Wenn wir die Wünsche und Vorstellungen der Menschen vor Ort nicht angemessen berücksichtigen, dann geht die Diskussion endlos weiter, und das kann kein verantwortlicher Politiker ernsthaft wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens seit der großen schulpolitischen Auseinandersetzung im Sommer 2010 in Hamburg wissen wir doch, dass die Wünsche der Lehrer, Eltern und Schüler Berücksichtigung finden müssen. Besonders die Grünen sollten dies noch in guter Erinnerung haben. Das war ein Lehrbeispiel dafür, wie ein Hinweggehen über die Menschen vor Ort zum politischen Schiffbruch führen kann.
Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Umfragezahlen von Infratest dimap sollte sich mancher Landespolitiker fragen, ob er noch glaubt, für die Menschen in diesem Lande etwas zu tun, oder ob er aus anderen Gründen handelt. Wenn sich 78 % der
Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner für G 9 an Gymnasien aussprechen und lediglich 16 % dagegen, dann stellt sich unweigerlich die Frage, warum sich die oppositionellen Parteien, angeführt von den Sozialdemokraten, hierüber einfach hinwegsetzen.
Wir sehen doch, dass sich die Menschen vor Ort anders entscheiden als zum Beispiel die Elternvertretung der Gymnasien, die sich ihrerseits für ein flächendeckendes G 8 ausspricht. Insofern wird jeder Runde Tisch, sei es einer der Grünen oder sei es einer der SPD, nicht funktionieren, solange den Menschen vor Ort nicht die Entscheidungsfreiheit zugestanden wird. Das Einfrieren von G 9, wie es die Grünen wollen, oder das Verbot von G 9, wie es die SPD will, wird man auf Dauer nicht durchhalten können, zumal der Druck aus anderen Bundesländern in dieser Frage immer mehr steigt. In vielen anderen Bundesländern wird G 9 stets mit Beteiligung von SPD und Grünen nämlich auch jetzt durchgesetzt.
Herr Kollege Habersaat, Sie mögen ja die hessische SPD für konservativ halten, aber die spricht sich ausschließlich für die Einführung von G 9 aus. Sie mögen möglicherweise auch Herrn Ude für einen mächtig konservativen Menschen halten; denn der spricht sich gerade für G 9 und G 8 an Gymnasien nach dem Elternwillen aus, wie es das Modell vorgeführt hat. Lernen Sie doch einfach dazu: Selbst ein langjähriger sozialdemokratischer Bildungssenator hat in der „Zeit“ formuliert, dass die Entscheidung ausschließlich für G 9 ein Fehler gewesen sei, weil es viele junge Menschen in ihrer Ausbildung überfordert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, G-9-Schulen haben in Schleswig-Holstein mittlerweile einen außergewöhnlichen Zulauf und zeigen zum demografischen Wandel eine gegenläufige Entwicklungskurve. Können oder wollen Sie nicht registrieren, dass die Eltern und Schüler sowohl in diesem als auch in anderen Bundesländern längst schon mit den Füßen abgestimmt haben?
Wer kann vor dem Hindergrund dieser Zahlen heute ernsthaft behaupten, dass die Entscheidung der FDP für die Wiederermöglichung von G 9 an Gymnasien falsch gewesen ist? Dies kann nur jemand behaupten, dem sein eigene Ideologie wichtiger ist als der überwiegende Elternwille.
Warum ist Ihre Meinung wichtiger als die aller schulischen Akteure vor Ort? Warum glauben Sie, dass Sie richtig liegen und knapp vier Fünftel der Menschen in diesem Land falsch? Wären Sie Mitglieder der Schulkonferenz der Domschule in Schleswig, des Gymnasiums Brunsbüttel oder der Carl-Maria-von-Weber-Schule in Eutin und hätten die freie Wahl, würden Sie für ein solches Vorgehen ein anderes Wort finden als „Anmaßung“, „Besserwisserei“ oder „Bevormundung“?
Warum lassen Sie die Schulkonferenzen nicht frei entscheiden? Liegt es vielleicht daran, dass Sie missliebige Ergebnisse vermeiden wollen? Wenn das Ihr Antrieb hinter dieser Bevormundung ist, dann kann ich Ihnen verraten, dass auch missliebige Ergebnisse zu einem demokratischen Prozess dazugehören. Beteiligung der Eltern, Lehrer und Schüler führt tatsächlich nicht immer dazu, dass die sozialdemokratischen Vorstellungen bejubelt werden.
Ich muss hier deutlich sagen: Es entspricht nicht meinem Verständnis von Teilhabe, von Mitbestimmung oder auch von Eigenverantwortlichkeit, wenn den Menschen vorgeschrieben wird, dass sie eine andere Schule haben sollen, als sie selbst es wünschen.
Liebe Sozialdemokraten, ich rate Ihnen deshalb dringend, sich von Ihrem Wahlversprechen, G 9 an den Gymnasien verbieten zu wollen, wieder zu lösen. Diesen Kampf gegen die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein werden Sie krachend verlieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Wiederermöglichung von G 9 spricht aber nicht nur die Tatsache, dass es von der Mehrheit der Bürger in Schleswig-Holstein gewollt wird. Es gibt auch klare sozial- und gesellschaftspolitische Argumente gegen ein flächendeckendes G 8 an Gymnasien.
Vor allem für den ländlichen Raum wirkt es sich mehr und mehr negativ aus, dass die Schülerinnen und Schüler von G-8-Gymnasien wegen der höheren wöchentlichen Stundenverpflichtung zum Teil bis zu zehn Stunden von zu Hause fernbleiben. Diese Kinder und Jugendlichen haben dann keine Zeit mehr, sich nach der Schule noch mit Freunden zu organisieren, sich ehrenamtlich zu betätigen, sich in der Kirche zu engagieren oder zum Sport oder Musikunterricht zu gehen.
Herr Kollege Dr. Stegner, Sie waren doch anwesend in der Nikolaikirche in Kiel bei der Diskussion, die wir geführt haben, wo der Bischofsbeauf
tragte mit wirklich bewegenden Worten erklärt hat, dass auch aus Sicht der Kirche es sinnvoll ist, G 9 an den Gymnasien wieder zuzulassen.
Die Musikschulen, die Sportvereine, die Feuerwehren klagen deshalb immer mehr über die negativen Auswirkungen von G 8.
Ein flächendeckendes G 8 führt also auf dem Land - das zeigt sich immer deutlicher - zu einer viel schnelleren gesellschaftlich-kulturellen Ausdünnung, weil die G-8-Kinder zeitlich und physisch kaum noch die Möglichkeit zur Teilhabe am örtlichen Leben haben. Es gibt mittlerweile Studien zu dieser Problematik, zum Beispiel der „Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009“ im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, in dem ganz eindeutig in G 8 die Ursache für den Rückgang ehrenamtlicher Beteiligung von Jugendlichen gesehen wird. Dieser Studie zufolge sind 53 % der Schüler, die in neun Jahren auf dem Gymnasium ihr Abitur machen, ehrenamtlich aktiv. Unter den Jugendlichen, die dafür nur acht Jahre Zeit haben, finden mittlerweile nur noch 45 % Zeit für das Engagement in einem Verein oder anderen Ehrenämtern. Der Bericht schreibt hierzu, dies sei bei G 8 - ich zitiere - „ein Hinweis auf ein schwieriges Zeitregime für freiwilliges Engagement“.
Deutlicher kann man es kaum sagen: G 8 führt also eher zur reinen Karriereorientierung und lässt die Persönlichkeitsbildung, die ja auch durch ehrenamtliches Engagement gefördert wird, hinten herunterfallen. Dass sich in Schleswig-Holstein gerade Sozialdemokraten dafür einsetzen, dass wir mit G 8 auch weniger sozial engagierte Jugendliche bekommen, ist wirklich bemerkenswert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte das nicht für sozial. Halten Sie, liebe Sozialdemokraten, das Festhalten an G 8 ausschließlich an Gymnasien vor diesem Hintergrund weiterhin für richtig? Es ist doch auch Ihr Lieblingsland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am vergangenen Freitag hat die SPD ihr sogenanntes „Sofortprogramm“ für eine Regierungsübernahme vorgestellt. Es scheint mittlerweile Usus zu sein, neben dem eigentlichen Wahlprogramm auch noch ein weiteres aufzustellen, das sich inhaltlich mit dem Wahlprogramm beißt. Neben diesen Widersprüchen offenbart das Sofortprogramm der SPD aber noch interessante Aperçus. Hier erklärt die SPD nämlich feierlich: „Schleswig-Holstein soll bis 2022 Bildungsland Nummer eins in Deutschland werden.“
Historisch Interessierte könnten jetzt schon fragen: Warum kommt Ihnen diese Erkenntnis denn erst jetzt? Was haben Sie denn gemacht, als Sie zwischen 1988 und 2009 die Bildungspolitik in Schleswig-Holstein 21 Jahre allein bestimmt haben?
Hatten Sie da das Ziel, Schleswig-Holstein im Bildungsbereich rückständig werden zu lassen? Wenn das Ihr Ziel gewesen ist, dann haben Sie es ja teilweise geschafft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Vorstellung dieses Programms ließ sich dann der SPDLandesvorsitzende Dr. Stegner überraschenderweise zu einer konkreten Aussage hinreißen. In den „Kieler Nachrichten“ vom 21. April finden wir nämlich folgende Zeilen - ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten -:
„Das Sofortprogramm sieht vor, dass gleich nach der Sommerpause das Genehmigungsverfahren für neue Oberstufen an Gemeinschaftsschulen beginnt. Denkbar sei die Entstehung dieser Oberstufen in der nächsten Legislaturperiode an insgesamt 21 bis 23 Standorten, bekräftigte Stegner.“
Lieber Herr Dr. Stegner, jetzt, hier und heute, weil Sie doch so konkret sein wollen, haben Sie die einmalige Möglichkeit, diese 21 bis 23 Gemeinschaftsschulen auch namentlich zu benennen. Geben Sie den Schulen hiermit doch die konkrete Zusage, dass sie von Ihnen eine gymnasiale Oberstufe erhalten!
Sagen Sie zugleich, dass Sie die Handlungsanleitung von Frau Erdsiek-Rave aus dem Jahr 2007, die die Einrichtung von Oberstufen vom gymnasialen Angebot in der Nähe abhängig machte, wieder zurücknehmen! Geben Sie den Schulen, die Sie meinen, doch diese konkrete Zusage, damit sie Planungssicherheit bekommen! Und wenn Sie nicht 21 nennen können, nennen Sie vielleicht 15 oder wenigstens zehn! Haben Sie doch den Mut, Herr Dr. Stegner, statt uns allgemeine Phrasen hier vorzutischen, doch jetzt einmal konkret die Schulen zu benennen. Machen Sie das doch!
Benennen Sie konkret zehn Schulen - das würde ja schon reichen -, die sicher sein können, dass das Genehmigungsverfahren nach der Sommerpause für gymnasiale Oberstufen beginnt! Das können Sie nicht. Das wissen Sie, und deshalb werden die Menschen Ihnen auch kein Vertrauen schenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich Ihnen sagen: Die Menschen werden in anderthalb Wochen in Schleswig-Holstein vor der Wahl stehen, ob sie bildungspolitisch bevormundet werden wollen oder ob sie die Wahlfreiheit behalten können, ob sie es sich gefallen lassen wollen, dass Finanzierungsversprechen gemacht werden, die nicht eingehalten werden können, oder ob sie wirklich, wie eingeleitet, von der Wahlfreiheit vor Ort Gebrauch machen wollen, das Beste für ihre Kinder zu erreichen, was das Schulsystem bieten kann.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teilt sich die Redezeit auf, und ich erteile zuerst der Frau Abgeordneten Anke Erdmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kubicki, Sie können einmal dem Kollegen von der SPD, Herrn Henning Höppner, fragen. Der wird Ihnen die Schulen beim Namen nennen können.
Das sind ganz transparente und sehr offene Punkte, und das ist durchaus fundierter als das, was teilweise von Ihrer Seite kommt.
Wir haben heute eine Menge Anträge zum Thema Bildung zusammengebunden. Aber es war klar, dass es hier vor allem um eine Schulstrukturdebatte geht. Frau Franzen, Sie haben gesagt, mit der Schulstrukturdebatte muss jetzt einmal Schluss sein. Ich sage es noch einmal: Die Einzigen, die Schulstrukturdebatten momentan führen, sind Sie, und Sie haben einen guten Grund dafür.
Sie wollen davon ablenken, dass Sie 3.650 Lehrerstellen 2020 streichen wollen. Sie haben Angst davor, dass die Leute wirklich mitbekommen, was den Schulen blühen würde, wenn die Union ihre Bildungspolitik weiter nach ihrem Striemen fahren würde.
Sie fordern in Ihrem Antrag das, worum Sie sich in den letzten zweieinhalb Jahren einen feuchten Kehricht gekümmert haben. Produktive Ruhe sah bei Ihnen so aus: zwei Schulgesetzänderungen in zweieinhalb Jahren, 600 Lehrerstellen gestrichen, Arbeitszeitverlängerung. All das geht auf Ihr Konto.