Protokoll der Sitzung vom 25.11.2004

Der Gesetzentwurf war dem Sozialpolitischen Ausschuss in der 45. Plenarsitzung am 15. September 2004 nach der ersten Lesung zur Vorbereitung der zweiten Lesung überwiesen worden.

Der Sozialpolitische Ausschuss hat zu dem Gesetzentwurf und dem Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucks. 16/1746, am 30. September 2004 eine öffentliche Anhörung betroffener Verbände und Organisationen durchgeführt.

Der Sozialpolitische Ausschuss hat den Gesetzentwurf in seiner Sitzung am 18. November 2004 behandelt und ist mit den Stimmen der CDU gegen die Stimmen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Enthaltung der FDP zu dem zuvor genannten Votum gelangt.

Herr Dr. Spies, vielen Dank. – Ich eröffne die Aussprache. Es ist eine Redezeit von zehn Minuten je Fraktion vereinbart. Das Wort hat Herr Dr. Spies für die Fraktion der SPD.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der vorangegangene Bericht ist in Wahrheit unvollständig.

(Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU): Warum tragen Sie ihn unvollständig vor? Ich bin entsetzt!)

Wir sollten einmal näher hinblicken. Bereits während die Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses stattfand, wusste die Mehrheitsfraktion, dass dieses Votum nicht so gemeint ist. Nicht mutig genug, die Aktion zu wiederholen, die sich im Gesetzgebungsverfahren zur Schulgesetznovellierung abgespielt hatte, wurde zu Beginn der Behandlung des entsprechenden Tagesordnungspunktes ein neunseitiger Änderungsantrag präsentiert,der dann allerdings formal erst nach der Sitzung eingebracht wurde, damit sich niemand beschweren konnte,dass man ihn auf die Schnelle nicht lesen konnte. Die Union war tatsächlich allen Ernstes der Auffassung, das sei ein Akt besonderer Freundlichkeit.

Das ist nicht die angemessene Ernsthaftigkeit, die man im Umgang sowohl mit dem Gegenstand des Gesetzentwurfs wie auch mit dem Gesetzgeber zeigen sollte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN))

Sie deklassieren die Gesetzesberatung im Ausschuss und im Plenum des Parlaments zu einer Formalie,die eben nur der Form halber zu beachten ist. Offenkundig wollen Sie dem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form gar nicht zustimmen. Ihr Änderungsantrag liegt auf dem Tisch.Wie

Sie demonstriert haben, wussten Sie das schon während der Ausschusssitzung. Meine Damen und Herren, es wäre angemessen gewesen,den Änderungsantrag einzubringen und die Behandlung des Gesetzentwurfs zu vertagen, damit alle Fraktionen das in angemessenem Umfang und in Ruhe beraten können. Dann hätte man in der nächsten Sitzung des Ausschusses das beraten und zu einer Beschlussempfehlung kommen können.

Die einzige einigermaßen nachvollziehbar erscheinende Erklärung für Ihr Verhalten ist, dass Sie offenkundig auf Biegen und Brechen noch in diesem Jahr ein Gleichstellungsgesetz beschlossen haben wollen. Das ist Angesichts des Vorlaufs mehrerer Jahre, die wir hinter uns gebracht haben, wirklich kaum nachvollziehbar. Aber selbst über einen solchen Wunsch hätte man sich sicherlich in Ruhe verständigen können. Solche Spielchen wären also nicht nötig gewesen.

Form und Inhalt stehen immer in einem Zusammenhang. Gerade bei dem Gegenstand dieser Debatte – es geht nämlich darum, wie das Prinzip der Menschenwürde in Hessen auch für Menschen mit Behinderungen verwirklicht werden kann – wäre es angemessen gewesen, auch in der Form mit dem gebotenen Ernst, den die Sache erfordert, vorzugehen.

Ich komme zum Inhalt.Art. 1 Grundgesetz lautet:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Der zweite Satz lautet aber nicht: Sie hat ihre Grenze bei der Vermutung der Landesregierung zur Anwendbarkeit des Konnexitätsprinzips.

(Beifall des Abg. Reinhard Kahl (SPD))

Der zweite Satz lautet nicht: Das gilt für die Länder und den Bund, nicht aber für das Handeln der Kommunen.

(Beifall des Abg. Reinhard Kahl (SPD))

Der zweite Satz lautet nicht: Das gilt für Menschen mit Behinderungen nur dann, wenn es mit keinen Kosten verbunden ist. – Er lautet auch nicht: Das gilt erst dann, wenn Behinderte eine Verletzung dieses Rechts beweisen können.

Nein, der zweite Satz des Art. 1 Grundgesetz lautet:

Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

In Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz heißt es dann:

Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Manchmal muss man sich das ins Gedächtnis rufen. Denn genau darum geht es hier. Es geht um die Konkretisierung des Prinzips der Menschenwürde und nichts weiter.

Die Anhörung des Sozialpolitischen Ausschusses zu den zwei vorliegenden Gesetzentwürfen hat deutlich gemacht, dass insbesondere der Entwurf der Landesregierung dringend einer Nachbesserung bedarf. Das betrifft insbesondere die Wirksamkeit dieses Gesetzes für die Kommunen. Das betrifft vor allen Dingen die Umkehr der Beweislast bei der Vermutung, dass eine Benachteiligung vorliegt. Das betrifft vor allen Dingen die Wahlfreiheit der Eltern hinsichtlich der Frage, ob sie ihr Kind integrativ in einer Regelschule beschulen lassen oder ob sie eine Einrichtung auswählen, die eine besondere Ausrichtung auf Fördermaßnahmen hat.

Leider ist diese Kritik bei den Mitgliedern der Union und der FDP offenkundig nicht angekommen. Alles, was Ihnen dazu einfällt, ist – das können wir aus dem inzwischen vorliegenden Änderungsantrag durchaus erkennen –: Sie wollen den Kommunen gestatten, etwas vereinbaren zu können. – Das ist wahrlich ein „bedeutender“ Fortschritt.

Appelle für barrierefreies Bauen, Appelle für barrierefreie Formulare,Appelle, Menschen mit Rollstühlen nicht an ein paar Treppenstufen scheitern zu lassen, Appelle, dass auch Blinde und Sehbehinderte ein Formular ausfüllen können, ohne die Hilfe Dritter zu benötigen, Appelle dieser Art gab es genug.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir es mit der Gleichstellung der Menschen mit Behinderungen ernst meinen, dann ist es mit der Formulierung „soll“ nicht getan. Wer, aus welchen Gründen auch immer, bis heute noch nicht gehandelt hat, bedarf ganz offenkundig des Nachdrucks, den eine gesetzliche Verpflichtung erzeugt. Deshalb ist es für uns völlig unverständlich und auch nicht nachvollziehbar, dass die Kommunen außen vor bleiben sollen. Es sind doch vor allen Dingen die Kommunen, mit denen die Bürger in Kontakt treten. Es sind die Kommunen, vor deren Türen sie stehen und deren Treppenstufen ihrer Gebäude unüberwindliche Hindernisse werden können. Die Formulare der Kommunen können oft nur mit Augen gelesen werden. Auch die Internetangebote der Kommunen sind häufig nur Sehenden zugänglich. Dieses Gesetz muss also auch für die kommunale Ebene gelten.

Die Regierung hat da ein „schwerwiegendes“ Argument genannt: Das könnte Geld kosten. – Ja, das könnte Geld kosten. Die Würde des Menschen ist nicht umsonst zu haben.

Die Vorstellung der Regierung, dass das Land dann für vermehrte Aufwendungen der Kommunen aufkommen müsste, ist allerdings falsch. Außer den Mitgliedern der Regierung glaubt das niemand. Das Gegenteil ist der Fall. Die Würde des Menschen gilt immer. Denn ein gutes Gleichstellungsgesetz ist nicht mehr und nicht weniger als die Konkretisierung dieses ohnehin bestehenden Auftrags. Deshalb ist der Auftrag auch nicht neu. Demnach greift das Konnexitätsprinzip der Hessischen Verfassung nicht.

Selbst wenn es denn so wäre, dann sollte uns die Würde des Menschen das wert sein. Wir geben viel Geld für Dinge aus, die wahrscheinlich weniger wichtig sind.

Hinsichtlich der Frage Förderung in Sonderschulen oder Aufnahme in Integrationsklassen sind die Zeiten ideologischer Debatten sicherlich vorbei. Den allein selig machenden Weg gibt es nicht. Ich denke aber, es steht außer Frage,dass die Entscheidung,welches der richtige Weg für ein Kind ist, nur individuell getroffen werden kann. Da spielen ganz viele Aspekte eine Rolle. Die Entscheidung sollte bei den Eltern liegen. Die Eltern sollten die Wahl haben. Genau das muss im Gesetz verankert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren,ein dritter Punkt.Recht zu haben genügt nicht. Man muss es auch bekommen. Gerade bei Verstößen in dem von diesem Gesetz zu regelnden Bereich ist es für die Betroffenen nicht nur außerordentlich schwierig, sondern oft auch ganz besonders unangenehm, ihre Rechte geltend zu machen und dafür Beweis führen zu müssen.

Folgerichtig gilt es bei begründeter Annahme einer Benachteiligung die Beweislast umzukehren. Das führt – das mögen die Anwälte bedauern – nicht zu einer Steigerung der Verfahrenszahl. Es führt zu einer Steigerung des Engagements und des Bemühens, niemanden wegen Behinderung zu benachteiligen.Genau das möchten wir mit diesem Gesetz erreichen. Deshalb sollten wir an dieser Stelle etwas korrigieren.

Meine Damen und Herren, für die beiden Gesetzentwürfe gilt, dass all die aufgezeigten Mängel des Regierungsentwurfs vorliegen. Der Entwurf der GRÜNEN geht ein ganzes Stück weiter. Deshalb wird die SPD-Fraktion den Regierungsentwurf ablehnen und dem Entwurf der GRÜNEN, wenn auch mit ein paar Bauchschmerzen, die Frau Fuhrmann schon in der Rede zur ersten Lesung vorgetragen hat, zustimmen.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ – auch in Hessen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr.Andreas Jür- gens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Das Wort hat Herr Dr. Jürgens für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Viele von uns waren am Dienstag beim parlamentarischen Abend des VdK Hessen-Thüringen.Zu Recht hat an diesem Abend – Sie haben es alle gehört – der Landesvorsitzende in seiner Begrüßung angemahnt, dass die Vorschläge der interministeriellen Arbeitsgruppe zur Überprüfung des hessischen Landesrechts auf Benachteiligung behinderter Menschen endlich umgesetzt werden müssten. Frau Lautenschläger war auch da. Frau Ministerin, ich weiß nicht, ob Sie ihm hinterher unter vier Augen gesagt haben, dass er lange darauf warten kann.Ich weiß nicht,ob Sie ihm gesagt haben, dass die Beteiligung von Behindertenorganisationen an dieser Arbeitsgruppe reine Beschäftigungstherapie war und Sie gar nicht daran denken, ihre Empfehlungen umzusetzen.

Ich will erklären, worum es hier geht. Die Arbeitsgruppe hatte Änderungsbedarf gesehen beim Statistikgesetz, beim Gesetz zur Ausführung der Kinder- und Jugendhilfe, beim Gleichberechtigungsgesetz, bei der Hessischen Gemeindeordnung, beim Denkmalschutzgesetz, beim Hessischen Schulgesetz, beim Gesetz über den Hessischen Rundfunk, beim ÖPNV-Gesetz, beim Hochschulgesetz, bei Weiterbildungs- und Prüfungsordnungen, bei Verordnungen über verschiedene Ausbildungsgänge und Prüfungen etc., etc. Nichts davon aber haben Sie in Ihren Gesetzentwurf übernommen. Nichts davon wollen Sie übernehmen. Mit einem solchen gesetzlichen Torso kann nach unserer Überzeugung wirkliche Gleichstellung nicht erreicht werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vor allem aber wollen Sie – Kollege Spies hat zu Recht darauf hingewiesen –, dass die Gleichstellungsregelungen Ihres Gesetzes nicht auf der kommunalen Ebene gelten. Ich sage noch einmal ausdrücklich, was ich auch im Ausschuss gesagt habe:Wenn Sie daran festhalten wollen,dies

nicht zu tun, dann sollten Sie konsequenterweise den Titel Ihres Gesetzes ändern in „Gesetz zur Ungleichstellung behinderter Menschen“.

(Beifall des Abg. Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wenn die Kommunen beim Prozess der Gleichstellung außen vor bleiben, dann sind behinderte Menschen dort, wo es besonders wichtig ist, dort, wo sich das tägliche Leben abspielt, eben nicht gleichgestellt. Die hessischen Behinderten haben dann in den Kommunen eben nicht die gleichen Rechte wie die behinderten Menschen in anderen Ländern. Sie haben nicht die gleichen Rechte in den Kommunen wie auf anderen Ebenen der öffentlichen Hand.

Meine Damen und Herren,ich war am Montag dieser Woche bei einer Fachtagung des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung in Berlin. Es ging um die im Augenblick in den Vereinten Nationen diskutierte neue UNKonvention zu Menschenrechten und Behinderung. Es gibt eine Arbeitsgruppe, die von der UN-Vollversammlung eingesetzt worden ist. Innerhalb von zwei Jahren soll diese Konvention bearbeitet werden.

Anwesend bei dieser Veranstaltung war übrigens auch die Sonderbotschafterin der UNO für diesen Bereich, eine Angehörige des Königshauses von Katar.Ich erwähne das auch wegen der Debatte zur Aktuellen Stunde heute Morgen. Herr Jung, hören Sie gut zu.

Ihre Königliche Hoheit – das ist der offizielle protokollarische Titel – trug ein Kopftuch, und das trug sie ganz selbstverständlich und ganz charmant, weltgewandt. Mit großem Engagement ist sie für eine Gleichstellung behinderter Menschen eingetreten. Sie hat ganz und gar nicht das Bild abgegeben, das Sie hier von Kopftuch tragenden Frauen zu zeichnen belieben.