Protokoll der Sitzung vom 01.09.2005

Allerdings, meine Damen und Herren, darf die notwendige Neuordnung des europäischen Chemikalienrechts nicht dazu führen, dass die Ziele des Umwelt- und Verbraucherschutzes auf der einen Seite und die Interessen der Industrie auf der anderen Seite gegeneinander ausgespielt werden. Da unterstützt die Landesregierung die Ziele von REACH. Dies insbesondere, meine Damen und Herren, weil der Schutz der Gesundheit und der Umwelt, die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und der chemischen Industrie hier entsprechend umgesetzt werden.

Herr Kollege Kuschke, wenn Sie in diesem Zusammenhang dankenswerterweise von der 1:1Umsetzung gesprochen haben, dann kann ich das natürlich grundsätzlich begrüßen. Auch die Landesregierung spricht ja in vielen Bereichen, die die Europapolitik betreffen, von der 1:1-Umsetzung. Ich habe nur den Eindruck, dass es hier gerade gewährleistet ist, weil es sich um eine Verordnung handelt, die innerhalb der gesamten Europäischen Union entsprechend gilt.

Auch die Entwicklung alternativer Testmethoden ohne Tierversuche ist durch REACH gewährleistet.

Als zuständiger Minister für Umwelt- und Verbraucherschutz will ich im Sinne des Umwelt- und Verbraucherschutzes, dass REACH erfolgreich wird. Wir stehen, wie im fraktionsübergreifenden Antrag ausgeführt, für eine moderne Chemikalienpolitik, die Gesundheit und Umwelt wirksam schützt.

Herr Kollege Remmel, ich kann Ihren Antrag nicht ganz verstehen. Sie hätten bei etwas gutem Willen die Möglichkeit gehabt, wie früher bei dem gemeinsamen Antrag mitzumachen. Eigentlich

betonen Sie in Ihrem Entschließungsantrag nur, dass die frühere Umweltministerin kleineren und mittleren Unternehmen Informationsmaterial zur Verfügung gestellt hat, und zum Schluss fordern Sie, die weitere politische Entscheidungsfindung zu REACH, die gegenwärtig in Brüssel stattfindet, nicht mit unnötigen Forderungen zu überfrachten und den Gesamtprozess positiv zu begleiten.

Von der politischen Konsequenz her steht das auch in dem fraktionsübergreifenden Antrag. Deshalb stehen wir zu dem fraktionsübergreifenden Antrag für eine moderne Chemikalienpolitik, die Gesundheit und Umwelt schützt. Wir werden aber verstärkt dafür eintreten - das will ich noch einmal sagen -, dass die Chemikalienpolitik umsetzbar gestaltet wird. Sie darf nicht zu einem Jobkiller in Nordrhein-Westfalen werden.

Denn - damit erzähle ich Ihnen nichts Neues - die chemische Industrie hat für unser Land NordrheinWestfalen einen zentralen Stellenwert. Kollege Kress ist auf dieses Thema eingegangen. In keinem anderen Industriezweig wird in NordrheinWestfalen mehr Umsatz erzielt als in der chemischen Industrie. Als drittgrößter industrieller Arbeitgeber mit 130.000 Beschäftigten stellt die chemische Industrie aus Nordrhein-Westfalen etwa jeden zehnten Arbeitsplatz in der europäischen und etwa jeden dritten in der deutschen Chemie. Der Chemiestandort Nordrhein-Westfalen darf also nicht gefährdet werden.

Zu den Kosten von REACH für die Industrie sind zahlreiche Studien veröffentlicht worden. Die jüngste Studie von KPMG, die im Auftrag des europäischen Chemieverbandes und des europäischen Industrieverbandes erstellt wurde, zeigt im Gegensatz zu früheren Studien, dass die Kosten für die Industrie teilweise deutlich geringer sind, als bisher befürchtet. Sie zeigt gleichzeitig, dass die möglichen Belastungen für die Unternehmen je nach Branche, Produktionsmenge und zukünftiger Verfügbarkeit der Chemikalien sehr unterschiedlich sein können.

Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass eine Verlagerung von Produktionsstätten allein aufgrund des REACH-Vorschlages unwahrscheinlich ist und für manche Sektoren sogar Vorteile entstehen können. Darüber hinaus hat diese Studie wie schon das Planspiel zu REACH in NordrheinWestfalen gezeigt: Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen können finanzielle Schwierigkeiten auftreten. Das sind - darauf haben die Vorredner schon hingewiesen - 85 % der chemischen Unternehmen in Nordrhein-Westfalen. Von einer solchen finanziellen Mehrbelastung werden allerdings nicht nur Unternehmen in Europa be

troffen sein, sondern auch Chemieunternehmen außerhalb Europas, die in die Europäische Union importieren.

Deshalb muss der REACH-Entwurf kostengünstiger und praxistauglicher gestaltet werden. Deshalb brauchen diese Unternehmen unsere Unterstützung. Deshalb lehnen wir als Landesregierung eine Ausweitung auf unbegründete Anforderungen ab. Ziel der Landesregierung ist es, dass die finanzielle Mehrbelastung durch ein praxisgerechtes System in einem erträglichen Rahmen gehalten wird. Besonders die kleinen und mittleren Unternehmen müssen auch weiterhin am Markt bestehen können.

Auf der anderen Seite müssen wir die möglichen gesellschaftlichen Folgekosten für Umwelt- und Gesundheitsschäden im Blick behalten. Die Zahlen, die uns hierzu vorliegen, schwanken entsprechend.

Nach wie vor wird der REACH-Verordnungsentwurf intensiv diskutiert. Im Europäischen Parlament liegen 5.000 Änderungsvorschläge vor. Wenn ich richtig informiert bin, werden diese Diskussionen und Entschließungen unter dem Vorsitz des nordrhein-westfälischen Europaabgeordneten Florenz bearbeitet und entschieden.

Herr Minister, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Im November soll die erste Lesung im Europäischen Parlament stattfinden. Die Landesregierung wird sich dafür einsetzen, dass im Vorfeld der parlamentarischen Debatte die Interessen des Landes, des Umwelt- und des Verbraucherschutzes und der Wirtschaft in Brüssel gleichberechtigt vertreten und entsprechend umgesetzt werden. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von CDU und FDP)

Danke schön. - Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Ich lasse erstens über den Antrag der CDU, der SPD und der FDP Drucksache 14/128 - 2. Neudruck - abstimmen. Wer diesem Antrag die Zustimmung gibt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Die Fraktion der Grünen. Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag mit großer Mehrheit gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll aufgeteilt werden in zwei Abstimmungen. Ich lasse zunächst über Punkt VI des Entschließungsantrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 14/160 abstimmen. Wer Punkt VI zustimmen kann, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist Punkt VI gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Ich lasse drittens über den gesamten Entschließungsantrag Drucksache 14/160 abstimmen. Wer stimmt dafür? - Wiederum die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag mit großer Mehrheit gegen die Stimmen der Grünen abgelehnt.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt

10 Wohnen und Pflege im normalen Wohnumfeld - selbstständiges Leben durchgängig sichern helfen

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 14/114

Ich eröffne die Beratung und gebe Frau Steffens von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir hatten hier im Land Nordrhein-Westfalen in der letzten Legislaturperiode die Enquetekommission „Situation und Zukunft der Pflege in NRW“. Ich glaube, dass es in dieser Enquetekommission außer dem Abschlussbericht eine Menge an Konsens zwischen allen Fraktionen gab und dass es lohnenswert und notwendig ist, auch in dieser Legislaturperiode anhand der Ergebnisse der Enquetekommission weiterzudiskutieren.

Bundesweit hat wohl kaum ein Enquetekommissionsbericht so viel Resonanz gefunden wie der Bericht dieser Enquetekommission. Bis heute gehen bei uns zahlreiche Nachfragen und Anfragen ein. Es gibt aber nicht nur die Anfragen bei uns, sondern insgesamt sehr viel Resonanz und Diskussionsbedarf zu diesem Enquetekommissionsbericht. In den Kommunen wird er diskutiert. In den Fachkreisen wird er diskutiert. Ich glaube, dass es sich bei diesem Enquetekommissionsbericht auch wirklich lohnt, ihn zu diskutieren.

Jenseits des Abschlussberichts gab es aber auch einen breiten Konsens zwischen allen Fraktionen dahin gehend, dass dieser Enquetekommissionsbericht kein Bericht für die Schublade sein soll, sondern dass genau dieser Bericht auch wirklich perspektivisch etwas an der Situation der pflegebedürftigen Menschen und an der Situation der älteren Menschen in Nordrhein-Westfalen verändern soll.

Wenn wir wollen, dass das wirklich so ist und dass dieser Enquetekommissionsbericht nicht in der Schublade verschwindet, dann ist es meines Erachtens notwendig, dass wir versuchen, die Punkte, die wir als Konsens festgehalten haben, auch unter geänderten Mehrheitsverhältnissen gemeinsam konsensual auf den Weg zu bringen - so, wie wir den Bericht formuliert haben. Deswegen ist es mir ein Anliegen, heute und hier wieder in eine Diskussion einzusteigen, sie nicht abzuschließen, sondern sie sehr wohl in den dafür zuständigen Ausschüssen weiterzuführen, aber gemeinsam zu schauen, wie man einen größtmöglichen Konsens herstellen kann, um die Empfehlungen der Enquetekommission auch Realität werden zu lassen und in Nordrhein-Westfalen etwas zu verändern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wohnen ist der Aspekt, mit dem wir jetzt den Aufschlag gemacht haben - vielleicht, weil wir die entsprechende Arbeitsgruppe geleitet haben, aber auch, weil Wohnen aus unserer Sicht wirklich zentrale Bedeutung für den Erhalt der Selbstständigkeit und der Gesundheit älterer Menschen hat. Man muss sich einmal überlegen, wie man selber alt werden möchte.

Bisher habe ich überwiegend Menschen getroffen, die sagen: Ich möchte mein Alter selbstbestimmt planen. Ich möchte größtmögliche Selbstständigkeit haben. Ich möchte schon jetzt anfangen, meine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Vor allen Dingen möchte ich im Alter nicht in einer stationären Einrichtung, nicht in einer Sonderwohnform leben. Vielmehr möchte ich mein Alter in der eigenen Wohnform, in der eigenen Wohnung, in der eigenen Häuslichkeit planen und gestalten.

Zukunftsperspektiven für das Wohnen und Leben im Alter bzw. bei Pflegebedarf - das ist ein wichtiger Punkt, den wir auch hier gemeinsam für die Menschen im Land voranbringen müssen. Der Schwerpunkt wird in der Zukunft nicht vorrangig im Bereich der Sonderwohnformen liegen - nicht nur aus Sicht der Betroffenen. Ich glaube, die Zukunft wird wirklich eine andere sein müssen. Sie wird in der Ausgestaltung eines sehr differenzier

ten und flexiblen Angebots an normalen Wohn- und Lebensräumen liegen. Das bedeutet, dass wir aus unserer Sicht bestimmte Prinzipien und Aspekte bei der Gestaltung von Wohn- und Pflegeangeboten immer wieder einbeziehen müssen.

Das heißt: Wie ich eben schon gesagt habe, müssen die Erhaltung der Selbstständigkeit und die Selbstbestimmung der Menschen die Grundlage bei der Planung und Ausrichtung der Versorgungsstruktur sein. Wohn- und Versorgungsform im Alter und im Fall von Pflegebedürftigkeit müssen an der Normalität und vor allem auch an den Wünschen der pflegebedürftigen Menschen orientiert werden.

Ein zentrales Anliegen muss dabei die Gestaltung von Wohn-, Pflege- und Hilfsangeboten sein: ganz normal in normalen Wohngebieten, im normalen Umfeld. Die Rahmenbedingungen für einen Verbleib in privaten Wohnungen müssen weiter verbessert werden. Nachbarschaftssysteme, Netzwerke und Selbsthilfeorganisationen müssen weiterhin gestärkt und weiterentwickelt werden. Die Entwicklung eines individuellen Pflege- und Hilfemixes aus professionellen wie aus informellen Angeboten muss weiterhin gefördert werden.

Wir brauchen aber auch eine sehr spezifische zielgruppenorientierte Ausrichtung. Wir brauchen spezielle Angebote für demenziell erkrankte Menschen, für Migrantinnen und Migranten, für ältere Menschen mit Behinderung, für Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung oder für jüngere pflegebedürftige Menschen. Dafür brauchen wir unterschiedliche, sehr differenzierte Angebote. Diese müssen wir auch hier in NordrheinWestfalen weiterentwickeln.

Wir haben heute hier mit diesem Antrag, wie gesagt, einen ersten Aufschlag gemacht. Es gibt eine Reihe von ganz konkreten Punkten, die wir in der Enquetekommission diskutiert hatten und mit auf den Weg bringen wollten. Ich will als Beispiel nur nennen, dass wir uns darüber im Klaren waren, dass man schnellstmöglich das Heimgesetz überprüfen und überarbeiten muss und dass wir dies schnellstmöglich im Bund gemeinsam voranbringen müssen.

Wir waren uns auch darüber im Klaren, dass man bestimmte Bereiche auch weiterhin über das Wohnungsförderprogramm finanzieren und unterstützen muss - gerade neue Wohnformen, gerade die Bereiche, die anders überhaupt nicht finanzierbar sind. Ferner waren wir uns darüber im Klaren, dass man versuchen muss, über Programme wie „Neue Wohnformen für Hilfe- und Pflegebe

dürftige“ bestimmte Bereiche weiter zu fördern und zu unterstützen.

Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass wir bei allen Kontroversen, die man unter den neuen Mehrheitsverhältnissen haben wird - und auch haben muss; denn das ist für eine Demokratie und auch für dieses Land wichtig -, an einem Punkt wie diesem auch die Ergebnisse, den Konsens und die Empfehlungen aus der letzten Legislaturperiode aufgreifen und dass wir bei diesem Thema, das für alle älteren Menschen und auch für uns, die wir irgendwann älter werden, so wichtig ist, weiterhin konsensual zusammenarbeiten und hier gemeinsam einen Weg finden, die uns allen hoffentlich wichtigen Bereiche voranzubringen.

In diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Debatte hier und auch in Zukunft in den Ausschüssen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Danke schön, Frau Steffens. - Von der CDU spricht nun Frau Monheim.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag „Wohnen und Pflege im normalen Wohnumfeld - selbstständiges Leben durchgängig sichern helfen“ bringt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erneut ein Thema auf die Tagesordnung, das ohne Zweifel zu den drängenden Zukunftsaufgaben gehört.

Es ist richtig, Frau Steffens, wir haben bei diesem Thema einen großen Konsens, und wie Sie hoffe ich, dass wir diesen Konsens im Sinne der betroffenen Menschen auch weiter haben. Denn die im Antrag beschriebene demographische und soziale Entwicklung wird insbesondere auf die Zukunft der Pflege erhebliche Auswirkungen haben und sie stellt damit Gesellschaft und Politik vor große Herausforderungen.

Einige Schlaglichter sollen das beleuchten: In den kommenden drei Jahrzehnten wird der Anteil der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in NRW von heute 25 % auf über 30 % ansteigen, wobei die Altersgruppe der über 75-Jährigen am stärksten wächst.

Hohes Alter ist glücklicherweise nicht zwangsläufig von Krankheit und Pflegebedürftigkeit begleitet, doch der Bedarf an Entlastung und unterschiedlicher Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags und an pflegerischer Hilfe nimmt zu.

Derzeit erhalten etwa 460.000 Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. 70 % von ihnen werden in ihrer häuslichen Umgebung durch Angehörige und/oder durch ambulante Pflegedienste betreut. Es ist davon auszugehen, dass bis 2040 die Zahl der Pflegebedürftigen auf ca. 700.000 ansteigen wird; das ist eine Zunahme um mehr als 50 %.

Auf diese Entwicklung - das haben wir in den Debatten in den vergangenen Jahren immer wieder hervorgehoben - sind wir nicht vorbereitet. Darum hat die CDU-Landtagsfraktion Anfang 2002 beantragt, eine Enquetekommission zur „Situation und Zukunft der Pflege in Nordrhein-Westfalen“ einzurichten. Der Landtag ist diesem Antrag einstimmig gefolgt und hat sich damit den von der CDU formulierten Auftrag zu Eigen gemacht. Ich zitiere:

„Der Landtag fühlt sich dem Ziel verpflichtet, die Qualität der Pflege in Nordrhein-Westfalen zu sichern und zu verbessern. Aus diesem Grund soll die Enquetekommission die Situation der Pflege in NRW untersuchen und prüfen, welche Rahmenbedingungen das Land schaffen und welche Impulse es geben muss, um die Qualität der Pflege zu gewährleisten und auszubauen. Dabei muss es Ziel einer vorausschauenden Politik sein, eine menschenwürdige Pflege zu ermöglichen, die es den betroffenen Menschen gestattet, in Würde alt zu werden.“