Meine Damen und Herren, aus aktuellem Anlass noch einmal der Hinweis: Weder eine Zwischenfrage noch die Antwort darauf werden auf die Redezeit angerechnet. Das heißt, Sie können Zwischenfragen gerne zulassen, denn es verkürzt nicht Ihre Redezeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Herr Solf, am Anfang und am Ende Ihrer Rede hatte ich eben das Gefühl, dass wir uns inhaltlich sicherlich hätten miteinander austauschen können. Über die Mitte Ihrer Rede würde ich mich mit Ihnen ungern unterhalten.
Zwei Vorbemerkungen: Sitzenbleiben ist kein Trugschluss, Sitzenbleiben ist keine Krankheit, sondern Sitzenbleiben ist eine Folge des Schulsystems.
Sitzenbleiben ist zudem volkswirtschaftlich unsinnig, lernpsychologisch höchst fragwürdig, pädagogisch in 99 % aller Fälle vermeidbar und für die jungen Menschen sinnlos, eine Verschwendung ihrer Lebenszeit.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie – vor dem Hintergrund meiner eben gemachten Bemerkung – eine Zwischenfrage von Herrn Abgeordneten Ellerbrock, FDP-Fraktion?
Es wird Sie daher sicherlich nicht wundern, dass wir dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen in vollem Umfang zustimmen. Dieser Antrag reagiert auf die Ergebnisse neuer Bildungsforschung und weist den Weg für einen besseren, zielorientierteren und vor allem gerechteren Bildungsansatz. Wer mich in meiner Funktion als langjährige Elternvertreterin oder Äußerungen von mir kennt, der weiß, dass ich mich schon lange für ein Bleiberecht an den Schulen ausgesprochen habe, an denen Kinder aufgenommen werden.
Bekanntlich zeichnet sich das deutsche Schulsystem durch einen massiven Anteil von Aussortieren und Filtern im Verhältnis zum Fördern aus. Die Möglichkeit des Sitzenbleibens gehört ebenso zum Aussortieren wie die Möglichkeit des Abschulens. Beides jedoch verhindert eine konsequente Förderung der Schülerinnen und Schüler; denn in dem Maße, wie eine Schule ihre Schüler aussortiert, bemüht sie sich weniger, Kinder zu fördern.
In der in der Regel recht emotional geführten Diskussion um das Sitzenbleiben – teilweise auch sehr amüsant, wie wir gerade bei Herrn Solf feststellen konnten – werden natürlich auch immer wieder prominente Beispiele für das Sitzenbleiben angeführt. Herr Solf hat eben schon auf Herrn Stoiber hingewiesen, Frau Sommer hat sich auch als Sitzenbleiberin geoutet, und trotzdem haben diese Menschen eine erstaunliche Karriere vorzuweisen.
Aber diese interessanten Beispiele können nicht darüber hinwegtäuschen, dass für viele Kinder Sitzenbleiben mit einem enormen Motivationsverlust, mit einem Knick in der Biografie verbunden ist und am Ende häufig eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird, nämlich dann, wenn als Folge des Sitzenbleibens die Verweisung auf eine andere Schulform eintritt.
Natürlich, meine Damen und Herren, muss Sitzenbleiben nicht bei allen Schülerinnen und Schülern zu einer dauerhaften Identitätsstörung führen. In bestimmten Ausnahmefällen, etwa bei langer Krankheit eines Schülers, mag es auch sinnvoll sein, eine Klasse zu wiederholen. In solchen Fällen sehen auch die schulisch erfolgreichen Staaten dieser Welt die Möglichkeit des freiwilligen Wiederholens vor.
Die zwangsweise Wiederholung eines ganzen Schuljahres bringt aber in der Regel keinerlei Vorteile. Der Aufwand wäre nur dann gerechtfertigt, wenn das Sitzenbleiben die fachlichen Leistungen der Schüler verbessern oder zumindest ihre Motivation stärken würde. Das Gegenteil ist aber in der Regel der Fall.
Untersuchungen weisen darauf hin, dass Klassenwiederholungen außer einer künstlichen Verlängerung der Ausbildungszeit wenig bringen. In den Fächern, in denen er gescheitert war, verbessert sich der Schüler kurzfristig, in anderen Disziplinen langweilt er sich. Warum soll er also Physik wiederholen, wenn er in Englisch fünf steht?
In einer europäischen Studie werden Untersuchungen zum Sitzenbleiben vorgestellt und bewertet. Die Schlussfolgerung lautet, dass die negativen Folgen des Sitzenbleibens gegenüber den zu erwartenden Vorteilen immer überwiegen. Und weiter: Die skandinavischen Länder sowie Japan, die die Klassenwiederholung abgeschafft haben, weisen in der Regel im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Ergebnisse aus.
Die Ergebnisse dieser internationalen Vergleiche widerlegen die Annahme, dass ein gewisses Maß an Schulversagen der Preis für ein leistungsfähiges Schulsystem sein muss. Leistungsfähigkeit leitet sich nicht aus Versagen, sondern aus Motivation ab. Hier sind wir, wahrscheinlich in einem ganz entscheidenden Punkt, sehr unterschiedlicher Auffassung.
Der Schüler durchläuft stur das ganze Schuljahr noch einmal und erfährt dabei in den problematischen Fächern keine besondere Förderung. Lediglich der Lehrerwechsel kann freilich manchmal Abhilfe bringen. Denn es ist durchaus bekannt, dass derselbe Schüler bei einem anderen Lehrer einen deutlich besseren Leistungserfolg zeigt.
Die deutsche Schule braucht eine Förderkultur statt der bisherigen Selektionskultur. Es ist falsch, Schüler ohne Förderung einfach zum Wiederholen einer Klasse zu verurteilen. Das zeigt für ihren weiteren Lernerfolg wenig Wirkung. Der Schüler wird aus einer Gruppe herausgerissen. Und zum Faktor der Langeweile kommt dann auch noch der
Lernen hat weniger damit zu tun, ob eine Stunde erteilt wird, als vielmehr damit, ob es gelingt, Schülerinnen und Schüler zu motivieren. Lernen ist nämlich, meine Damen und Herren, ein aktiver Prozess, den man nicht verordnen, sondern befördern kann. Viele Faktoren sind in diesem Prozess von Bedeutung. Druck, mit dem die deutsche Schule glaubt, Kinder motivieren zu können, ist für einen großen Teil der Schülerinnen und Schüler nicht die richtige Zugangsmöglichkeit, eine klare Beschreibungen von Forderungen und Zielen bei gleichzeitiger Förderung aber wohl.
Es ist völlig unbestritten, dass unser Bildungssystem keine begabungsgerechte Förderung ermöglicht. Die letzte Pisa-Studie hat dies für NRW noch einmal bescheinigt.
Aber, meine Damen und Herren von den Regierungsbänken, mit Ihren Ansätzen eines verstärkten Sortierens von Schülern und Schülerinnen, Ihrem Vorschlag vom verbindlichen Gutachten am Ende der Grundschulzeit, dem Aushebeln des Elternwillens am Ende der Grundschulzeit und Ihrer Definition von Begabung in Unterscheidung von praktischen und theoretischen Begabungen befinden Sie sich in einer sehr deutschen Bildungstradition, die doch leider kontraproduktiv und falsch ist.
Das Grundproblem ist, dass in den Köpfen der meisten Menschen – natürlich auch in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer – ein sehr traditionelles Lernmodell vorherrscht: klare Stoffvorgaben, fordernde Lehrer, fleißige Schüler. Das ordentliche Aussortieren der Schüler bildet den Kern dieses Lernmodells. Ziel ist es, eine homogene Lerngruppe herzustellen, denn gutes Lernen – so die dahinter stehende Philosophie – funktioniert nur mit Schülern, die die gleichen Lernvoraussetzungen und das gleiche Lernziel haben. Die Lernschwachen müssen deshalb aus der Klasse entfernt werden.
Und das Ergebnis: Lehrerinnen und Lehrer haben verlernt, die Chancen heterogener Lerngruppen wirklich zu nutzen. Stattdessen klagen sie immerfort über die falschen Schüler. Das ist geradezu grotesk.
Viele Befürworter des Sitzenbleibens wenden ein, die Schule solle auf das Leben vorbereiten. Es gehe um Erfolg und Misserfolg, es zählten Leistung und Wettbewerb. – Genau darum geht es, meine Damen und Herren.
Länder wie Japan und England, Schweden und Finnland, sind Leistungsgesellschaften – nur, dass die Endergebnisse dort besser sind, und zwar ohne Sitzenbleiben. Es ist auch erstaunlich, dass die Schule dort auf das Leben vorbereiten kann.
Es wundert auch nicht, dass nach den Vorstellungen vieler Menschen in Deutschland strenge Versetzungskriterien als Zeichen eines hochwertigen Unterrichtes gelten. Doch die Forschung zeigt, dass Sitzenbleiben die Leistung nicht fördert, sondern ausbremst.
250.000 Schülerinnen und Schüler bleiben jährlich in Deutschland sitzen. Jede Schülerin und jeder Schüler kostet den Staat nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 4.600 € pro Schuljahr. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass ein Wiederholungsjahr billiger ist. Sitzenbleiben kostet also richtig Geld. Wenn die Aufwendungen für Wiederholungen in zielgerechte Förderung investiert würden, könnte das Schulsystem nicht nur effektiver, sondern auch deutlich gerechter arbeiten.
Man kann durchaus die Behauptung aufstellen, dass Sitzenbleiben eine Verschwendung von Steuergeldern ist. Herr Prof. Dr. Prenzel hat deshalb auch in der letzten Pisa-Studie einen erheblichen Handlungsbedarf aufgezeigt.
Die aktuelle Pisa-Studie enthält zwei sehr interessante Hinweise, die ich auch der verantwortlich handelnden Landesregierung noch einmal mit auf den Weg geben möchte. Auf Seite 40 der Zusammenfassung der Pisa-Studie heißt es:
Zu denken geben jedoch nach wie vor die sehr hohen Quoten von verzögerten Schullaufbahnen, die zwar deutlich zwischen den Ländern variieren, aber überall einen großzügigen, wenn nicht verschwenderischen Umgang mit der Ressource Lebenszeit erkennen lassen. Die Quoten von Zurückstellungen und Wiederholungen hängen sehr eng mit der Problematik der hohen Anteile von Schülerinnen und Schülern im unteren Leistungsbereich zusammen.
Herr Prof. Prenzel hat gestern noch einmal darauf hingewiesen, dass man auch feststellen kann, dass diese Schülerinnen ja oft ein- oder zweimal sitzen geblieben sind und immer noch im unteren Leistungsbereich liegen, und zwar in der Regel in der Hauptschule. Das heißt, an diesem Punkt kann man festhalten, dass Sitzenbleiben für diese Schüler schlicht und einfach nichts gebracht hat.
Unterschiede in den Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen können keinesfalls durch soziale und wirtschaftliche Faktoren auf der Individualebene oder auf regionaler Ebene determiniert werden.
Die großen Anteile in den Unterschieden zwischen Jugendlichen gehen nicht auf die Voraussetzungen in der Schülerschaft zurück, womit den Schulen und dem Unterricht für die Entwicklung von Schülerkompetenzen eine zentrale Rolle zukommt.
Meine Damen und Herren, es kommt also auf die Leistung der Einzelschule an, inwieweit sie sich für die Schüler und Schülerinnen verantwortlich fühlt, inwieweit sie Förderung statt Selektion praktiziert. Eine Bonner Schule hat gerade ausgerechnet, dass sie, wenn sie Schüler und Schülerinnen nicht sitzen lassen würde, 165.000 € in einem Jahr sparen könnte.
Hier mit rigiden Erlassen dieses Engagement vor Ort kaputtzumachen, ist nicht nur für die Schüler und Schülerinnen verhängnisvoll und kontraproduktiv, sondern ist für die gesamte Leistungsfähigkeit des Schulsystems gefährlich. Es gilt, die Einzelschule stärker in den Fokus zu nehmen, ihr Verantwortungsspielräume einzuräumen. Dabei muss die Schule Ziele und Perspektiven für die Arbeit entwickeln und selber im Rahmen dieses Kerncurriculums festlegen können, wie sie Schüler fördert.
Bisher warten Schulen vergebens auf den laut angekündigten Wegfall des Dirigismus aus Düsseldorf. Es sollte schnell darüber nachgedacht werden, ob Schulen, die auf das Sitzenbleiben als pädagogisches Mittel verzichten wollen, nicht ein zusätzliches Budget zugewiesen bekommen, aus dem sie Förderangebote finanzieren können; denn, wie oben aufgeführt, sparen sie jährlich durch die Verringerung der Schülerjahre beträchtliche Summen.
Ein letzter Hinweis sei mir erlaubt: Das heimliche Vorbild Bayern hat in der Sekundarstufe I die Versetzung auf Probe eingeführt. Bayern praktiziert eine Zusammenarbeit mit Kanada. Kanada kennt übrigens auch kein Sitzenbleiben. Schüler und Schülerinnen können sehr eigenverantwortlich Credit-Points erwerben und ihr Wissen nachweisen. Damit bestimmen sie teilweise das Tempo ihres Lernens selber. Das ist auch ein Weg für Nordrhein-Westfalen. – Ich bedanke mich.
Frau Kollegin, Ihr flammendes Plädoyer gegen ein Sitzenbleiben, was Sie schulsystemorientiert begründen, lässt mich folgende Frage stellen: Können Sie es ausschließen, dass Sitzenbleiben durchaus etwas mit einer Korrelation zu IQ und Fleiß zu tun hat?
Ich kann das nicht hundertprozentig ausschließen, aber ich kann Ihnen sagen, dass das im Wesentlichen etwas damit zu tun hat, wie ich die Veranlagung des jeweiligen Schülers durch Motivation befördere. Und Sitzenbleiben ist keine Motivation.
Vielen Dank. Damit hätten wir die Frage auch geklärt. – Als nächste Rednerin kommt jetzt Frau Pieper-von Heiden, FDP-Fraktion, zu Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Dass Sitzenbleiben Lerngruppen homogenisiere, ist wirklich eine eigenwillige Interpretation dieser leider manchmal nicht zu umgehenden Maßnahme. Sie widersprechen sich selbst mit dieser Aussage bei Ihrer späteren Feststellung im Antrag, Frau Beer, dass Sitzenbleiber häufig sehr bald erneut das Schlusslicht einer Klasse bilden.