Protokoll der Sitzung vom 22.02.2006

Es wurde immer erklärt,arbeitsmarktpolitisch werde alles besser, wenn die Kommunen das Sagen hätten. Dazu sage ich: Aus unserer Sicht ist es völlig egal, ob eine Optionskommune oder eine Arbeitsgemeinschaft die Betreuung der Langzeiterwerbslosen übernimmt. Es hätte aber z. B. einmal eine selbstkritische Bilanz dazugehört, ob das denn – unabhängig von der Organisationsform – funktioniert hat, warum z. B. sowohl die Optionskommunen als auch die Arbeitsgemeinschaften im Jahre 2005 einen hohen Anteil der ihnen zur Verfügung stehenden Gelder für Eingliederungs- und Fördermaßnahmen nicht ausgeschöpft haben, Herr Wirtschaftsminister.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es hätte aus der Sicht eines Wirtschaftsministers auch dazugehört, einmal über die Frage nachzudenken, warum wir uns eigentlich noch immer eine Bildungspolitik leisten, die jedes Jahr einen relevanten Anteil eines Jahrgan

ges ohne jeden Schulabschluss in die Wirtschaft entlässt und damit die Arbeitslosigkeit von morgen produziert.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

Herr Wirtschaftsminister, wenn wir uns ernsthaft damit auseinander setzen wollen, wie wir in diesem Land zu mehr Beschäftigung kommen, dann gehört natürlich dazu, dass man sich mit dem unteren Lohnbereich beschäftigte. Ich stelle Ihnen die Frage, ob nicht jenseits der Zahlenhuberei,der Umfragen und dessen,was Sie hier erzählt haben, dazugehören würde, dass man sich darüber Gedanken macht, wie man die Lohnkosten im unteren Bereich so gestaltet, dass man da konkurrenzfähig wird, und zwar in einem doppelten Sinne.

(Michael Boddenberg (CDU): Viele Kollegen sehen genau das Gegenteil!)

Einerseits muss man von Arbeit leben können, man muss von Arbeit existieren können. Das ist nicht nur eine soziale Notwendigkeit, das ist auch eine ökonomische Notwendigkeit. Ich würde mich als Wirtschaftsminister nicht damit rühmen, dass die Inflationsquote so niedrig ist; denn sie ist deshalb so niedrig, weil die Leute kein Geld mehr in der Tasche haben und die Binnennachfrage dadurch nicht funktioniert.

(Michael Boddenberg (CDU): Eine Binsenweisheit!)

Ich meine, am Ende würden Sie sich noch dafür rühmen, wenn irgendwann die Deflation käme. Ich bitte Sie, das ist doch keine ernsthafte wirtschaftspolitische Debatte, Herr Wirtschaftsminister.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie uns darüber reden und uns zwischen den Parteien darüber auseinander setzen, ob es denn richtig ist, bei den Lohnnebenkosten die Arbeitslosenversicherung für alle um 2 % zu senken, unabhängig davon, ob sie sich im unteren oder oberen Bereich befinden, oder ob es nicht besser wäre, auch in diesem Bereich über so etwas wie eine Progression nachzudenken. Wir haben da Vorschläge gemacht. Aber dann lassen Sie uns doch zu einer ernsthaften Diskussion darüber kommen, wie wir in diesem Bereich,in dem es die meisten Erwerbslosen und teilweise auch Konkurrenzdruck durch Verlagerung gibt, nämlich genau im Bereich der geringen Qualifikation, zu sozial verträglichen Lösungen kommen, die am Ende mehr Beschäftigung generieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Wirtschaftsminister, ich glaube, wir sollten als Politiker nicht so tun, als könnten wir kurzfristig Vollbeschäftigung herstellen. Ich glaube, wir können noch nicht einmal mittelfristig Vollbeschäftigung herstellen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass wir diese horrenden Erwerbslosenzahlen, gerade in Hessen – es ist doch absurd, wenn man sagt, es liege daran, dass die Rheinland-Pfälzer hierher zum Arbeiten kämen; Herr Boddenberg, da hätte ich von Ihnen wirklich einmal Besseres erwartet –, wenigstens senken und uns nicht damit abfinden. Dazu gehört, dass man sich auch einmal darüber Gedanken macht, ob denn diese ganzen Predigten zur Ordnung der Freiheit, die Zahlenhuberei oder am Ende noch die Antwort „Beton, Beton“, wie es Gerhard Polt gesagt hätte, wirklich die einzigen Antworten sind, die Sie in diesem Zusammenhang haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Wirtschaftsminister,deswegen sage ich:Das hier war das genaue Gegenteil einer Sternstunde des Parlaments. Mir ist heute erschreckend deutlich geworden, dass Sie – seitdem Sie als CDU und als Landesregierung nicht mehr sagen können, die Bundesregierung sei schuld – offensichtlich nichts, aber auch gar nichts mehr auf der Pfanne haben. Das ist keine gute Nachricht, sondern eine schlechte Nachricht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat der Abg. Klemm.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir müssen nicht ernsthaft darüber streiten, dass Hessen ein zentraler Wirtschaftsstandort in der Europäischen Union ist. Nur, die Rede damit zu beenden, dass Hessens Wirtschaft angesichts des Zahlenwerkes, über das wir verfügen, auf gutem Wege sei, ist lediglich eine Gesundbeterei. Das ist keine realistische Auseinandersetzung mit den Fakten.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Denn Hessen ist im Ranking irgendwo auf Platz vier oder fünf der nationalen Volkswirtschaften in Europa, was die Erwirtschaftung des Bruttoinlandproduktes angeht.Aber Hessen ist im Jahre 2005, was das Wachstum genau dieses Bruttoinlandproduktes angeht,auf dem Platz ganz hinten.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Hinter uns liegen Malta, die Niederlande, Portugal und Italien.Vor uns liegt eine ganze Menge.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Ich bestreite das doch gar nicht. Ich sage nur:Wer das ignoriert und sagt: „Wir sind auf gutem Weg“, der ist auf dem falschen Platz, wenn er für Hessen Wirtschaftspolitik macht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Es geht in der Situation doch darum, wenigstens einmal die Fakten zur Kenntnis zu nehmen – egal, ob sie einem gefallen oder nicht gefallen.Das ist doch die Basis,mit der man sich auseinander setzen muss. Wenn die Debatte auf dem Niveau geführt wird, dass wir feststellen: „Hätten wir eine Mauer zu Rheinland-Pfalz, dann wäre die hessische Zahlenwelt schöner“,

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

dann ist das eine Dimension, die genau beschreibt, wo wir sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir leben in einer realen Welt. Diese reale Welt ist ein bisschen komplizierter. Wenn Sie jetzt vergleichen, was den Beginn der Debatte ausgemacht hat, dann reden wir darüber, dass Hessen in seiner Zuwachsrate unter dem Durchschnitt der deutschen Bundesländer liegt. Das müsste eigentlich ein Alarmsignal von allergrößter Bedeutung sein,

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

weil ein Land, das vom Spitzenplatz Europas kommt und sich jetzt nicht einmal mehr getraut, sich mit den wirtschaftsstarken westdeutschen Bundesländern zu vergleichen, sondern sich mit dem Durchschnitt aller deutschen Bundesländer vergleichen muss, die Frage aufwirft: Was ist das denn für ein Land? Was ist das für ein Selbstbewusstsein einer Wirtschaftspolitik in diesem wirtschaftsstarken Land?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, deshalb brauchen wir sehr dringend eine Diskussion darüber,wie wir in Hessen stark überdurchschnittliches Wachstum zu produzieren in der Lage sind – nicht bezogen auf den Durchschnitt aller deutschen Bundesländer, sondern bezogen auf die Messlatte Bayern und Baden-Württemberg, die Länder, die mit uns in der Bundesrepublik Deutschland über wirtschaftliche Spitzenpositionen verfügen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Herr Wirtschaftsminister, Sie trauen sich nicht einmal, in diesen Vergleich einzutreten. Das zeichnet die Dimension der Debatte aus, über die wir hier reden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Ministers Dr.Alois Rhiel)

Meine Damen und Herren, natürlich haben wir infolge der hessischen Wirtschaftsstruktur das Problem der extremen Dienstleistungsbetonung, was uns z. B. vom Standort Baden-Württemberg unterscheidet. Wir sind dort in unterschiedlicher südländischer Konjunktur mit Zahlen konfrontiert, die wir seit vielen Jahrzehnten kennen.Aber dazu gibt es zwei Möglichkeiten. Ich kann sagen: „Das ist halt so.“, oder ich kann sagen:Wir kommen in eine Situation, in der wir deutlicher handeln müssen.

Wir reden doch nicht darüber, dass wir jetzt einmal eine schlechte Zahl schreiben. Meine Damen und Herren, wir reden darüber, dass wir vier Jahre in Folge schlechter wachsen als der Durchschnitt Deutschlands. Dann kann ich doch nicht sagen: Immerhin sind wir noch mit dem Grundsockel, auf dem wir uns befinden, auf einem guten europäischen Platz. – Das wird auf die Dauer nicht ausreichen.

Deshalb brauchen wir eine Diskussion darüber. Die brauchen wir in diesem Land insgesamt. Man wird in diesem Land und in Deutschland nicht überdurchschnittlich wachsen können, wenn wir nicht ein starkes Gewicht darauf legen, dass Hessen auf Dauer die Drehscheibe der europäischen Wirtschaft bleibt. Das heißt, wir brauchen eine starke Betonung auf Mobilität in diesem Lande und auf Mobilität aus diesem Lande heraus. Das wird nicht anders gehen, als dass der Flughafen Frankfurt ausgebaut wird, und zwar so schnell wie möglich.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Es gibt dazu keine Alternative.

(Michael Boddenberg (CDU): Sie hätten Mitte der Neunzigerjahre damit anfangen sollen!)

Ich kenne die Diskussion um CargoCity sehr gut und auch alle die, die ihre wertvollen Beiträge dazu geleistet haben. – Ich würde mir wünschen, dass neben der Sprech

blase auch das, was wichtig ist – das administrative Handeln –, jeden Tag so ist, dass das schnell geht.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Dazu stelle ich fest:Wenn das so richtig ist, haben wir Zeit verloren. Das hätte nicht sein müssen.

(Michael Boddenberg (CDU): Wo und wann denn bitte haben wir Zeit verloren?)

Zum Zweiten. Wir brauchen einen kontinentaleuropäischen Finanzplatz. Wenn wir dieses Wachstum erhalten und überdurchschnittliches Wachstum generieren wollen, brauchen wir an der Stelle die Entwicklung eines europäischen Finanzrahmens. Das ist nicht nur eine bundesdeutsche Aufgabe. Das ist eine Aufgabe der hessischen Standortpolitik, wo sich die Hessische Landesregierung einmischen muss.

Zum Dritten. Ich glaube, dass wir an diesem Finanzplatz eine starke öffentlich-rechtliche Säule sichern müssen. Das ist der Streit, den wir im Moment führen müssen. Die Sozialdemokraten sind in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass das deutsche Sparkassenwesen auf Dauer ein öffentlich-rechtliches Sparkassenwesen bleiben soll, das der Privatisierung nicht zugänglich gemacht wird.