Protokoll der Sitzung vom 16.09.2011

Besonders erfolgreich ist das Handlungskonzept „Schule und Arbeitswelt“. In den sogenannten Flexklassen werden Schülerinnen und Schüler aus Haupt- und Förderschulklassen gemeinsam auf den Hauptschulabschluss vorbereitet und in die Berufsorientierung gebracht. Damit ist es gelungen, die Quote der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss von rund 10 % im Jahr 2005 auf 6,9 % im letzten Jahr zu senken. Ich finde, das ist eine erfolgreiche Bilanz.

(Anke Erdmann)

(Beifall bei CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und des Abgeordneten Detlef Buder [SPD])

Diese jungen Leute haben damit Zugang zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Da die Finanzierung dieser Maßnahme in erster Linie auf europäischen Geldern beruht, muss es uns gelingen, nach 2013 Anschlussfinanzierungen für sie zu finden.

Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch ein paar Aspekte ansprechen, die nicht im Bericht der Landesregierung stehen. Die Zahlen sind überaus erfreulich. Wir wissen aber, abgesehen von den Flexklassen nicht, wie erfolgreich wir wirklich sind. Mir berichten Lehrkräfte einer Schule, die schon lange erfolgreich Inklusion betreibt, dass junge Menschen mit Behinderung trotz aller Maßnahmen ins Abseits geraten. Das hat nichts mit bösem Willen zu tun. In den ersten Jahren, in den Grundschulen, ist das weniger zu verzeichnen; aber in der Sekundarstufe I entwickeln sich die Interessen der Schülerinnen und Schüler durchaus unterschiedlich, insbesondere dann, wenn es sich bei ihnen um lernbehinderte Jugendliche handelt. Das führt manchmal dazu, dass sie dann doch nicht mehr im Rahmen der Gemeinschaft sind.

Meine Damen und Herren, wie gehen wir eigentlich mit der Ressource Lehrkräfte um? - Es ist immer noch so, dass Sonderpädagogen ihre Unterrichtsstunden im Auto verbringen, um von Schule zu Schule zu fahren, anstatt ihr wertvolles Wissen in den Schulen einzusetzen. Auch dieses Problem müssen wir lösen.

(Beifall bei CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und vereinzelt bei der SPD)

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. In Artikel 7 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention steht - ich zitiere -:

„Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderung betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Vor diesem Hintergrund kann nicht für alle Förderschulen der Weg hin zu einer „Schule ohne Schülerinnen und Schüler“ richtig sein, wenn wir jungen Menschen mit Behinderung die beste Ausbildungsmöglichkeit mit auf den Weg geben wollen, dann kann das nur gehen, indem es individuelle Möglichkeiten der Beschulung gibt. Dazu gehört für die CDU-Fraktion auch die intensive sonderpädagogische Beschulung in einem Förderzentrum, und das auch für lernbehinderte Kinder.

(Beifall bei der CDU und der Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])

Lassen Sie mich mit einem Satz meiner behinderten Pflegetochter enden. Ich fragte sie nach ihrem Umzug in eine Wohngemeinschaft der Schleswiger Werkstätten, wie es ihr denn dort gefalle. Sie hat mir geantwortet: „Gut, hier bin ich nicht mehr anders.“

Ich bitte um Überweisung des Berichts an den Bildungsausschuss.

(Beifall bei CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN sowie vereinzelt bei SPD und SSW)

Von der Fraktion der SPD erhält Herr Abgeordneter Dr. Henning Höppner das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Eingang meines Beitrags zwei Zahlen: Es gibt in Deutschland fast eine halbe Million Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Leider ist es so, dass mehr als drei Viertel aller Abgänger von Förderschulen keinen Hauptschulabschluss erreichen.

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist inklusive Bildung ein Menschenrecht. Das ist das stärkste Argument für gemeinsames Lernen überhaupt, so schreibt die Bildungsjournalistin Brigitte Schumann. Wie sieht aber die Realität in der Bundesrepublik Deutschland aus? Deutschland hat insgesamt - der Minister hat es erwähnt - nur eine Quote von 20 % inklusiver Bildung. Aber wir in Schleswig-Holstein stehen - das ist sicherlich ein sehr seltenes Lebensgefühl in Schleswig-Holstein - tatsächlich einmal an der Spitze aller Bundesländer mit den beschriebenen 53,8 %.

(Vereinzelter Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist maßgeblich - das müssen wir in der Tat festhalten - ein Verdienst unserer früheren Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave zusammen mit ihren engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

(Beifall bei der SPD und der Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN] - Zurufe von CDU und FDP: Oh, oh!)

(Heike Franzen)

Es ist selbstverständlich auch ein Verdienst der Kolleginnen und Kollegen in den Schulen, die die Inklusion engagiert vorleben.

Diesen bundesweiten Vergleich sollte man aber auch immer vor Augen haben, wenn es um Länder-Rankings geht. Denn manche Bundesländer, insbesondere die neuen Bundesländer aus dem Osten - machen sich das Leben sehr einfach, indem sie möglichst viele Kinder in die Förderschulen abschieben. Dass deren Regelschulen dabei bessere Punktwerte erzielen, kann unter diesen Umständen nicht verwundern. Darum ist ein Ländervergleich ohne diesen Aspekt einfach unredlich.

(Beifall der Abgeordneten Siegrid Tenor-Al- schausky [SPD] und Dr. Ralf Stegner [SPD])

Wie bedenklich in anderen Ländern mit der Feststellung eines Förderbedarfs umgegangen wird, zeigen die Daten im Vergleich: Rheinland-Pfalz stellt nur für 4,5 % der Kinder einen Förderbedarf fest, aber Mecklenburg-Vorpommern für fast 12 %. 1999 wiesen in Mecklenburg-Vorpommern nicht einmal 7 % der Kinder einen Förderbedarf auf, aber 2008 schon knapp 12 %. Entweder werden in jedem Jahr und in jedem Bundesland andere Methoden der Feststellung angewendet, oder die Quotenfeststellung orientiert sich an dem Ziel, möglichst viele lernschwache Schülerinnen und Schüler aus den allgemeinbildenden Schulen in die Förderschulen zu bekommen.

Nach dem Regierungswechsel von 2009 konnte man den Eindruck gewinnen, als würde sich die Landesregierung vom Ziel der Inklusion abwenden, zumal die Website des Ministeriums unter dem Stichwort Inklusion fast keine Einträge mehr zeigt. Deswegen begrüßen wir es ausdrücklich, Herr Minister, dass die Landesregierung mit diesem Bericht und mit ihrem Beitrag klargemacht hat, dass auch sie sich dem Ziel der Inklusion verpflichtet fühlt und diesen Weg auch weitergehen will.

(Beifall der Abgeordneten Herlich Marie Todsen-Reese [CDU])

Inklusion entspricht dem Willen der Eltern, von denen sich nur wenige entscheiden, ihr Kind in einem Förderzentrum unterrichten zu lassen. Die weitaus meisten Eltern entscheiden - jedoch wohlüberlegt und nicht aus übertriebenem Ehrgeiz -, dass das eigene Kind überfordert sein könnte. Die Schulgesetznovelle, die wiederum Schulartdifferenzierungen zulässt, macht es für Eltern wiederum etwas komplizierter. Das längere gemeinsame Lernen auch von Schülerinnen und Schülern mit und

ohne Behinderung muss sich in der Schulstruktur auch abbilden.

Zum Aspekt Elternwille gehört auch die Befürchtung vieler Mütter und Väter, dass ihre nicht behinderten Kinder an ihrem Lernerfolg gehemmt würden, wenn andere Kinder in ihrer Klasse besonders gefördert werden müssten. Solche Befürchtungen müssen wir ernst nehmen, weil eine Verweigerungshaltung der Eltern, die sich auch ihren Kindern mitteilt, das gemeinsame Lernen beeinträchtigen kann. Wir können aber auf die vielen Schulen verweisen, die sich dieser Herausforderung mit sehr großem Erfolg gestellt haben. Im Gegenteil: Alle beteiligten Kinder gewinnen soziale Kompetenzen und Selbstvertrauen. Es ist eine gesicherte Erkenntnis, dass man von seinesgleichen mehr lernt als von dem, der vor der Klasse steht.

Wir teilen nicht die Auffassung der Landesregierung, dass Inklusion zum Nulltarif zu haben ist. Die Schulen brauchen Schulklassen, in denen integrativ beziehungsweise inklusiv unterrichtet wird, Entlastungsstunden, und sie brauchen und müssen die Möglichkeit haben, wenigstens so manche Stunde mit zwei Lehrkräften zu unterrichten. Diesen Stellenbedarf können wir nicht allein dadurch absichern, dass die Förderzentren immer weniger Kinder unterrichten und die Lehrkräfte deswegen verstärkt an allgemeinbildenden Schulen eingesetzt werden können.

Schleswig-Holstein ist auf dem Weg zur Inklusion und hat viel erreicht. Dieser Spitzenplatz ist allerdings kein Ruhekissen, sondern eine Verpflichtung, auf diesem Weg zügig weiter fortzuschreiten. Das Ziel 85 % ist aus unserer Sicht erreichbar und sollte noch in diesem Jahrzehnt erreicht werden können.

(Beifall der Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Dies wird auch ein Schwerpunkt sozialdemokratischer Bildungspolitik in der 18. Wahlperiode sein.

(Beifall bei der SPD und der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Für die FDP-Fraktion erteile ich der Frau Abgeordneten Cornelia Conrad das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal danke ich dem Minister für seinen ausführlichen Bericht. Der Bericht der Landesregie

(Dr. Henning Höppner)

rung zur Umsetzung von Inklusion in der Schule zeigt uns, dass Schleswig-Holstein in diesem Bereich Vorreiter ist, und dass auch gute Grundlagen für eine positive Entwicklung im Bereich der Inklusion gegeben sind.

Am Beispiel der Inklusion zeigt sich auch, dass sich gute Konzepte und sparsame Haushaltsführung nicht ausschließen und dass Dinge neu und erfolgreich geordnet werden können, auch unter eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten.

Die Bertelsmann Stiftung weist in ihrem Bericht für Schleswig-Holstein einen Spitzenplatz in der inklusiven Beschulung aus. Es nehmen bereits knapp 54% der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf am Regelunterricht teil. Der Bundesdurchschnitt liegt - wie wir bereits gehört haben - gerade bei 20 %. Insofern entsprechen wir auch den ehrgeizigen Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention. Deshalb ist es auch gut und richtig, dass wir mit der Novellierung des Schulgesetzes Inklusion als eines der zentralen Bildungs- und Erziehungsziele festgelegt haben.

(Beifall der Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Jeder Mensch soll trotz seiner Behinderung die Möglichkeit erhalten, vollwertig an unserer Gesellschaft teilzunehmen. Das entspricht unseren liberalen Ideen. Deshalb ist es auch richtig, frühzeitig mit den sonderpädagogischen Förderungen zu beginnen. Als Beispiel seien die Erfolge im Bereich der Sprachförderung in den Kitas genannt. Diese Erfolge sollen uns ermuntern, die Rahmenbedingungen stetig zu verbessern. Dazu zählen auch die baulichen Maßnahmen.

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]?

Ja, sehr gern.

Frau Erdmann, Sie haben das Wort.

Liebe Frau Kollegin, Sie haben beschrieben, wie wichtig es ist, am Anfang zu fördern und sind auf die Kita eingegangen. Wie sehen Sie denn in der Eingangsphase die

Förderung durch die P-Stunden, diese Präventionsstunden, die aber keine individuelle Förderung von Kindern mehr vorsehen?

Liebe Frau Kollegin Erdmann, wir haben für die frühkindliche Sprachförderung 6 Millionen € eingestellt. Das läuft jetzt in den Kitas an. Das bedeutet: Wenn diese Kinder dann in die Grundschule kommen, soll dort schnellstmöglich diese Sprachförderung fortgeführt werden. Allerdings sind wir da noch in der Anfangsphase, aber auf einem guten Weg.

(Beifall bei der FDP)

Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?