Nun will ich einmal nach Niedersachsen schauen. Die „schönste“ Begründung, warum man beim gegliederten Schulwesen bleiben soll, hat vor wenigen Tagen ein Sprecher des niedersächsischen Kultusministers
geliefert, der gegenüber der Presse erklärte, die Nichtversetzung von Schülern sei eine gewachsene Tradition, alles nach der Devise: Das haben wir immer schon gemacht. - Für diese Art der Traditionspflege sind uns unsere Kinder einfach zu schade.
Herr de Jager, ich habe schon darauf hingewiesen, dass andere ihrer CDU-Kolleginnen und Kollegen schon viel weiter sind, was das Nachdenken über das dreigliedrige Schulwesen betrifft. Es war ein fraktionsübergreifender Beschluss von SPD und CDU im Saarland, eigenständige Hauptschulen aufzugeben, und auch die sächsische CDU hat sich mit der SPD darauf verständigt, verstärkt Gemeinschaftsschulen zu genehmigen. Das hat auch etwas mit den Folgen der demographischen Entwicklung für die Schulstrukturen zu tun, über die wir uns dringend unterhalten müssen. Dazu habe ich von Ihnen wenig gehört. Es sind eben nicht nur die PISA-Ergebnisse, sondern es ist auch der Rückgang der Schülerzahlen, der bei uns im Landesteil Schleswig schon zu erkennen ist und der viele Schulen in ihrem Bestand infrage stellt.
Kürzlich habe ich an einer Veranstaltung mit dem Hamburger Pädagogen Peter Struck teilgenommen, der sagte, Deutschland stehe vor einem bildungspolitischen Scheideweg. Entweder werde die Schule wieder zur Paukschule der 50er-Jahre mit Angst und Selektion - wer von Hermann Hesse „Unterm Rad“ gelesen hat, weiß, was ich damit meine, obwohl wir auch wissen, dass das gerade in Südkorea und Japan zu beachtlichen Ergebnissen führen kann - oder wir orientierten uns an den Grundprinzipien der skandinavischen Schulen mit mehr Integration, mit mehr Motivation, mit selbstständigen Schulen, die mit Recht für sich in Anspruch nehmen dürfen, der tägliche Lebensmittelpunkt der Schülerinnen und Schüler zu sein.
Wir Sozialdemokraten schlagen den letztgenannten Weg vor. Das entspricht unserem demokratischen Grundverständnis von unserer Gesellschaft.
Wir schlagen vor, das, was, wie uns die IGLU-Studie gezeigt hat, in den ersten vier Schuljahren gut funktioniert, um weitere sechs Jahre zu ergänzen, wir schlagen also die Schule für alle in den ersten zehn Schuljahren vor. Die Gemeinschaftsschule ist nicht das Konzept eines Standardmodells, sondern ihre Struktur ist flexibel und orientiert sich an den individuellen schulischen und regionalen Rahmenbedingungen. Ein solcher Prozess wird für seine Entwick
lung mehr als zehn Jahre in Anspruch nehmen. Von einem abrupten Systemwechsel kann also keinesfalls gesprochen werden und dieser ist von uns auch nicht beabsichtigt.
Insofern wird es darauf ankommen, bestehende Angebote für Gemeinschaftsschulen weiterzuentwickeln. Das ist in unseren programmatischen Aussagen ausdrücklich immer so dargestellt.
Wir wissen: Das wird ein langer Weg sein. Insoweit ist auch nicht von einem überstürzten Umbau des Schulwesens zu sprechen. Das beabsichtigt bei uns niemand. Aber wir wollen uns nicht auf Dauer nur so schnell bewegen können, wie es der Langsamste für richtig hält.
Wir werden in der nächsten Legislaturperiode den Ausbau der Ganztagsschule weiter entschlossen vorantreiben.
Wir werden an der Universität Flensburg die Reform der Lehrerausbildung fortsetzen. Wir werden die Schulentwicklungsplanung überarbeiten. Wir werden gemeinsam mit Lehrern, Schülern, Eltern und allen weiteren Beteiligten einen gemeinsamen Weg hin zum Ziel Gemeinschaftsschule gehen, weil das die Konsequenz aus beiden PISA-Studien ist, um die Zukunft noch besser sicherzustellen. Das deutsche Schulwesen ist auf dem richtigen Weg. Wir werden leistungsstarke Schüler aus den Schulen entlassen. Das ist auch der Weg, den unsere Wirtschaft braucht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Skandinavien soll es also richten. Blicken wir einmal in das Land nördlich unserer Grenze.
Der „Nordschleswiger“ hat vor ein paar Tagen einen - wie ich finde - sehr bemerkenswerten Beitrag zum Thema PISA 2003 in Deutschland und in Dänemark veröffentlicht. Ich zitiere:
„Obwohl beide Länder gänzlich verschiedene Schulsysteme haben, leiden sie an den selben Symptomen: schwache Leistungen,
soziales Erbe, das nicht gebrochen wird. Wer aus einem Bildungshaushalt mit Büchern in den Regalen und Kunst an der Wand kommt, schneidet in Deutschland wie in Dänemark besser ab und Einwandererkinder, die gerade ins Land kamen, sind südlich wie nördlich der Grenze besser dran als Einwandererkinder der zweiten Generation.“
Meine Damen und Herren, es sind also ähnliche Befunde. Die dänischen Werte liegen jeweils näher an den zugegebenermaßen schlechten deutschen Resultaten als an den hervorragenden finnischen Ergebnissen, obwohl doch Dänemark dieses angeblich hervorragende Einheitsschulsystem, das Sie jetzt bei uns als schulpolitisches Rezept verkaufen, schon seit langer Zeit besitzt.
Meine Damen und Herren, wer angesichts solcher Befunde hier noch ein Schulsystem à la Dänemark als Patentrezept verkaufen will, der verschreibt zur Beseitigung der Probleme nur weiße Salbe, der macht eine Placebo-Politik.
Der Sinn liegt auf der Hand: Das ist der einfachste Weg, vom eigenen politischen Versagen abzulenken.
Als vor drei Jahren die innerdeutschen PISAErgebnisse veröffentlicht worden sind, wurde doch zutage gefördert, dass in Schleswig-Holstein der Anteil der extrem leseschwachen Schüler mit 26,5 % fast doppelt so hoch ist wie in Bayern, wo er 14,5 % beträgt; es ist zutage gefördert worden, Frau ErdsiekRave, dass es neben Schleswig-Holstein, dem Saarland und Bremen kein anderes deutsches Land gibt, in dem Kinder aus Zuwandererfamilien so schlechte Chancen im Schulbereich haben wie in SchleswigHolstein, dass ihr Leistungsstand nirgendwo sonst so niedrig ist.
Vor dieser Realität, für die Sie die politische Verantwortung tragen, schlägt sich die verantwortliche Ministerin, Frau Erdsiek-Rave, in die Büsche, und zwar nach dem Motto: Sie selbst sei dafür nicht verantwortlich; verantwortlich sei das Schulsystem. Das solle geändert werden. Dafür lässt man sich natürlich zehn Jahre Zeit. Dann kann dies kein Mensch nachprüfen, denn dann sind Sie längst in Pension. Sie werden schon nächstes Jahr in Pension geschickt, Frau Erdsiek-Rave, das ist der Trick bei der ganzen Geschichte!
Frau Erdsiek-Rave, am 16. September erklärten Sie in einem Interview im „Tagesspiegel“: „Das System führt dazu, dass wir zu wenig für Schwache tun.“ - Angesicht Ihrer eigenen Bilanz ist das, was Sie da gesagt haben, pure Heuchelei. Die Wahrheit lautet: Frau Erdsiek-Rave hat mit ihrer Politik dafür gesorgt, dass für die Schwächeren nichts getan wurde.
Frau Ministerin, wer ist dafür verantwortlich, dass von den 200 zusätzlichen Lehrerstellen, die dieser Haushalt in diesem Jahr zur Verfügung stellt, nicht eine einzige Stelle bei den Hauptschulen gelandet ist? Das ist kein Novum für das Jahr 2004 und auch kein Einzelfall. Das ist eine systematische Benachteiligung und Schlechterstellung einer Schulart, deren Schüler besondere Förderung brauchen. Das ist seit Jahren Prinzip sozialdemokratischer Schulpolitik in diesem Land!
Frei nach dem Motto: „Haltet den Dieb!“, wird jetzt gesagt: In der Hauptschule gibt es ein Problem - schaffen wir sie ab! Das sagt Frau Bulmahn. Sie haben sich dazu erfreulicherweise etwas differenzierter geäußert. Es ist eine Fehlkalkulation zu glauben, dass ein Einheitsschulsystem das eindeutige Problem der sozialen Schieflage in unserem Bildungssystem, das wir angehen müssen, beseitigen könnte.
Lesen Sie doch einmal in der im Internet verfügbaren Kurzfassung von PISA 2003 auf Seite 23 nach. Dort wird der Ergebniszusammenhang sehr deutlich herausgestellt. Schülerinnen und Schüler derselben Schulform besitzen - je nach ihrem elterlichen Hintergrund - einen Kompetenzvorsprung von bis zu zwei Schuljahren. Dann wird es interessant: Vergleicht man etwa das oberste mit dem untersten Quartil der sozialen Herkunft in den integrierten Gesamtschulen, so ergibt sich eine Differenz von 76 Kompetenzpunkten. Bei den Hauptschulen und den Realschulen sind es 50 Kompetenzpunkte, bei den Gymnasien 24 Kompetenzpunkte. Mit anderen Worten: Ausgerechnet in der Gesamtschule gelingt es am wenigsten, zwischen den Kindern aus dem unteren Viertel der sozialen Schichten und denen aus dem oberen Viertel, was den Leistungsstand anbetrifft, einen Ausgleich zu erreichen.
An den Gymnasien klappt das am besten. Die Konsequenz ist: Wir müssen versuchen, mehr Kinder aus ärmeren Familien an die Gymnasien zu bekommen.
Wir müssen beispielsweise versuchen, Kinder aus Zuwandererfamilien, die mit ihren Begabungspotenzialen in der Lage wären, auch an den Gymnasien erfolgreich die Schule zu besuchen, verstärkt in diese Schulen zu bekommen.
Das setzt voraus, dass man ihnen zum Beispiel die deutsche Sprache frühzeitig so vermittelt, dass sie auch in der Lage sind, in unserem Schulwesen erfolgreich mitzuarbeiten.
Es war die SPD, die Anfang der 90er-Jahre noch unter Frau Rühmkorf die Vorbereitungsklassen für Kinder aus Zuwanderungsfamilien abgeschafft hat. Das ist ein eklatantes Versagen. Es ist jedoch nicht nur ein Problem in Schleswig-Holstein, sondern dieses Problem haben wir bundesweit, denn wir geben Kindern aus Einwandererfamilien nicht hinreichende Bildungschancen, weil ihnen in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren der Zugang zur deutschen Sprache nicht so eröffnet worden ist, wie es notwendig gewesen wäre.
Frau Erdsiek-Rave, ich darf Ihnen vorhalten, was Ihre frühere nordrhein-westfälische Amtskollegin, Frau Gabriele Behler, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor wenigen Tagen erklärt hat. Ich zitiere: