Protokoll der Sitzung vom 23.06.2006

len. Bis zum Jahre 2009/2010 rechnen wir mit 15 000 zusätzlichen Bewerberinnen und Bewerbern. - Meine Damen und Herren, diese Dimension hat seinerzeit die Landesregierung Albrecht dazu gebracht, das Ausbildungsprogramm Niedersachsen aufzulegen.

Wenn es denn richtig ist, dass junge Menschen bessere Chancen haben, wenn sie eine Ausbildung absolviert haben, dann kann man das Ziel, Herr Busemann, mit 2 500 zusätzlichen Ausbildungsplätzen, nicht so niedrig stecken. Dann muss man sich ein höheres Ziel setzen. Oder man gibt leichtfertig das System der dualen Ausbildung auf und geht, wie andere europäische Länder auch, in Richtung vollschulische Ausbildung.

Ich möchte das nicht, weil ich weiß, was es für junge Menschen bedeutet, wenn sie auch in Betrieben ausgebildet werden und dort in den Arbeitsprozess einbezogen werden.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Meine Damen und Herren, weder Herr von Danwitz noch Herr Hermann noch der Kultusminister haben die Dimension dieses Problems für Niedersachsen genau beschrieben.

(Zustimmung von Wolfgang Jüttner [SPD] und Ina Korter [GRÜNE])

Da nützen auch Schuldzuweisungen nichts. Herr Busemann, Sie müssen ernsthaft darüber nachdenken: Der Umbau, den Sie seit 2003 im Schulsystem vorgenommen haben, hat bisher zumindest nicht erkennbar dazu geführt, dass praktisch Begabte - was immer man darunter versteht - besser in den Firmen ankommen und qualifizierter sind.

Mein Eindruck ist: Das Klischee der mangelnden Ausbildungsfähigkeit wird auch benutzt, um in der Öffentlichkeit ein gutes Argument dafür zu haben, dass man Ausbildungsplätze gestrichen hat. Das, meine Damen und Herren, darf sich Politik aber nicht mehr gefallen lassen!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wenn von Rahmenbedingungen gesprochen wird, Herr von Danwitz, dann kann ich nur sagen: Die Steuerersparnisse, die inzwischen auch im Mittelstand z. B. durch die Anrechnung der Gewerbesteuer zusätzlich vorhanden sind, sollten im Eigeninteresse der Betriebe dazu genutzt werden,

weiter auszubilden. Denn in 2008 und 2009 werden die Fachkräfte fehlen.

Ihr Maßstab ist zu klein, um dieses Problem mit der Antwort, die Sie uns gegeben haben, zu lösen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Nach § 71 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung gewähre ich auch der CDU-Fraktion drei Minuten zusätzliche Redezeit. Frau Körtner, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Möhrmann, wir haben das gleiche Problembewusstsein wie Sie.

(Walter Meinhold [SPD]: Nein!)

Sie haben von der Dimension des Problems gesprochen. Wir können uns gerne über die Ursachen dieses Problems und über Lösungsmöglichkeiten unterhalten.

Ich möchte dieses hohe Haus jedoch über die aktuelle Situation informieren. In einem Artikel in der Deister- und Weserzeitung vom 9. Juni 2006 heißt es, die Firma Phoenix Contact sucht händeringend Auszubildende. Diese weltweit agierende Firma hat zum Herbst noch elf Stellen offen. Hauptschüler, so sagt sie, sind gerne willkommen. „Gerade eher praxisorientierte Hauptschülerinnen und Hauptschüler können sich bei uns sehr wohl fühlen.“ Die Firma hat überall geworben. Sie kooperiert mit der Pyrmonter Haupt- und Realschule. Sie vermutet inzwischen, dass viele Schülerinnen und Schüler inzwischen mutlos geworden sind und gar nicht mehr glauben, dass es für sie noch Ausbildungsplätze gibt. Für diese Firma ist es das Allerwichtigste, dass die Bewerber mit der Mathematik nicht gerade auf Kriegsfuß stehen und dass sie in der Lage sind, in einer E-Mail einen Satz fehlerfrei zu schreiben.

Meine Damen und Herren, wir haben uns bemüht, und wir bemühen uns ununterbrochen, genau diese Kompetenzen, diese Ausbildungsfähigkeit zu stärken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst haben Sie die Hauptschule heruntergeredet, und jetzt beklagen Sie die aktuelle Situation. Ich sagen Ihnen:

Uns wird es innerhalb kurzer Zeit gelingen, die Hauptschule, die Sie zur Restschule gemacht haben, so zu verändern, dass Kinder dort ganz besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangen, die sie in keiner anderen Schule erlangen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden alles daran setzen, zu verhindern, dass die niedersächsischen Schülerinnen und Schüler in Ihr Horrorszenario einer Basisschule oder einer gemeinsamen Schule fallen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von Elke Müller [SPD])

Frau Müller, nur um Sie zu beruhigen: Die SPDFraktion hat ihre Redezeit um 21 Sekunden überzogen, die CDU um 22 Sekunden. Darüber dürfen Sie sich gern aufregen.

Für die Landesregierung erteile ich jetzt Herrn Minister Hirche das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema ist viel zu ernst, als dass wir uns lediglich gegenseitig Vorwürfe machen sollten. Ganz ohne Frage haben wir zu wenig Ausbildungsplätze. Das hat zwei Gründe. Das hat einmal mit der konjunkturellen Situation der Unternehmen zu tun. Das hat - das erfahren Sie, wenn Sie sich bei den Betrieben umhören - zum anderen aber auch mit der Höhe der Ausbildungsvergütungen zu tun. Meine Damen und Herren, Sie mögen nun zwar jammern, so wie die Gewerkschaften, aber es ist so: Die hohen Ausbildungsvergütungen führen dazu, dass bestimmte Betriebe heute keine Auszubildenden mehr einstellen.

Hinzu kommt - darin, Herr Möhrmann, sind wir uns doch auch einig; Sie sagen dazu bloß, die Regierung würde hier übertreiben -, dass die Jugendlichen heute nicht mehr die Basisfähigkeiten mitbringen, über die sie noch vor zehn, 20 oder 30 Jahren verfügt haben. Als jemand, der in diesem Landtag auch einmal für Kultuspolitik zuständig war - ich war Vorsitzender des zuständigen Ausschusses; im Übrigen auch ein par Jahre lang in einer Koalition mit der SPD -, kann ich mich noch daran erinnern, dass damals trotz einer geringeren Qualifikation der Lehrer und trotz einer kürzeren Schulausbildung am Ende der acht- oder neunjäh

rigen Hauptschule bessere Qualifikationen erreicht wurden.

Frau Körtner, lassen Sie mich eines Ihrer Wort kritisch aufgreifen: Die Hauptschüler brauchen nicht Mathematik zu können, sondern sie müssen rechnen, schreiben und lesen können.

(Ursula Körtner [CDU]: Ich habe nur die Zeitung zitiert!)

Wir sind doch gemeinsam der Auffassung, dass dies die Basisvoraussetzungen sind, um als Demokraten in unserer Gesellschaft mitwirken zu können, um Parteiprogramme unterscheiden zu können und um in einen Beruf hineinkommen zu können.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Hier sollten wir doch nicht sagen, Herr Möhrmann, dass dies zum Popanz aufgebaut wird. Mich bedrückt das außerordentlich. Ich kann die Betriebe verstehen, wenn sie argumentieren, angesichts der wirtschaftlichen Situation können sie mit ihrem Geld nicht das nachholen, was der Staat in der Schule versäumt hat.

Deshalb müssen wir hier auf ganz unterschiedliche Weise ansetzen. Wir werben zum einen bei den Unternehmen selbst und geben in Teilbereichen sogar staatliche Zuschüsse, damit Ausbildungsplätze geschaffen werden. Das ist natürlich kein Idealfall; aber auch das machen wir in Niedersachsen. Zum anderen werden - darüber bin ich froh mittel- und langfristig durch die Aktivitäten des Kultusministers die Voraussetzungen für Jugendliche verbessert, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Wir haben die Diskussion doch in jedem Jahr: im Januar, wenn die Zahlen am schlimmsten sind, dann wieder im Mai und im Juni, wenn sie immer noch ziemlich schlimm sind, und schließlich im September und im Dezember. Zum Jahresende hin merkt man dann, dass die Bilanz ausgeglichen ist.

Dazu stelle ich jetzt nur fest, dass die Zahl der Ausbildungsverträge mit Lehrstellenbewerberinnen und -bewerbern bis Ende Mai 2006 ein Plus von 700 gegenüber dem Vorjahr ergibt und dass auch die bei den Industrie- und Handelskammern neu eingetragenen Ausbildungsverträge ein Plus ergeben.

Indem ich dies sage, meine Damen und Herren, verschweige ich nicht, dass die von den Arbeitsagenturen genannten Zahlen höher sind als im Vorjahr. Dies zeigt allerdings einen interessanten Vorgang: Die Betriebe schalten - ich würde sogar sagen: leider - immer weniger eine Arbeitsagentur ein, um Auszubildende zu finden. Hier laufen in unserem staatlichen Gefüge Dinge aneinander vorbei. Die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber zahlen über die Beiträge an die Arbeitslosenversicherung für Institutionen und Einrichtungen, die immer weniger effektiv werden, und zugleich verlagern sich die Probleme, die von diesen Institutionen nicht gelöst werden, an andere Stellen. Darüber werden wir uns unterhalten müssen.

Meine Damen und Herren, in dieser Situation ist Ermutigung und nicht Beschimpfung der Betriebe angesagt.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich halte es gar nicht für falsch, darauf hinzuweisen, wie es die Kollegin von den Grünen gemacht hat, dass die Ausbildungsbereitschaft in den kleinen und mittleren Betrieben in der Regel größer als in den ganz großen Betrieben ist. Dies sollten wir aber zum Anlass nehmen, bei diesen Unternehmen zu werben, anstatt auf sie zu schimpfen. An dieser Stelle merke ich an, dass bei den Gewerkschaften noch weniger ausgebildet wird; ich bedauere es, dass sich die Gewerkschaften nicht am Ausbildungspakt beteiligen. Wir sollten hier zusammenstehen und nicht immer mit dem Finger auf die anderen zeigen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Mir liegen im Moment drei Wortmeldungen vor: Minister Busemann für die Landesregierung, anschließend wird es zusätzliche Redezeit von zwei Minuten für Herrn Hagenah vom Bündnis 90/Die Grünen und von drei Minuten für Herrn Voigtländer von der SPD-Fraktion geben. - Herr Busemann hat jetzt das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein par kurze Anmerkungen auch in Richtung von Herrn Möhrmann, den ich als sachkundigen Mann schätze, der die Berufsschulsituation einzuschätzen vermag und die duale Ausbildung befürwortet. Wenn Sie hier etwas sagen, dann höre ich immer

ganz genau hin; oft bin ich mit dem, was Sie sagen, auch einverstanden. Eines aber geht nicht: Sie können nicht eine breit angelegte Anfrage mit vielen Einzelfragen starten, die ein Ministerium dann pflichtgemäß beantwortet - wir können nur das beantworten, wonach gefragt wurde -, dann eine eigene politische Problembeschreibung formulieren und schließlich dem Antwortenden vorwerfen, dass er auf das, was Sie im Nachhinein formuliert haben, nicht optimal eingegangen sei. Letzteres sehe ich sogar noch anders. Aber auf jeden Fall müssen Sie die Dinge in der richtigen Reihenfolge belassen.

(Beifall bei der CDU)

Ich habe meine Beschreibung der Entwicklung beim dualen System und bei der Vollzeitausbildung mit Zahlen belegt. Die Vollzeitausbildung, die einerseits von der Warteschleifenproblematik, andererseits aber auch von der guten Qualität der Berufsschulangebote geprägt ist, stellt im Hinblick auf die finanziellen Ressourcen ein riesiges Problem für jeden Kultusminister in diesem Lande dar. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach neuen Modellen. Im Lichte der Abschaffung des BGJ wäre ich der ganz große Sieger in diesem Lande, wenn die Wirtschaft morgen 40 000 oder 50 000 neue Ausbildungsplätze aus der Tasche zöge. Dann wären gewaltige Ressourcen frei, und der lachende Dritte wäre der Finanzminister. Es ist aber nicht so. Ich lobe immer die Anstrengungen der Wirtschaft; es gibt gar keinen Grund, ihr gewaltige Vorhaltungen zu machen.

Frau Korter, ich bitte Sie, sich meine Antworten nachher noch einmal genau anzuschauen; ich habe die Befürchtung, dass Sie sie gar nicht gelesen haben. Ich habe ein großes Projekt skizziert, das gemeinsam gestartet werden soll, wenn das BGJ abgeschafft sein wird: Wir wollen Berufseinstiegsklassen für jeden jungen Menschen ohne oder mit schwachem Hauptschulabschluss einrichten. Dort wollen wir ihm erst einmal die Qualifikation verschaffen, die er benötigt, um überhaupt ausbildungsfähig zu werden und über das Berufsfachschulsystem etwas aufbauen zu können. Dies ist ein großes Unternehmen, das in der Szene offenbar gut ankommt.

(Ina Korter [GRÜNE]: Das müssen Sie vorher machen, nicht hinterher!)

Das müssen Sie auch einmal würdigen und dürfen es in Ihren Reden nicht nur negieren.

(Beifall bei der CDU)