Protokoll der Sitzung vom 24.10.2018

Wir kommen zur Beratung. Ich erteile das Wort der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Herr Schulz-Hendel, bitte!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer wieder kommt es zu schweren Unfällen mit abbiegenden Lkw. Diese Thematik haben wir bereits bei der Einbringung unseres Antrags ausführlich besprochen. Deswegen ist es für uns unverständlich, dass eine Technik, die genau diese Unfälle massiv reduzieren könnte, seit zehn Jahren auf dem Markt ist, aber nicht serienmäßig und verpflichtend angewendet wird.

Genau aus diesem Grund haben wir dann vor sechs Monaten unseren Antrag eingebracht, der insbesondere die Bundesregierung auffordert, Abbiegesysteme verpflichtend einzuführen. Wir haben gefordert, dass sich die Bundesregierung für eine EU-Regelung einsetzt. Und wir haben gefordert, dass dies sowohl für Neufahrzeuge gilt, aber auch als Nachrüstung für Bestandsfahrzeuge verpflichtend eingeführt wird.

Auch das Land ist aus unserer Sicht in der Pflicht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Verkehrssicherheit der Menschen in Niedersachsen zu verbessern. Mit vorgezogenen Haltelinien, einem deutlichen Zeitvorsprung bei der Ampelschaltung oder auch durch ortsfeste Spiegel könnte schon heute eine Menge getan werden. Aus diesem Grunde haben wir in unserem Antrag einen Runden Tisch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Polizei, Landesverkehrswacht, ACE, ADAC, ADFC und den Speditionsverbänden gefordert.

Zu Recht haben SPD und CDU unseren Antrag bei allen Ausschussberatungen immer wieder gelobt - das war mir schon fast unheimlich -, seien es doch die richtigen Forderungen.

Doch einen Schönheitsfehler hatte unser Antrag am Ende doch: Es war eben ein Antrag der Grünen, der weniger aus sachlichen Erwägungen und mehr aus Prinzip nicht einfach so von der GroKo unterstützt werden konnte. Es musste also ein Änderungsantrag her, für den Sie tatsächlich sechs Monate gebraucht haben und der im Ergebnis weichgespült ist. Sechs Monate, meine Damen

und Herren, haben Sie verstreichen lassen! In dieser Zeit hätte der von uns geforderte Runde Tisch längst Ergebnisse präsentieren können. Sechs Monate, in denen auch auf der Bundesebene nichts Bahnbrechendes passiert ist; denn Verkehrsminister Scheuer hat außer einer Aktion aus Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung - die wir natürlich ausdrücklich loben - nichts unternommen. Dabei haben doch Bundesrat und Bundestag eine gesetzliche Regelung für den Abbiegeassistenten gefordert, und 155 000 Bürgerinnen und Bürger haben eine entsprechende Petition unterzeichnet.

Nun aber zu Ihrem Änderungsantrag: Sie wollen nur noch die schrittweise Einführung des Abbiegeassistenten. Sie wollen Konzepte, um Radfahrerinnen und Radfahrer für die Gefahren zu sensibilisieren. Damit tun Sie ein bisschen so, als ob das schwächste Glied im Verkehr die Schuld an der Misere hat. Und Sie wollen, dass die Landesregierung ohne Einbeziehung von Fachexperten in Niedersachsen Maßnahmen für mehr Sicherheit prüft. - Dass Sie es mit der Beteiligung von Fachleuten nicht so haben, hat schon die Beratung zum Polizeigesetz gezeigt.

Ihr Antrag bleibt aber auch deutlich hinter den Forderungen von CDU/CSU, SPD und Grünen im Bundestag zurück. Ihre Parteikolleginnen und -kollegen im Bundestag sind nicht so in ihren Eitelkeiten verhaftet gewesen. Sie haben sich den grünen Forderungen klar angeschlossen, notfalls im Alleingang eine nationale Regelung einzuführen.

Meine Damen und Herren, Verkehrssicherheit braucht aber auch eine Verkehrswende. Abbiegeassistenten sind ein erster wichtiger Schritt, um den Verkehr für Radfahrerinnen und Radfahrer und für Fußgängerinnen und Fußgänger sicherer zu machen. Für uns ist aber klar, dass wir vor allem eine Entschleunigung des motorisierten Verkehrs in den Städten und Kommunen brauchen. Wir brauchen sichere Rad- und Fußwege, und wir brauchen eine Reduzierung großer und schwerer Lkw in den Innenstädten und in den Kommunen.

(Glocke der Präsidentin)

Sie können sich sicher sein: Wir werden auch hier in Niedersachsen den Druck für die Einleitung einer echten und nachhaltigen Verkehrswende weiter erhöhen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion: Frau Tippelt, bitte!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abbiegeunfälle sind seit Jahren in hoher Zahl in der polizeilichen Unfallstatistik vorzufinden. So wurden in Niedersachsen in den Jahren 2010 bis 2016 jährlich zwischen 1 523 und 1 717 Abbiegeunfälle mit einer Beteiligung von Lkw ab 3,5 t gezählt. Bei diesen Unfällen ist der Anteil der Kollisionen von Radfahrern mit rechtsabbiegenden Fahrzeugen herausgehoben hoch. Dies zeigt sich in zahlreichen Untersuchungen.

Ein Großteil dieser Unfälle passiert innerorts. Dies liegt vor allem daran, dass im städtischen Verkehr die „Starken“ - nämlich Lkw, Busse, Pkw - auf die „Schwachen“ - nämlich Fußgänger und Radfahrer - treffen, was automatisch spezifische Risiken mit sich bringt. Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub zählte 2017 allein 38 auf diese Weise zu Tode gekommene Radler. 2018 waren es bis Mai bereits 15.

Die Unfallforschung der Versicherer schätzt, dass etwa ein Drittel der von einem Lastwagen getöteten Radfahrer Opfer von Abbiegeunfällen war. Dabei liegt die Schuld laut UDV selten bei den Radfahrern. Die meisten Unfälle passieren an Ampelkreuzungen, während die Radfahrer grün haben. Die Ausgangslage für den geradeausfahrenden Radfahrer, das Motorrad oder den Fußgänger bei einem rechtsabbiegenden Lkw ist deshalb ungünstig, weil weite Bereiche vor und rechts neben dem Lkw von dem Lkw-Fahrer nicht direkt eingesehen werden können.

Es zeigt sich, dass die bisherig ergriffenen Maßnahmen immer noch nicht ausreichen, um solche Unfälle zu verhindern. Aber hinter der Statistik stehen die Schicksale von Unfallopfern und deren Angehörigen - wie das eines elfjährigen Jungen, der im April dieses Jahres in Hannover zu Tode gekommen ist. Dieser tragische Unfall sowie viele weitere tödlich verlaufende oder teils mit schwersten Verletzungen einhergehende Unfälle fordern uns dringend zum Handeln auf.

Selbstwarnende und selbstbremsende Assistenzsysteme für Lkw können helfen, Abbiegeunfälle zu vermeiden. Sie würden die Fahrer vor dem Abbiegen vor einem Hindernis im toten Winkel warnen. Unfallforscher sagen, dass 60 % aller schweren

Lkw-Fahrrad-Unfälle dadurch verhindert werden könnten.

Die Thematik ist nicht neu. Hersteller und Politik haben sich schon öfter damit befasst, zuletzt auch der Bundesrat, der Bundestag und die EU. Eine Umsetzung ist bisher aber leider ausgeblieben. Der Druck auf Industrie und EU muss größer werden - auch aus Niedersachsen.

In einem Bündel an Maßnahmen gegen schwere Verkehrsunfälle muss der Abbiegeassistent selbstverständlich enthalten sein - so wie der automatische Notbremsassistent, der seit 2015 im Lkw vorgeschrieben ist. Dieser wurde in zwei Stufen eingeführt: Stufe 1 gilt seit November 2015, seitdem ist er für alle Neufahrzeuge ab 8 t vorgeschrieben. Stufe 2 gilt ab November 2018.

Verkehrsminister Althusmann und Innenminister Pistorius haben anlässlich der IAA im September völlig zu Recht von der Industrie gefordert, die technisch besten und nicht abschaltbaren Notbremssysteme zu verwenden. Dasselbe muss auch für den Abbiegeassistenten kommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zum Antrag der Grünen: Er mag gut gemeint sein - wenn er auch gut gewesen wäre, hätten wir ihm zugestimmt; Sie wissen ja, ich bin nicht dafür bekannt, Anträge der Grünen abzulehnen.

Kommen wir zu einigen Punkten, die Sie fordern:

Unter Nr. 7 fordern Sie eine Beifahrerpflicht für Ballungszentren und Städte. - Das ist praxisfremd.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Nein!)

Wie soll das funktionieren? Der Beifahrer steigt innerorts in den Lkw ein und am Ortsrand wieder aus? - Das kann es doch nicht sein!

Auch mit Blick auf die von Ihnen geforderten technischen Lösungen sind Sie nicht auf dem neuesten Stand. Der angeblich seit 2008 bei einem Hersteller verfügbare Abbiegeassistent ist zwar seinerzeit vom ADAC mit einem Preis ausgezeichnet worden, aber die Serienentwicklung musste leider abgebrochen werden. Tatsache ist: Aktuell gibt es nur einen einzigen europäischen Hersteller, der für einige Lkw-Modelle einen funktionierenden Abbiegeassistenten anbietet, und das auch nur als Sonderausstattung. Wir fordern ihn als Serienausstattung - genau da müssen wir Druck machen.

Ein weiterer Punkt ist die Forderung nach durchsichtigen Beifahrertüren, wie in Müllfahrzeugen und Stadtlinienbussen bereits üblich. - Dabei ist zu

beachten, dass dadurch die Steifigkeit der Fahrerkabinen und deren Crashbeständigkeit erheblich reduziert werden, was wiederum verstärkt zu Personenschäden führen kann.

Darum lehnen wir den Grünen-Antrag ab.

Wir brauchen die europaweite Einführung von Abbiegeassistenzsystemen für neue Lkw ab 3,5 t und eine Nachrüstpflicht - notfalls zunächst deutschlandweit, wenn Europa zu lange braucht. Eine EU-Verordnung für geeignete Abbiegeassistenzsysteme im Sinne der Empfehlungen der Bundesanstalt für Straßenwesen kann erst greifen, wenn alle entsprechenden europäischen Hersteller solche erprobten und zuverlässigen Systeme anbieten können. Aber das wird - da sind wir uns, glaube ich, alle einig - noch Jahre dauern.

Zudem wollen wir, dass Investitionen in Abbiegeassistenten für Nutzfahrzeuge verstärkt durch den Bund gefördert werden. Mit der De-minimisFörderung durch den Bund ist ein Anfang gemacht, aber diese Maßnahme bezieht sich alleine auf freiwillige Nachrüstung. Der Bund ist gefordert, die Förderung so zu gestalten, dass besonders kleine und mittelständische Unternehmen das Programm in Anspruch nehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die Verkehrssicherheit gerade für schwächere Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer deutlich erhöhen. Wir müssen aber auch an die LkwFahrerinnen und -Fahrer denken. Ich bitte Sie um Unterstützung unseres Antrages.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Tippelt. - Auf Ihren Wortbeitrag liegt eine Kurzintervention des Abgeordneten Schulz-Hendel vor. Bitte! Sie haben 90 Sekunden.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Sehr geehrte Frau Tippelt, das, was Sie hier angeführt haben, um den Antrag der Grünen abzulehnen, hat mich sehr wenig überzeugt. Denn alles das, was Sie vorher hier ausgeführt haben, beinhaltet unser Antrag.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zur Beifahrerpflicht: Wenn Sie das heute hier als praxisfremd und nicht anwendbar geißeln, dann sage ich Ihnen eines ganz deutlich: Solange die Bundesregierung und die EU nicht in die Puschen kommen, verpflichtende Abbiegesysteme einzuführen, ist mir jedes Mittel recht, um Verletzte und Tote zu verhindern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das von vornherein als praxisfremd zu geißeln, ohne geprüft zu haben, ob es in der Praxis umzusetzen ist, halte ich angesichts der schweren Unfälle für sehr unverfroren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich danke Ihnen. - Frau Tippelt, bitte schön!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schulz-Hendel, wenn Sie mir richtig zugehört hätten, dann hätten Sie mitbekommen, dass ich gesagt habe: Jeder Verkehrsunfall und jeder Tote ist einer zu viel.

(Beifall bei der SPD)

Das, was Sie hier vorschlagen, dass ein zweiter Fahrer zusteigt, wenn ein Lkw in einen Ort hineinfährt, und am anderen Ende des Ortes aussteigt, ist für mich praxisfremd. Das bleibt so. Da können Sie mich nicht vom Gegenteil überzeugen.

(Zuruf von den GRÜNEN)