Protocol of the Session on March 10, 2004

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Meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zur 41. Tagung des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Hiermit eröffne ich diese 41. Tagung. Das Haus ist ordnungsgemäß einberufen und beschlussfähig. Erkrankt sind die Herren Abgeordneten Schröder, Jensen-Nissen, Wiegard und de Jager. - Ich wünsche allen Abgeordneten eine gute Genesung!

(Beifall)

Beurlaubt ist der Herr Abgeordnete Dr. Graf Kerssenbrock.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe Ihnen eine Aufstellung der im Ältestenrat vereinbarten Redezeiten übermittelt. Der Ältestenrat hat sich verständigt, die Tagesordnung in der ausgedruckten Reihenfolge mit folgenden Maßgaben zu behandeln: Zu den Tagesordnungspunkten 4, 6, 16, 19, 20, 24 und 26 ist eine Aussprache nicht geplant. Zur gemeinsamen Beratung vorgesehen sind die Tagesordnungspunkte 10 und 12, Sicherheit von Kernkraftwerken und Sicherheitskriterien für Atomkraftwerke. Von der Tagesordnung abgesetzt werden soll der Tagesordnungspunkt 3.

Anträge zur Aktuellen Stunde und Fragen zur Fragestunde liegen nicht vor. Wann die einzelnen Tagesordnungspunkte voraussichtlich aufgerufen werden, ergibt sich aus der Ihnen vorliegenden Übersicht über die Reihenfolge der Beratung der 41. Tagung. Wir werden unter Einschluss einer zweistündigen Mittagspause jeweils längsten bis 18:00 Uhr tagen. - Widerspruch höre ich nicht, dann werden wir so verfahren.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Gäste begrüßen. Auf der Tribüne haben Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrkräften des Gymnasiums Lütjenburg Platz genommen. - Herzlichen willkommen!

(Beifall)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Regierungserklärung zur Modernisierung des bundesstaatlichen Ordnung

Ich erteile der Frau Ministerpräsidentin das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Debatten über die bundesstaatliche Ordnung sind für das Landesparlament Schles

wig-Holstein nichts Ungewöhnliches. Es zählt zu den ureigensten Interessen und Aufgaben dieses Landesparlamentes, sich in eine Diskussion über unsere Verfassung einzumischen und zu versuchen, sie mit zu gestalten. Die Volksvertretung Schleswig-Holsteins versteht sich schon lange als kompetenter Diskussionspartner in dieser Debatte. An dieser Stelle darf ich stellvertretend Ihnen, Herr Präsident, für Ihr großes Engagement in der Diskussion um die Föderalismusreform danken.

(Beifall im ganzen Haus)

Es hat sich herumgesprochen: Wir haben etwas zu sagen, wenn es um die bundesstaatlichen Ordnungsprinzipien und um die Machtverteilung - auch um die Machtbalance - geht. Ich darf an das vergangene Jahr erinnern, als am 31. März 2003 in Lübeck der erste Föderalismuskonvent der Landesparlamente stattfand. Ich erinnere an die sich anschließende „Lübecker Erklärung“ und an das Symposium „Föderalismusreform - Ziele und Wege“, das am 20. November 2003 hier in diesem Haus stattgefunden hat. Allen diesen Veranstaltungen lag ein klares Bekenntnis zum Föderalismus und zur Subsidiarität zugrunde. Ich bin dankbar für diese deutlichen Worte, auf die sich auch die Arbeit der Landesregierung stützen kann.

Die Föderalismusdebatte ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr Parlament und Regierung aufeinander angewiesen sind, auch dann, wenn sie unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen haben. Wenn es um Zukunftsfragen unserer bundesstaatlichen Ordnung geht, reden wir in Schleswig-Holstein bei dieser bundesweiten Debatte ganz vorne mit, auch weil wir die Interessen unseres Landes ganz vorne mit vertreten wollen.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten nach den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges mit seinem totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch die Vision, überall in Deutschland annähernd gleichwertige Lebensverhältnisse für die Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Es sollte den Bauern in Schleswig-Holstein nicht schlechter gehen als den Landwirten in Baden-Württemberg, den Industriearbeitern an der Ruhr nicht anders als denen in Kiel oder Hamburg. Der Föderalismus in Deutschland hat gemeinsam mit dem Bund bis heute den Auftrag, durch den Länderfinanzausgleich, den Solidarpakt für die ostdeutschen Länder, das Gesetzgebungsrecht und andere Finanzsysteme gleichwertige Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet zu sichern. Die Verankerung dieses Auftrages im Grundgesetz hat uns in Deutschland unschätzbare Dienste geleistet, um die uns viele andere Länder beneiden.

8486 Schleswig-Holsteinischer Landtag (15. WP) - 110. Sitzung - Mittwoch, 10. März 2004

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

Ich nenne nur den sozialen inneren Frieden, der die Basis für unseren wirtschaftlichen Aufschwung nach 1949 war. Auch auf die deutsche Wiedervereinigung mit einem geeinten Europa hat der Föderalismus sehr flexibel reagieren können. Der föderale Lastenausgleich hat aus den ehemals ärmeren südlichen Ländern heute wirtschaftlich starke Regionen gemacht - was wir ihnen gönnen. Wir erwarten hierfür nicht einmal Dankbarkeit, aber ab und zu ein kleiner Hinweis darauf wäre schon in Ordnung:

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine ähnliche Herkulesaufgabe muss der Länderfinanzausgleich jetzt in den neuen Ländern leisten. Wir haben uns im Jahr 2001 auf ein langfristiges Konzept bis zum Jahr 2019 geeinigt.

Schleswig-Holstein bewegt sich dabei im Konzert der Länder ziemlich genau auf der Grenze zwischen Geber- und Nehmerland. Vielleicht sind wir gerade deshalb prädestiniert, die von unserer Verfassung vorgesehene Philosophie des Ausgleichs in den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu stellen. Wenn die südlichen Länder heute mehr Wettbewerb wollen, müssen wir davor warnen, dabei nicht das solidarische Prinzip auszuhebeln. Das solidarische Prinzip gilt auch für die Länder zwischen Ost und West und erst recht gilt es unabhängig von parteipolitischen Zugehörigkeiten.

Ich darf noch einmal auf meine eigene Regierungserklärung des Jahres 2000 verweisen:

„Die Stärken jedes Landes müssen gleichermaßen zum eigenen und gemeinsamen Nutzen der Länder zur Geltung kommen.“

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

„Wir treten ein für eine gerechte Lösung, die die Solidarität zwischen den alten und neuen Ländern, zwischen Nord und Süd sichert.“

Ich habe das noch einmal zitiert, damit mir keiner vorwerfen kann, ich würde jetzt in der aktuellen Diskussion aus lauter Angst, dass wir ein bisschen verlieren könnten, ein neues Prinzip entdecken. Das war schon immer die Überzeugung der Landesregierung.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweifelsohne gibt es zwischen den Ländern Spannungen wegen ihrer unterschiedlichen Interessenlagen, ihrer finanziellen Ressourcen oder ihrer wirtschaftlichen Ausgangslagen. Wir haben auch Verständnis für diese und jene Forderung nach mehr Freiraum. Die Forderung nach mehr Freiraum darf

aber nicht dazu führen, sich aus der Solidarität aller Länder zu verabschieden.

(Beifall der Abgeordneten Lothar Hay [SPD] und Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das gilt, egal ob derjenige, der das formuliert, der SPD, der CDU oder der CSU angehört. Da würde ich Nordrhein-Westfalen genauso widersprechen, wie ich Bayern widerspreche.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Der grundgesetzliche Auftrag der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland gehört zu unserem Selbstverständnis als föderale Republik. Wer Wettbewerb pur an die Stelle von Solidarität stellt, stellt zunächst einmal die bundesstaatliche Ordnung infrage, ohne eine befriedigende Antwort, wie es weitergehen soll, zu geben. Die Solidarität zwischen den Ländern hat Verfassungsrang, der Wettbewerb nicht. Dieser Satz gilt selbst dann, wenn wir uns wettbewerblichen Regelungen nicht verschließen, die dazu dienen, bürokratische Hemmnisse wegzuräumen oder die Effizienz von Verwaltungs- und Gesetzgebungsprozessen zu fördern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das föderale System unserer Republik ist ein Erfolgsmodell für Deutschland und gerade auch deshalb sollten wir daran festhalten - im Prinzip -, denn es ermöglicht die demokratische Teilhabe unserer Bürgerinnen und Bürger an der Entwicklung unserer Gesellschaft, und zwar nicht abstrakt irgendwo in einem fernen Regierungsapparat in einer fernen zentralen Hauptstadt, sondern sozusagen vor der eigenen Haustür im eigenen Land, mit dessen Tradition und Kultur sich die Bürgerinnen und Bürger identifizieren können. Diese demokratische Teilhabe ist ein hohes Gut, das durch die verwirrende Entwicklung der Zuständigkeiten und durch sich blockierende Mehrheitsverhältnisse zwischen Bund und Ländern, durch bürokratische Regelungswut und undurchschaubare Finanzierungen Schaden genommen hat. Die Bürgerinnen und Bürger können schon lange nicht mehr nachvollziehen, warum und welchen verschiedenen Gesetzen des Bundestages vom Bundesrat noch zugestimmt werden muss oder warum nicht. Das fördert natürlich Politikverdrossenheit, denn die Wählerinnen und Wähler müssen wissen, wer in Deutschland was verantwortet, der Bund oder die Länder.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schleswig-Holsteinischer Landtag (15. WP) - 110. Sitzung - Mittwoch, 10. März 2004 8487

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

Unsere Nachbarländer in der Europäischen Union haben ihre notwendigen gesellschaftlichen Reformschritte zum Teil schneller zurückgelegt als wir. Einer der Gründe für unsere Langsamkeit ist unser kompliziertes Gesetzgebungsverfahren. Wenn wir unsere internationalen Wettbewerbsvorteile nicht verspielen wollen, wenn wir auf die Herausforderung der globalen Wirtschaft angemessen reagieren und sie auch steuern wollen, wenn wir auf die demographische Entwicklung, den europäischen Erweiterungsprozess, also unsere Europatauglichkeit, und wenn wir auf die vielen aktuellen Probleme unseres Landes reagieren wollen, dann müssen wir uns selbst in die Lage versetzen, die Dinge in unserem Land schneller, wirtschaftlicher und unbürokratischer zu regeln.

Wir sind im Bund mit der Agenda 2010 die ersten schmerzhaften Schritte gegangen, um unser Land wieder zukunftsfähig zu machen. Es gehört zu unseren vornehmsten Aufgaben, nun auch unsere bundesstaatliche Ordnung den Herausforderungen der Zeit anzupassen. Stillstand wäre nämlich Rückschritt.

Am 7. November 2003 wurde dazu die Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung eingesetzt. Wir befinden uns heute in einem umfassenden verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Diskussionsprozess. Konkrete Ergebnisse sind zurzeit noch nicht absehbar. Vorschläge sollen bis Ende 2004 vorliegen. Im Jahre 2005 sind dann die verfassungsändernden Beschlüsse geplant. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Debatte für SchleswigHolstein nimmt meine Regierung heute eine erste Positionsbestimmung vor, die ebenso wie die ganze Diskussion natürlich noch nicht abschließend sein kann.

Ein wichtiger Auftrag der Verfassungskommission ist es, die Kompetenzen klar entweder dem Bund oder den Ländern zuzuweisen. Dabei gilt, die Länder brauchen mehr Gesetzgebungskompetenzen und sollen diese selbstständig und mit genügenden Ressourcen ausgestattet ausüben. Dies stärkt dann ganz nebenbei auch die Rechte der Landesparlamente. Wenn das erfüllt ist, muss auch der Bund in die Lage versetzt werden, seine Gesetze weitgehend ohne Mitwirkung des Bundesrates wirksam werden zu lassen. Ich darf daran erinnern, 1949 waren 10 % der Gesetze zustimmungspflichtig, heute sind es etwa 60 %.

Aus der Sicht Schleswig-Holsteins müssen daher Eckwerte für einen neuen Artikel 84 so aussehen: Die Länder sollen ein verfassungsunmittelbares Recht erhalten, das Verwaltungsverfahren und die Behördenorganisation bei Gesetzen des Bundes, die die Länder betreffen, zu regeln. Es kann nicht so bleiben,

dass ein Gesetz nur dadurch zustimmungspflichtig wird, weil zum Beispiel einer von 200 Paragraphen die Statistischen Landesämter in den Bundesländern betrifft. Im Gegenzug entfällt die notwendige Zustimmung des Bundesrates zum Gesetzesteil des Bundes. Damit wird auch die Last vom Vermittlungsausschuss genommen. Wir wollen dem Vermittlungsausschuss die Rolle, die ihm das Grundgesetz zugewiesen hat, zurückgeben.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Kompetenz und das Wissen des Bundes um das erforderliche Verwaltungsverfahren und die Behördenorganisation sollen jedoch weiter genutzt werden, damit nicht alle 16 Länder jeweils für sich allein formelle Regelungen zu Bundesgesetzen erlassen müssen. Das würde das Umziehen beispielsweise noch schwieriger machen, als es heute schon ist. Daher soll die Möglichkeit für den Bund bestehen bleiben, dem materiellen Gesetzesteil formelle Teile als Vorschlag auf freiwilliger Basis anzufügen. Hiervon können die Länder abweichen, wenn sie das für sinnvoll und erforderlich halten. Wenn der Bund im Ausnahmefall die formellen Regelungen verpflichtend dem materiellen Teil anfügen will, so kann dies weiterhin nur mit Zustimmung des Bundesrates geschehen. Weitere Regelungen soll der neue schlank gefasste Artikel 84 des Grundgesetzes nicht enthalten. Insbesondere soll der Bund kein Rückholrecht erhalten, wenn einzelne Länder vom freiwilligen formellen Gesetzesteil des Bundes abgewichen sind, und es sollen auch keine neuen Zustimmungstatbestände geschaffen werden. Dieses neue Mitwirkungsverfahren des Bundesrates schafft klare Verantwortlichkeiten und verhindert somit Blockademöglichkeiten.

In einzelnen klar definierten Materien bedarf es nach Auffassung der Landesregierung bundeseinheitlicher Regelungen. So verlangt die aus dem Sozialstaatsprinzip folgende Verpflichtung des Staates, gleichwertige Lebensverhältnisse in der ganzen Bundesrepublik zu sichern, die bundesgesetzliche Zuständigkeit für den unteren Bereich der sozialen Sicherungssysteme. Über die Kostenfrage, wenn Bundesgesetze Verwaltungsaufwand oder andere finanzielle Belastungen in den Ländern oder Kommunen entstehen lassen, muss noch gesprochen werden. Dies darf aber nicht isoliert diskutiert werden. Dieses Thema gehört in die Gesamtbetrachtung zu allen veränderten Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Für uns ist dabei das Grundprinzip der Konnexität von besonderer Bedeutung. Es sollte im Grundgesetz

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

verankert werden. Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen.

(Beifall bei der SPD)