist.