Protokoll der Sitzung vom 12.09.2007

Meine Damen und Herren, auch wenn Sie diesen Begriff nicht immer gerne hören wollen: Beim Übergang in das gegliederte Schulwesen findet eine soziale Selektion statt, bei der die Kinder aus Migrantenfamilien eindeutig schlechtere Chancen haben. Schon deshalb ist die frühe Trennung nach angeblichen Begabungen falsch.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Folgen dieser frühen Selektion zeigen sich dann bei den Abschlüssen: 18,9 % aller Jugendlichen ohne Schulabschluss haben eine ausländische Staatsangehörigkeit, also zweieinhalb mal so viele, wie es ihrem Anteil an der gesamten Schülerschaft entspricht. Am Ende der Sekundarstufe II stellen die ausländischen Schülerinnen und Schüler nur 2,7 % derjenigen, die eine abgeschlossene Berufsausbildung erlangen, und nur 2,1 % der Jugendlichen erreichen die Hochschulreife.

Meine Damen und Herren, viel zu viele Kinder aus Einwandererfamilien verlassen unser Bildungssystem ohne Schulabschluss und ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Viel zu viele Talente bleiben ungenutzt. Es ist ein Armutszeugnis für unser öffentliches Schulangebot, wenn nun Migrantenverbände damit beginnen müssen, ihre eigenen Schulen aufzubauen, um die Bildungschancen für ihre Kinder zu verbessern.

Was macht nun diese Landesregierung? - Meine Damen und Herren, etwas bitter möchte ich sagen: Vor allem macht Herr Busemann viele schöne Worte. Fünfeinhalb Seiten Vorspann, bevor er zur Antwort auf die erste Frage kommt. Ich vermute, das ist neuer Rekord. Leider ist es wie immer, wenn Herr Busemann so viele Worte macht: Er versucht, dahinter die magere Bilanz seiner Arbeit zu verbergen.

Die Landesregierung setzt vor allem auf Sprachförderung. Das ist sicherlich richtig; denn ohne Beherrschung der deutschen Sprache haben die Jugendlichen von vornherein keine Chancen, weder in der Schule noch später auf dem Arbeitsmarkt. Aber zum einen stellt der Kultusminister

auch für die Sprachförderung zu wenig Ressourcen bereit, und zum anderen ist dieser Ansatz zu einseitig.

Meine Damen und Herren, der CDU-Kultusminister hat die Sprachförderkonzepte der Vorgängerregierung aufgegriffen und zum Teil sogar - nicht zuletzt auf unser Drängen und auf unsere Vorschläge hin - weiterentwickelt. Mit dem großen Getöse, Herr Busemann, das Sie darum machen, können Sie jedoch nicht davon ablenken, dass Sie die Mittel für diese Sprachförderung zum Teil erheblich gekürzt haben.

(Joachim Albrecht [CDU]: Einbildung ist auch ‘ne Bildung!)

- Sie sollten die Anfrage einmal lesen. Dann wüssten Sie nämlich, was darin steht.

Das fängt schon bei der Sprachförderung im Kindergarten an. Hier haben Sie die Mittel gegenüber 2004 um 1,2 Millionen Euro, also um fast ein Fünftel, reduziert. Heute stellen Sie für die Sprachförderung 25 % weniger zur Verfügung, als von der Vorgängerregierung eingeplant war.

Es geht weiter mit der Grundschule: 0,9 Millionen Euro für die Hausaufgabenhilfe - überwiegend für ausländische Kinder - sind seit 2004 ersatzlos gestrichen worden. Und die Sprachförderung vor der Einschulung, auf die Sie sich so viel einbilden, geht zu einem erheblichen Teil auf Kosten der Förderung in der Grundschule. Es gibt heute 14 % Förderstunden pro Woche weniger als im Jahr 2000. Die Zahl der Förderstunden pro gefördertem Schüler ist seit 2004 sogar um 19 % zurückgegangen. - Das alles können Sie der Antwort von Herrn Busemann entnehmen.

Die Anerkennung und Förderung der Herkunftssprache gibt es praktisch nur auf dem Papier. Nur an zwei Schulen im ganzen Land, nämlich an einer Gesamtschule und an einem Gymnasium, wird Unterricht in Türkisch als Fremdsprache oder als Wahlunterricht anerkannt. Die Wochenstunden für den herkunftssprachlichen Unterricht hat die Landesregierung seit 2003 um 43 % gekürzt. Ausscheidende Lehrkräfte für diesen Unterricht werden nicht mehr ersetzt. - So weit dazu.

Meine Damen und Herren, quantitativ hat die Landesregierung bei der Sprachförderung also eher gekürzt als dazugelegt. Qualitatives macht sie erst gar nicht: Eine wissenschaftliche Evaluation findet auch nicht statt. Darauf verzichtet man lieber. Man

muss seine Förderkonzepte und Fördererfolge offensichtlich gar nicht wissenschaftlich evaluieren.

(Joachim Albrecht [CDU]: Das stimmt doch gar nicht! Sie müssen einmal alles lesen!)

Ein weißer Fleck ist für die Landesregierung außerdem noch immer die interkulturelle Bildung. Man versucht, den Migrantenkindern die deutsche Sprache zu vermitteln - das ist ja auch richtig -, und meint, damit sei alles getan. Offenbar verkennen Sie aber noch immer das große Problem, das es den Kindern aus Zuwandererfamilien erschwert, sich in unserem Bildungssystem zurechtzufinden und erfolgreich zu sein: ihr Leben zwischen den Kulturen, zwischen der Kultur ihres Herkunftslandes und der deutschen Kultur. Vielen Migranten ist die deutsche Schule fremd. Aber den Schulen ist oftmals auch die Lebenswelt ihrer Schülerinnen und Schüler, die aus Migrantenfamilien stammen, völlig fremd, und sie finden keinen Zugang.

Die interkulturelle Bildung muss gerade hier ansetzen, meine Damen und Herren. In der Aus- und Fortbildung der Erzieherinnen und der Lehrkräfte muss sie ein viel größeres Gewicht und vor allem einen verbindlichen Stellenwert bekommen.

Meine Damen und Herren, Innenminister Schünemann hat am Montag die Kommunen dazu aufgefordert, mehr Migranten als Mitarbeiter einzustellen. Bei seinem Kollegen Busemann als dem größten Arbeitgeber im Lande ist dieser Appell offenbar aber noch nicht angekommen. Weniger als 1 % der Lehrkräfte in unseren Schulen sind nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Der größte Teil von ihnen unterrichtet als Native Speaker aus Frankreich, Spanien und Großbritannien an Gymnasien. Lehrkräfte aus den hauptsächlichen Herkunftsländern der Migrantenkinder finden sich nur vereinzelt und im Wesentlichen an Grundschulen. Wenn wir wollen, dass die Kinder aus Migrantenfamilien in unserem Bildungssystem angenommen werden und ankommen können, dann müssen auch Erzieherinnen und Lehrkräfte, die aus ihren Herkunftsländern stammen, verstärkt in Kindertagesstätten und Schulen anzutreffen sein.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die amtierende Landesregierung hat immerhin erkannt, dass die Bildungschancen der Kinder aus zugewanderten Familien verbessert werden müssen. Aber ihre Konzepte sind unzureichend und einseitig, und die bereitgestellten Res

sourcen sind für diese anspruchsvolle Aufgabe noch zu gering. Deshalb möchte ich aus dem Bericht der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zitieren, die in ihrem Bildungsmonitor 2007 für Niedersachsen festgestellt hat: Probleme zeigen sich besonders bei den Bildungsabschlüssen von Ausländern. Von 6 400 ausländischen Schulabsolventen im Jahr 2005 erreichten 1 600 keinen Abschluss. 25 % beträgt damit die Schulabbrecherquote unter ausländischen Jugendlichen. Nur Sachsen-Anhalt weist einen schlechteren Wert auf.

Herr Busemann, wenn Sie die Bildungschancen von Migrantenkindern wirklich verbessern wollen, dann müssen Sie nicht nur davon reden, dass kein Kind verloren gehen soll, sondern dann müssen Sie endlich auch danach handeln. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Nächster Redner ist Herr Kultusminister Busemann.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst eine Vorbemerkung: Der Kultusminister ist nicht der größte Arbeitgeber im Lande, sondern nur der zweitgrößte. Den Rang als größtem Arbeitgeber wollen wir VW nicht streitig machen.

Jetzt noch eine weitere, sehr ernste Vorbemerkung. Wenn wir PISA beleuchten - 2000, 2003, wahrscheinlich auch 2006 -, dann ist eine der Hauptursachen für das schlechte Abschneiden unserer Schülerinnen und Schüler der Umstand, dass wir es in Deutschland nicht vernünftig hinbekommen haben, Kinder mit Migrationshintergrund - auch andere, aber gerade diese - zu entsprechenden schulischen Bildungsverläufen zu bringen. Das ist ein völlig unstreitiger Tatbestand. Der gilt für ganz Deutschland von Bayern bis Kiel, von Berlin bis Niedersachsen. Darüber darf man auch Einigkeit herstellen, weil dadurch auch die entscheidenden Schritte ausgelöst werden.

Meine Damen und Herren, in diesem Kontext möchte ich einige grundsätzliche Anmerkungen machen und Hinweise geben.

Meine Damen und Herren, Niedersachsen ist ein Land gelebter Vielfalt. In verschiedenen Phasen seiner Geschichte hat es immer wieder Menschen

aus anderen Ländern aufgenommen und auch erfolgreich integriert. Wir wollen in unserem Land die Chancen nutzen, die sich durch die Gemeinschaft mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Sprachen und unterschiedlicher kultureller Erfahrungen ergeben. Das kann jedoch nur dann gelingen, wenn sich auch die Zuwanderinnen und Zuwanderer ihrer Verantwortung in unserer Gesellschaft bewusst sind, wenn sie sich mit ihren Fähigkeiten und Potenzialen für ihre Zukunftschancen und die ihrer Kinder auch ein Stück weit selbst engagieren.

Die Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt, dass wir den Handlungsbedarf erkannt haben, auf dem richtigen Weg sind, aber auch gemeinsam mit den Zugewanderten Lösungen für die noch bestehenden Probleme suchen müssen. Ich darf Ihnen noch einmal anheim geben, dass Sie die Antwort auch wirklich lesen. Oft tun es nur die Fachpolitiker und die anderen nicht. Das ist sicherlich interessant und hilfreich für uns alle.

Das offene - das will ich hier auch einmal erwähnen - und zielgerichtete Gespräch, das ich vor wenigen Tagen mit Vertreterinnen und Vertretern der türkischen Gemeinde Deutschlands geführt habe, möchte ich als Beispiel für den von uns beschriebenen Weg benennen. Wir haben mit denen darüber beraten, wie türkischstämmige Eltern dafür gewonnen werden können, sich stärker als bisher am schulischen Leben zu beteiligen. Für mich ist es keine Frage, dass das mit Unterstützung aus der eigenen Ethnie, wie es sich die türkische Gemeinde Deutschlands in ihrer Bildungskampagne vorgenommen hat, besser gelingen kann.

(Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Gemeinsam mit den Migrantenverbänden werden wir die aktivierende Elternarbeit verstärken. So wird z. B. die Qualifizierung türkischstämmiger Elternlotsen von uns unterstützt.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Sie haben das deutsch-türkische Gymnasium angesprochen. Das musste nicht gegründet werden. Es konnte legal gegründet und von uns genehmigt werden, und zwar vor einem bestimmten Hintergrund. Ich gucke sehr genau hin, ob der Integrationsgedanke da entsprechend platziert ist. Aber damit wir das auch von der Schülerschaft dort einmal klar haben: Dort sind nicht die Armen und

Rechtlosen gebündelt, um dort Förderung zu erfahren, die wir nicht erbracht hätten, sondern das ist die Creme einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, die für sich sagt: Wir machen nach unserer Fasson ein Topgymnasium.

(Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Ich wünsche ihnen absolut Erfolg. Aber wir werden darauf achten, ob dem Integrationsgedanken dort auch Rechnung getragen wird oder ob dort eher separiert wird. Da gucke ich ganz genau hin.

Meine Damen und Herren, Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien stellen keine Randgruppe mehr dar. Nach dem nationalen Bildungsbericht weisen über 30 % der 0- bis 6-Jährigen einen Migrationshintergrund auf. Nach der Statistik des Kultusministeriums besuchen rund 63 000 ausländische Kinder und Jugendliche die allgemeinbildenden Schulen bis zum 10. Schuljahrgang und machen damit 7 % der Gesamtschülerschaft aus.

Lassen Sie mich auch auf die Problematik der statistischen Erfassung eingehen. Die Schulstatistik weist derzeit kein Merkmal „Einwandererfamilie“ auf. Stattdessen wird seit vielen Jahren das Merkmal „ausländische Staatsangehörigkeit“ erfasst. Das ist nicht stimmig, weil das unterschiedlich sein kann und sich auch überlappen kann. Das müssen wir bei unseren Statistiken durchaus berücksichtigen. Die so erhobenen Daten werden in der Antwort auf die Große Anfrage sozusagen ersatzweise angegeben.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die gelingende Integration und die erfolgreiche Lebensgestaltung eines jungen Menschen ist eine gute Schulbildung.

(Beifall bei der CDU)

Das ist absolut unstreitig und kann nicht oft genug betont werden. Deshalb haben wir in Niedersachsen ein umfangreiches Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, das zu einer verbesserten Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund führen wird. Ich sage es noch einmal: Seit der PISA-Studie wissen wir, dass die unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache das Schlüsselproblem für Bildungserfolg ist. Daher investieren wir in die vorschulische und schulische Förderung der deutschen Sprachkenntnisse jährlich 52 Millionen Euro, wenn ich Perso

nal- und Sachmittel zusammenrechne. Nun erkennen Sie das doch einmal an! Sie hatten durchaus Inhaltliches vorbereitet. Aber wir haben dann auch in die Mipla geguckt. Darin war kein Geld für Lehrkräfte vorgesehen, die Sprachförderung machen. Das mussten wir mit dem Sparhaushalt 2003/2004 erst auf den Weg bringen und haben es seitdem entsprechend ausgebaut.

Um bereits die Startchancen beim Eintritt in die Schule für alle Kinder zu verbessern, haben wir die frühe Sprachförderung im Kindergarten verankert und setzen sie in der Schule fort. In den Kindertagesstätten finanziert das Land zusätzliche Sprachförderkräfte; das wissen Sie. Im Förderzeitraum 2006/2007 konnten über 20 000 Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache mithilfe einer Personalkostenförderung von 6 Millionen Euro davon profitieren. Sie haben einmal 7 Millionen Euro beantragt. Aber die Maßnahme als solche ist richtig und wichtig.

Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Ich bin durchaus stolz darauf, dass wir als erstes Bundesland die Sprachförderung im letzten Jahr vor der Einschulung verpflichtend eingeführt haben. Durch die Ausweitung der Förderung von einem halben Jahr auf ein Jahr im Schuljahr 2006/2007 wurden die pro Kind zur Verfügung stehenden Stunden von 30 auf 40 erhöht. Sichtbarer Erfolg ist vor allem die Verringerung der Zurückstellungen vom Schulbesuch. Im Schuljahr 2003/2004 - das ist ganz interessant - sind noch 8,1 % der Kinder eines Jahrgangs - damals waren es über den Jahrgang gerechnet 10 000 - zurückgestellt worden. Bis zum Schuljahr 2006/2007 konnten wir diese Quote auf 6,5 % senken. Ziel ist es, dass möglichst alle Kinder beim Start in der Schule über vergleichbare Schuleingangsvoraussetzungen verfügen. Ich kann nur sagen - da stimmen mir alle Fachleute und Nichtfachleute zu -: Die wichtigste Voraussetzung für ein gelingendes schulisches Leben schon im Grundschulbereich ist die Kenntnis der deutschen Sprache, die vorher vermittelt werden muss, sei es in Elternhäusern oder in den gesellschaftlichen Einrichtungen, die wir haben. Wie immer wir das auch machen, das muss miteinander gelingen.

(Zustimmung bei der CDU)

In unserem bundesweit, denke ich, einmaligen, mit 20 Millionen Euro finanzierten Modellprojekt, das letzte Kindergartenjahr als Brückenjahr zur Grundschule zu machen, werden Erzieherinnen und

Erzieher gemeinsam mit Grundschullehrkräften 15 Monate vor der Einschulung die Fähigkeit aller Kinder ermitteln und sie im letzten Kita-Jahr gezielt fördern. Ich bin mir sicher, dass die rechtzeitige Förderung der zugewanderten Kinder ebenso wie derjenigen aus benachteiligten Familien ihre Bildungschancen erheblich verbessern wird. Um diesen Kindern auch den Erwerb der Bildungssprache zu erleichtern, setzen wir die Sprachförderung dann natürlich mit hinreichenden Mitteln in der Schule fort. In erheblichem Maße werden Haushaltsmittel für Maßnahmen „Deutsch als Zweitsprache“ bereitgestellt. Im Schuljahr 2006/2007 konnten damit - eine beachtliche Zahl immerhin fast 70 000 Schülerinnen und Schüler ergänzend gefördert werden.

Um die Qualität des Unterrichts zu verbessern, führen wir in Kooperation mit dem Goethe-Institut München, einem der namhaftesten Bildungsträger auf diesem Feld, eine intensive Fortbildung für 43 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus dem Grundschulbereich in Deutsch als Zweitsprache durch.

Herr Busemann, warten Sie bitte einen Augenblick! - Ich möchte die Abgeordneten darauf hinweisen, dass hier nicht geblitzt werden darf.