Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

Herr Solf, würden Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Schäfer gestatten?

Sie will sich jetzt vielleicht outen, ob das, was ich irgendwo gelesen habe, stimmt oder nicht. – Bitte schön.

Bitte schön, Frau Schäfer.

Ich frage, Herr Kollege, ob Sie behauptet haben, ich sei schon einmal sitzen geblieben.

Ich glaube, Sie hatten irgendwann gesagt, dass Sie auch diese Ehre gehabt hätten.

Dann müssen Sie ein bisschen besser zuhören. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich nicht sitzen geblieben bin.

(Beifall von der SPD)

Frau Schäfer, dann sind Sie mit Albert Einstein und mir auf einem Niveau. Das ist ja schön.

(Allgemeine Heiterkeit)

Aber Sie wären uns genauso lieb gewesen, Frau Schäfer.

Frau Schäfer, Einstein, wir und Peter Heesen und die anderen. – Aber jetzt zurück zum vergangenen Jahr. Ich habe klar benannt, welche Fördermaßnahmen eingeleitet werden müssen, um Sitzenbleiben zu verhindern. Für diejenigen, die neu hier sind, werde ich gleich Passagen aus der damaligen Rede wiederholen. Das führt Sie an einen Diskussionsstand heran, den wir in der CDU schon lange erreicht haben, der sich den Grünen aber als eine neue Welt zu erschließen scheint.

Zunächst einmal erlaube ich mir, den GrünenAntrag ein wenig abzuschminken. Was unter dem Rouge liegt, die Zielsetzung, die Zahl der Sitzenbleiber durch energisch voranzutreibende individuelle Fördermaßnahmen erheblich zu verringern, gefällt mir. Die Schminke allerdings ist schmierig. Statt sich mit detaillierten Vorstellungen von Fördermaßnahmen an das Machen des Machbaren heranzumachen, lassen die Visagistinnen ideologisch aufgeladene Worthülsen klingen.

Wie ein Weihrauchfass wird das heilige Wort Heterogenität herumgeschwenkt und dadurch entwertet.

(Zuruf von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Homogenität wird zum Unwort. Und denen, die auch Vorteile in leistungsmäßig homogenen Klassen sehen, wird perfide hinterher gerufen, sie seien für Selektion. – Nein, liebe Grüne, so geht es nicht.

(Beifall von der CDU)

Missmutig stimmt auch, dass Sie meine Damen und Herren von den Grünen – die Herren sind schon weg –, meine Damen, sich nicht einmal die Mühe gemacht haben, von den nordrhein

westfälischen Verhältnissen auszugehen. Ihr Antrag geistert zurzeit in mehrerlei Gestalt durch die Republik.

Im Juli lief das Thema bei der GEW und in Schleswig-Holstein, im September in Niedersachsen und jetzt bei uns.

Überall wird die jeweilige Landesregierung aufgefordert, zunächst in einem Modellversuch auf das Wiederholen einer Klasse komplett verzichten zu lassen. Ein Förderkonzept für leistungsschwache Schüler sei parallel zu entwickeln.

Inhaltliche Vorschläge allerdings unterbleiben, aber dafür gibt es ein Finanzierungskonzept nach dem Modell „Milchmädchen“. Saniert wird die Angelegenheit mit der Anrufung von Kronzeugen aus dem Dschungel „Jamaikas“. McKinsey, die Hamburger Handwerkskammer, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft – sie alle stehen neuerdings für die Konzepte der Grünen.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Ja, stimmt doch!)

Ach, liebe Grüne, hätten Sie doch in anderen Politikfeldern ähnlich große Ohren. Aber da haben Sie Ihre eigenen Selektionsmechanismen.

Als Schönheitsfleck obendrauf die Lehrerschelte, obwohl doch eigentlich immer wir gescholten werden. Der grüne Antrag wütet gegen Pädagogen, die Schülerinnen und Schüler aus den Klassen entfernen, weil sie sie nicht als kompatibel mit ihrem Unterricht ansehen. – Also, ganz so leicht, liebe Frau Beer, machen es sich die Lehrerinnen und Lehrer in unserem Land nun wahrlich nicht.

(Beifall von der CDU – Sigrid Beer [GRÜNE]: 36 % der Fälle!)

Aber lassen Sie uns jetzt ernsthaft über das sprechen, was unter der Schminke liegen könnte. Da komme ich mit gutem Gewissen auf mein Gerede von gestern zurück. Was das Wiederholen einer Klasse angeht, so haben die deutschen Schulen in der Tat eine nicht immer gute Tradition. Zum Teil hängen wir noch einem veralteten Weltbild nach, von dem wir uns langsam trennen sollten. Auch die Diagnosefähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer kann verbessert werden.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Ach!)

Die Entwicklung der Schüler müsste viel kontinuierlicher dokumentiert und nicht erst im Zeugnis benotet werden.

Aber das Sitzenbleiben an sich als Ursache der Fehlentwicklungen anzusehen, ist ein Trug

schluss. Jeder weiß, dass es positive wie negative Facetten haben kann. Denn natürlich sind mit dem Sitzenbleiben auch ungezählte pädagogische Erfolge erzielt worden.

Welche Lehrerin, welcher Lehrer könnte nicht von Kindern oder Jugendlichen berichten, die eine Klasse drunter in einem neuen Umfeld aufgeblüht sind, denen das Sitzenbleiben eine Atempause gegeben hat, denen es den Weg zu einer dann problemlosen Schulkarriere geebnet hat.

Auch neuere Studien belegen durchaus Positives. Eine repräsentative Untersuchung aus dem Jahre 2003 zeigt, dass Sitzenbleiber eine um 50 % bessere Chance haben, einen höheren Schulabschluss zu erreichen, als nicht Sitzenbleiber, die sich Jahr für Jahr knapp durchwursteln. In vielen Fällen hat der – noch so ein schrecklich klarer Begriff – Schuss vor den Bug zum Erfolg geführt.

Auch die Betroffenen selbst sind oft klarsichtiger als ihre nach Prestige schielenden Eltern. Die Schüler selber halten das Sitzenbleiben mit Dreiviertelmehrheit für ein vernünftiges Instrument – so wenigstens in einer bayerischen Umfrage.

Aber natürlich gibt es auch die Kehrseite: Jugendliche, die in ihrer neuen Klasse den Halt vollends verlieren, Schülerschicksale, die von einer einzigen Klassenarbeit, einer gnädigen Vier minus abhängen, scheinbare Willkürentscheidungen von Lehrern, Frustration, Enttäuschung, Bitterkeit, Zweifel am Selbstwert – das sind die hässlichen Gesichter des Sitzenbleibens.

59.082 Sitzenbleiber in Nordrhein-Westfalen im vorletzten Schuljahr – davon übrigens 13.000 freiwillig –, das ist zu viel, und zwar nicht aus statistischen Gründen, sondern weil es um 59.082 junge Menschen geht, Menschen, die ein Problem in der Schule haben. Dieses Problem muss einen nicht aus der Bahn werfen, aber es muss verantwortungsvoll angegangen werden.

Wenn eine Schülerin, wenn ein Schüler den Anschluss in der Klasse verliert, dann ist das – um ein Bild zu gebrauchen – irgendwie auch einer Erkrankung vergleichbar. Sie mag im Einzelfall nicht besonders schwer sein, aber sie muss rechtzeitig behandelt werden.

Wir, die wir die Rahmenbedingungen für Schule vorgeben, sollten mit diesem Problemkreis umgehen wie Ärzte mit Krankheiten. Wir sollten auf Prävention setzen und, wenn die Krankheit doch ausgebrochen ist, auf eine möglichst schnelle Behandlung. Der Kranke muss Vitamine bekommen, Medizin bekommen, aber es darf ihm nicht nur Rouge auf die Wangen geschminkt werden.

Was wir jedenfalls nicht dürfen, ist, die Krankheit zu instrumentalisieren oder sie zu verbergen. Instrumentalisiert wird sie von denjenigen, die das alles nur als Hebel sehen wollen, um unser Schulsystem im Grundsatz umzumodeln. Als hätten wir nicht ganz andere Sorgen! Frau Löhrmann, Frau Beer, wie gut könnte man mit Ihnen über all die großen und kleinen Sorgen der Schule reden, wenn Sie nur nicht bei jeder einzelnen Schulfrage dieses verzückte Schielen nach der Einheitsschule entwickeln würden.

(Beifall von CDU und FDP – Allgemeine Hei- terkeit)

Noch viel schlimmer aber sind die Verstecker, die Verberger. Da bleibt mir nun nichts anderes übrig, als die frühere Ministerin anzuschauen. Sie und die SPD haben uns noch vor der Landtagswahl mit der Ankündigung erfreut, sie wollten Schritte ergreifen, um die Zahl der Nichtversetzungen zu verringern. Von konkreten Maßnahmen hörte man jenseits einiger weniger Sprechblasen um den Begriff Förderkultur dann aber absolut nichts.

Frau Schäfer wollte doch tatsächlich Leistungsdefizite durch den formalen Akt der Aufhebung der Versetzungsbestimmungen beseitigen. Wir haben uns letztes Jahr heftig über dieses Ansinnen gezankt. Ich nenne Ihnen jetzt dieselben Vorschläge, die letztes Jahr von der ehemaligen Schulministerin schnöde ignoriert wurden, von der neuen Schulministerin aber hoffentlich mit wohlwollendem Interesse aufgenommen werden.

Wo Rot-Grün sagt: „Die Latte liegt zu hoch, wir nehmen sie weg“, da sagen wir: Helft den jungen Menschen, höher zu springen. Es muss Schluss sein mit dem nachträglichen Kurieren an Symptomen.

(Beifall von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

Der Schlüssel zur Verringerung der Sitzenbleiberzahlen liegt nicht in der nächsten Klasse, sondern im laufenden Schuljahr; er liegt in dem Schuljahr, in dem sich die Probleme abzeichnen. Hier will ich individuelle Förderung, hier will ich spezielle Nachhilfekurse. Einige von Ihnen wissen es schon: Ich schlage dafür etwa den Samstagmorgen vor, Frau Ministerin, verpflichtend für alle laut Halbjahreszeugnis in Kernfächern Gefährdeten.

(Beifall von Holger Ellerbrock [FDP])

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden sehen, wie schnell dann die eher Faulen wieder fleißig werden und wie schnell die eher Schwachen in kleinen Lerngruppen besser werden.

Ein weiteres Mittel könnte die zeitweise Flexibilisierung der Stundentafel sein. Aber auf diese Einzelheiten will ich bei anderer Gelegenheit eingehen.

Eine Bemerkung noch zum Schluss, auch wenn sie Ihnen von Rot-Grün wehtut. Wenn es in Zukunft vernünftige, verpflichtende, gebundene Ganztagsangebote an unseren Schulen – zunächst an den Hauptschulen – geben wird, dann werden all diese Fördermaßnahmen viel leichter zu organisieren sein. In Rheinland-Pfalz gibt es echte Ganztagsschulen mit fester Hausaufgabenbetreuung und wirklich individueller Förderung. Da sank die Zahl der Nichtversetzungen in den letzten Jahren um ein Drittel.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht um junge Menschen, die nur eine Kindheit, nur eine Jugend haben. Ihnen muss jetzt geholfen werden: klug, schülerorientiert, zielgerichtet, rechtzeitig und vor allem konkret. Alles andere wäre nur Worthuberei. – Vielen Dank fürs Zuhören.

(Beifall von CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, aus aktuellem Anlass noch einmal der Hinweis: Weder eine Zwischenfrage noch die Antwort darauf werden auf die Redezeit angerechnet. Das heißt, Sie können Zwischenfragen gerne zulassen, denn es verkürzt nicht Ihre Redezeit.