Frau Kultusministerin, deswegen bleibt auch der Ausbau von Ganztagsschulen weiterhin ein Zukunftsprojekt, an dem noch viel gearbeitet werden muss.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Habermann, es war nicht unbedingt verwunderlich, dass Sie die gleiche Schellackplatte aufgelegt haben, nach dem Motto: „Echte Ganztagsschulen sind Mangelware, und die Statistik, die wir vorlegen, ist ein Etikettenschwindel“. So Frau Kollegin Habermann eben inhaltlich, vor wenigen Tagen auch in der „HNA“ pressemäßig nachzulesen.
Die spannende Frage ist doch: Was ist eigentlich eine Ganztagsschule? – Darüber kann man nun mal streiten. Ich habe mir herausgesucht, auch ich schaue ganz gern mal ins Archiv, was denn die rot-grüne Bundesregierung zu diesem Thema der Ganztagsschule gesagt hat. Sie erinnern sich, dass wir das Ganztagsschulförderprogramm hatten, die 4 Milliarden €, davon 278 Millionen € für Hessen; das war okay; das war positiv.
Entschuldigung. „Das war positiv“, das habe ich doch gerade gesagt. – Dann war die spannende Frage: Wie wird denn in der Bundesregierung die Ganztagsschule definiert? – Dazu gibt es eine Antwort der Bundesregierung, von der damaligen Bundesbildungsministerin Bulmahn unterzeichnet. Ich zitiere wörtlich:
Ganztagsschulen sind Schulen, in denen über den in Deutschland normalen Halbtagsunterricht hinaus den Schülerinnen und Schülern auf der Basis eines pädagogischen Konzeptes... freiwillige oder verbindliche Angebote zur individuellen Förderung und im Freizeitbereich sowie eine Mittagessenbetreuung unterbreitet werden.
Genau dies und ein bisschen mehr machen wir, so wie es die rot-grüne Bundesregierung als ihren Idealzustand beschrieben hat. Der damalige Bundeskanzler erklärte weiter gehend, wir hätten in Deutschland rund 40.000 allgemeinbildende Schulen – zum damaligen Zeitpunkt waren es etwa 2.000 Ganztagsschulen, inhaltlich nach dieser Form definiert –, notwendig seien etwa 10.000. Rund 25 %
aller Schulen, so Gerhard Schröder, sollten also sinnvollerweise Ganztagsschulen sein. Auch Ihr damaliger Spitzenkandidat zur Landtagswahl, Gerhard Bökel, das ist alles noch nicht so lange her, erklärte, er wolle in den nächsten Jahren auf freiwilliger Basis 500 Ganztagsschulen oder Ganztagsangebote schaffen, bezogen auf eine Legislaturperiode von fünf Jahren. Gerhard Bökel sprach von 500; wir haben ungefähr 600. Also von daher – –
Das ist in der Tat lange her. Das macht aber nichts. Es macht nämlich deutlich, wo Sie gestanden haben, und es macht deutlich, von wo wir gekommen sind. Ich finde es sehr löblich – –
Ja, ich weiß. Sie sind dafür berüchtigt, dass Sie „laut können“. Das ist schon klar. – Es ist löblich, dass Frau Habermann darauf hingewiesen hat, wo wir denn in Hessen hergekommen sind. 1995 waren es in der Tat 125 Schulen; und es waren 1998/1999, als Sie abgewählt wurden, ebenfalls 125. Zuwachs: null. Dann haben wir einmal geschaut, was wir machen können.
Im Jahr 2005/2006 waren es 336, 2009/2010 waren es rund 650, und 2011/2012 waren es rund 750. Im kommenden Schuljahr werden wir in Hessen etwa 850 Schulen mit Ganztagsangeboten oder Ganztagsschulen haben. Dies sind 50 % aller hessischen Schulen. Das ist das Doppelte dessen, was Gerhard Schröder als Idealzustand beschrieben hat, weil er von 25 % ausging. Zu Ihrer Zeit hatten wir 7 %. Heute haben wir aktuell 50 %, unterlegt mit 1.500 Lehrerstellen, was Jahr für Jahr allein ein Volumen von rund 75 Millionen € ausmacht. Darauf kann man stolz sein. Das ist eine hervorragende Bilanz.
Meine Damen und Herren, wenn es dann immer heißt: „Wenn wir die Ganztagsschule flächendeckend haben“, so wie Sie das wollen, dann warne ich als Pädagoge ein klein wenig vor zu hohen Erwartungen, weil wir im Grunde genommen Wunderdinge erwarten und ich nicht glaube, dass das erfüllbar ist. Auf die Zahlen, die Kosten usw. will ich jetzt gar nicht eingehen.
Wir sind sehr dafür, dass ausgebaut wird. Ich warne aber vor zu hohen Erwartungen. Ich will nur ganz kurz aus der Antwort der Bundesregierung zitieren. Es gab eine parlamentarische Anfrage der damaligen CDU/CSU-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung, Frau Bulmahn:
Ist die Bundesregierung sicher, dass das hervorragende Abschneiden von Ländern wie Finnland... [und anderen] vor allem mit dort vorhandenen Ganztagsschulen zusammenhängt?
Die Komplexität schulischer Bildungsprozesse mit Einflussfaktoren der verschiedensten Art und auf den verschiedensten Ebenen lässt eine eindimensionale und kausale Interpretation der Ergebnisse nicht zu.
Die schulischen Systeme der an PISA beteiligten Staaten unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht. Es ist deshalb in der Regel unmöglich, die Effekte einzelner Faktoren – wie zum Beispiel den Effekt von Ganztagsschulen – isoliert zu benennen.... Nach Aussagen der Wissenschaftler, die an PISA mitgearbeitet haben, könnte allerdings auch dann noch nicht mit Sicherheit gesagt werden, inwieweit ein Ganztagsschuleffekt für Unterschiede in den Leistungsergebnissen der Teilnehmerstaaten verantwortlich ist, …
Meine Damen und Herren, deshalb warne ich vor zu hohen Erwartungen. Ich möchte auch in aller Ruhe darauf hinweisen, dass es in Deutschland auch anerkannte Wissenschaftler gibt, die sich mit dieser Thematik einer flächendeckenden Zwangsganztagsschule befassen.
Ich möchte beispielsweise Prof. Hellbrügge zitieren, der wissenschaftlich nachgewiesen hat, dass der Unterricht am Nachmittag für Schüler grundsätzlich anstrengender ist als am Vormittag und dass die Fehlerhäufigkeit größer ist:
Vom ärztlichen Standpunkt aus kann daraus nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die körperlichen und geistigen Leistungen der Kinder während des Nachmittagsunterrichts weit unter ihrem durchschnittlichen Niveau liegen …
Die Ganztagsschulen sind eindeutig nicht „vom Kind her“ gedacht.... Durch Ganztagskindergärten und -schulen in den frühen Altersstufen müssen Kontinuität, Tiefe und Sicherheit der Kind-ElternBezüge und der Kind-Geschwister-Beziehungen in den Hintergrund treten, wenn die Kinder fast in ihrer gesamten lernaktiven Zeit einem TV-flimmerbildähnlichen Fremdbetreuungssystem ausgesetzt werden …
Der Lippstädter Kinder- und Jugendpsychologe Katterfeldt sagt, gerade sensible Kinder leiden unter dem „verpflichtenden Charakter und dem Gruppendruck“ einer Ganztagsschule.
Ich füge hinzu: Prof. Klaus Hurrelmann – durchaus bekannt – hat angeregt, darüber nachzudenken, ob es nicht absolut ausreichend ist, in jedem Bundesland etwa 50 % der Plätze an Schulen mit Nachmittagsangeboten zu versehen, weil man auf den Biorhythmus der Kinder Rücksicht nehmen müsse. Er fügt hinzu: „Die psychische Belastung eines Ganztagsbetriebes liegt vor allem darin, dass viele Schüler sich im Laufe des Tages auch zurückziehen möchten und es möglicherweise nicht können.“
Dieser Rückzug wird auch von Christa Schaff, Vorsitzende des Berufsversbandes der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie öffentlich erklärt: „Viele Kinder leiden unter der Dichtigkeit der Gruppe.“
Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Wir sind für den Ausbau von Ganztagsschulen – auf freiwilliger Basis. Wir sind auch dafür, dass Ganztagsangebote in gebundener Form dort gemacht werden, wo alle dies wol
len. Gleichwohl muss man solche wissenschaftlichen Erkenntnisse ernst nehmen. Ich glaube, das gehört zu einer seriösen Betrachtung des gesamten Themas dazu.
Ich zitiere auch sinngemäß Vertreter des Sports, nämlich unseren Landessportbund-Präsidenten Rolf Müller, der in einer öffentlichen Veranstaltung erklärt hat: „Die Chancen liegen in der stärkeren Verankerung des Sports in der Schule und die Gefahren primär darin, dass Kindern und Jugendlichen der Weg versperrt wird, in Vereinen und Verbänden Sport zu treiben.“ Gleiches sagt seine Kollegin Karin Augustin, Präsidentin des Landessportbundes Rheinland-Pfalz.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren immer aus Erwachsenensicht über die Kinder. Es ist doch eine spannende Frage: Was sagen denn eigentlich Schüler? Sie haben vorhin das Thema Holzapfel gebracht. Ich war seinerzeit im Schuldienst und haben einmal gefragt, was sie denn von einem solchen Modell halten – da ging es nicht um Ganztagsschulen, sondern es ging um ein anderes Zeitmodell, das mit Ganztagsschulen überhaupt nichts zu tun hatte, und zwar um den Unterricht von 9 Uhr bis 15:30 Uhr. Das war also eine völlig andere Baustelle.
Es gibt eine interessante Untersuchung des Landes Schleswig-Holstein aus dem Jahr 2010. Untersucht hat Prof. Dr. Struck die Frage, was Schüler dazu sagen. Das Ergebnis war: 19,35 % der befragten Schüler in Schleswig-Holstein waren für die Ganztagsschulen, und fast 70 % haben sie abgelehnt. Das Institut für Sozialforschung „PROKIDS“ hier in Hessen hat vor wenigen Wochen eine Umfrage gleicher Art gemacht und untersucht: Was sagen denn unsere Kinder eigentlich zu der Ganztagsschule? Die Aussage lautet: „Hessens Nachwuchs ist gegen Nachmittagsunterricht“.
Das ist im Übrigen das Gleiche, was ich – statistisch nicht erfassbar, aber einfach abfragbar – aus vielen Diskussionen mit Schülern mitnehme. Ich frage meine Schüler auch gelegentlich: Wie sieht es denn aus, was macht ihr denn am liebsten? Ist denn Schule für euch etwas Attraktives mit tollen Angeboten? – Es gibt auch tolle Angebote am Nachmittag. Das bestreitet doch auch keiner. Das macht ja auch Sinn. Gleichwohl sagt die große Mehrzahl unserer Kinder und Jugendlichen: Das ist alles gut und schön, und wir nehmen auch manche Angebote gerne an, aber im Prinzip möchten wir auch einmal individuell unsere Freizeit gestalten und nicht ständig gestaltet bekommen.
Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir mit dem Weg, den wir in Hessen eingegangen sind, nämlich angebotsorientiert, bedarfsgerecht und auf freiwilliger Basis so etwas anzubieten, genau das richtige machen, wie es im Sinne unserer Kinder ist. – Herzlichen Dank.