Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit unserem Antrag verfolgen wir das Ziel, dass sich der Landtag von
Sachsen-Anhalt und die Landesregierung offensiv in die öffentliche Debatte über die künftige Gestaltung des Europäischen Binnenmarktes einbringen. Im Mittelpunkt unseres Antrags steht der von der EU-Kommission vor einem Jahr vorgelegte Entwurf einer Rahmenrichtlinie zur Schaffung eines Binnenmarktes für Dienstleistungen.
Mit der Richtlinie geht es um die Schaffung eines Binnenmarktes für Dienstleistungen bis zum Jahr 2010 und um den Abbau - ich zitiere - „der bürokratischen Hindernisse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas“. Dieser Entwurf ist nicht nur in Fachkreisen derzeit heftig umstritten, sondern findet auch bei Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften Kritik und Widerspruch, die berechtigt vor den Folgen dieses Entwurfs warnen. Inzwischen hat auch der Bundesrat einhellig kritisch zum EU-Entwurf Stellung genommen und auch der Bundeskanzler hat sich nach langem Zögern in die Debatte eingemischt und Änderungen angemahnt.
Die EU-Kommission selbst signalisierte inzwischen ihre Bereitschaft zur Überarbeitung, aber mehr als zögerliche Signale waren es nicht. Deshalb ist die öffentliche Debatte um diese Richtlinie zu intensivieren - und das nicht nur im Hinblick auf den Aktionstag von Verbänden und Gewerkschaften, der am 19. März in Brüssel stattfinden wird.
Warum hat die Umsetzung dieser Richtlinie eine solch weitreichende Bedeutung? - Der Dienstleistungssektor steht im EU-Durchschnitt inzwischen für 70 % der Wirtschaft und die vom Richtlinienvorschlag betroffenen Dienstleistungen umfassen ca. 50 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit innerhalb der Europäischen Union. Die Richtlinie gilt für sämtliche Dienstleistungen für Verbraucher und Unternehmen. Dabei ist es gleichgültig, ob diese persönlich oder im Fernabsatz, das heißt via Internet oder Telefon, erbracht werden. Die Richtlinie definiert die Dienstleistung als jegliche Leistung, mit der der Erbringer am Wirtschaftsleben teilnimmt, ungeachtet seines rechtlichen Status’, des Tätigkeitszwecks und des betreffenden Tätigkeitsbereichs.
„bürokratischen Hindernisse für den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr und die Wettbewerbsfähigkeit der Dienstleistungsbranchen zu beseitigen“.
Damit kommen die nationalstaatlichen Regelwerke zur Durchsetzung allgemeiner Standards gegenüber grenzüberschreitenden Dienstleistern aus dem Ausland sowie nachgelagerte nationalstaatliche Ordnungsregelungen im Bereich des Gewerbe- und Handwerksrechts, des Unternehmensrechts bis hin zu Pflichtversicherungen auf den Prüfstand. Es ist unstrittig, dass es bürokratische Hemmnisse gibt, die gerade kleineren Unternehmen das Leben oftmals schwer machen. Die entscheidende Frage ist jedoch: Wo hört Bürokratie auf und wo beginnen berechtigte Regulierungsinteressen und Kontrollnotwendigkeiten?
Welche Tätigkeiten sollen nun erfasst werden? - Dazu gibt es bereits jetzt in den Staaten sehr unterschiedliche Vorstellungen. Ausgenommen sind beispielsweise die Bereiche, für die bereits eigene sektorale EU-Liberalisierungsvorschriften gelten, wie die Bereiche Telekommunikation, Finanzdienstleistungen und Verkehr. Nicht betroffen sollen ferner hoheitliche Aufgaben der Staatstätigkeit, der Polizei, der Justiz und des Militärs sein, und solche Leistungen, die vom Staat aufgrund seiner sozia
len, kulturellen und bildungspolitischen oder rechtlichen Verpflichtungen erbracht werden, zum Beispiel öffentlicher Schulunterricht, soweit er kostenlos erfolgt.
Jedoch sind noch nicht liberalisierte Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge betroffen, sofern sie eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellen. Als Beispiele für betroffene Dienstleistungssektoren nennt die Kommission - ich will eine Reihe von Beispielen aufführen - Unternehmensberatungen, Werbung, Personalagenturen einschließlich Zeitarbeitsvermittlungen, Dienste von Handelsvertretern, Rechts- und Steuerberatung, Dienstleistungen im Immobilienwesen, Dienstleistungen des Baugewerbes, der Architekten, Handel, die Veranstaltung von Messen, die Vermietung von Kraftfahrzeugen, Sicherheitsdienstleistungen und Sportzentren, Freizeitparks usw.
Darüber hinaus soll die Richtlinie auch für reglementierte Berufe, zum Beispiel für Ärzte, Notare und Rechtsanwälte, gelten, wobei bereits geltende EU-Vorschriften davon unberührt bleiben sollen. Das Beispiel der Leih- und Zeitarbeitsfirmen und der Personalagenturen zeigt jedoch, dass über den Dienstleistungsbereich hinaus unmittelbar auch das produzierende Gewerbe und die Land- und Forstwirtschaft betroffen wären.
Die Richtlinie stellt somit die Aufgabe, solche extrem unterschiedlichen Bereiche wie Unternehmensberatung, Anwalts- und Notarberufe, Bauwirtschaft, Müllbeseitigung, Universitäten und Hochschulen, Rundfunk und Fernsehen oder auch Kindergärten im Rahmen einer einheitlichen Rechtsetzung zu regeln. Daraus erwächst einerseits die Frage, ob eine gleichgeschaltete Regelung für derart heterogene Bereiche überhaupt möglich ist. Ja, sagt die Richtlinie, wenn man alle bestehenden Regelungen weitestgehend außer Kraft setzt.
Andererseits erwächst die Frage, ob das auch durch geltendes EG-Recht gedeckt ist. Nein, sagt der EG-Vertrag, freier Dienstleistungsverkehr ist immer nur für bestimmte Tätigkeiten geregelt - also ein sektoraler Ansatz. Diesen Ansatz befürworten zu Recht viele betroffene Unternehmen. Aber der vorgesehene horizontale Ansatz, das heißt über alle Bereiche gleichermaßen hinweg, wird ausdrücklich als unangemessen kritisiert. Allein schon deshalb stellt sich die Frage, ob dieser Richtlinienentwurf nicht schon im Grundsatz als verfehlt zu beurteilen und deshalb an die Kommission zurück zu verweisen ist.
Europäisch harmonisierte Vorschriften für den Dienstleistungsbinnenmarkt sind hingegen nur für wenige Bereiche vorgesehen, zum Beispiel finanzielle Sicherheiten und Berufshaftpflicht bei risikobehafteten Dienstleistern. Ergänzende Harmonisierung soll in den Bereichen Geldtransporte, Gewinnspiele und gerichtliche Eintreibung von Forderungen erfolgen. Mittlerweile gibt es bereits Signale der Kommission, auch die Bereiche öffentlich finanzierte Dienstleistungen und Gesundheit aus der Richtlinie herauszunehmen.
Ansonsten geht jedoch der Entwurf von dem einfachen Prinzip aus: Erst einmal wird dereguliert und dann schauen wir nach, was passiert, und später wird vielleicht in puncto Verbraucherschutz und in anderen Fragen mit europäischen Mindeststandards nachgebessert.
Im Zentrum der vielfältigen Kritik an dieser Richtlinie steht vor allem die Durchsetzung des Herkunftslandsprinzips. Das heißt: Ist ein Dienstleister in einem EU-Mit
gliedstaat rechtmäßig tätig, so kann er seine Dienstleistungen auch in einem anderen Mitgliedstaat anbieten, ohne dort weitere Vorschriften erfüllen zu müssen. Der elementare Grundsatz der Nichtdiskriminierung laut Artikel 50 des EG-Vertrags beinhaltet gerade, dass Unternehmen mit ausländischem Firmensitz nach gleichem Recht behandelt werden müssen und es sollte auch keine Inländerdiskriminierung zugelassen werden.
Das Herkunftslandsprinzip dagegen bedeutet nicht gleiches Recht, sondern es bedeutet ungleiches Recht. Je nachdem, ob die Rechtsvorschriften und Standards im Heimatland höher oder niedriger sind, wird ein Dienstleistungserbringer gegenüber einheimischen Unternehmen entweder bevorteilt oder schlechter gestellt. Damit wird eine radikaler Wettbewerb der Rechtssysteme eingeleitet werden. In jedem einzelnen Mitgliedstaat werden künftig 25 verschiedene Unternehmensrechtssysteme neben- und miteinander konkurrieren.
Artikel 16 der Richtlinie würde den Mitgliedstaaten die Anwendung bestimmter vertraglicher Beziehungen untersagen, welche die selbständige Tätigkeit des Dienstleistungserbringers verhindern oder beschränken. Der Entwurf verbietet in Artikel 14 jedem Mitgliedstaat, den Dienstleistungsunternehmen die Pflicht zur Errichtung einer Hauptniederlassung aufzuerlegen, die Mehrfachregistrierung zu untersagen, eine Mindestdauer der Tätigkeit auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu verlangen oder einen Mindestzeitraum für die Aufrechterhaltung der Unternehmensregistrierung in seinem eigenen Register vorzuschreiben.
Das heißt, ein Unternehmen könnte sich einfach in dem Mitgliedstaat mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen und Kontrollen registrieren lassen - eine Briefkastenfirma genügt - und danach in jedem anderen Mitgliedstaat zu dessen günstigen Heimatbedingungen tätig werden. Das bedeutet, es könnte zum Beispiel in Deutschland als Unternehmen aus Portugal auftreten und in Dänemark als Unternehmen aus Slowenien. Mehrfachregistrierungen sind ja erlaubt. So könnte es dann auch nach den jeweils günstigsten Bedingungen für verschiedene Tätigkeitsfelder differenzieren.
Mitgliedstaaten mit vergleichsweise niedrigen rechtlichen Anforderungen und Kontrollen dürften von einer solchen Ausflaggungswelle profitieren, bleiben bei ihnen doch immerhin Registrierungsgebühren, Steuerzahlungen usw. hängen. Sie würden sich erfahrungsgemäß auch jedem Versuch widersetzen, ihre Standards zu erhöhen. In der Folge würde ein Dumpingwettbewerb nach unten eingeleitet werden.
Da nicht einmal die Einrichtung eines EU-Handelsregisters vorgesehen ist, wäre unternehmerische Tätigkeit in den Dienstleistungsbranchen ohnehin kaum noch wirksam zu kontrollieren. Zwar geht die Richtlinie davon aus, dass in Bezug auf die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit das Bestimmungslandprinzip der geltenden EU-Entsenderichtlinie bestehen bleibt.
Die Entsenderichtlinie sieht vor, dass die Kernarbeitsnormen des Bestimmungslandes, etwa gleiches Mindestentgelt, gleiche Arbeitsbedingungen und gleiche Arbeitszeiten etc., etwa für Arbeitnehmer portugiesischer Subunternehmen gelten, die auf französischen Baustellen arbeiten.
Der Richtlinienentwurf nimmt dem Bestimmungsland aber nahezu alle effektiven Kontrollmöglichkeiten. Für
die Einhaltung der Rechte des Entsendelandes soll nämlich das Entsendeland selbst zuständig werden. Welche Interessen sollte aber zum Beispiel Portugal daran haben, dass von seinen im Ausland tätigen Dienstleistern französische Kernarbeitsnormen eingehalten werden? Wie soll es deren Einhaltung effektiv kontrollieren, da es mangels Hoheitsbefugnissen keine Kontrollen außerhalb des Staatsgebietes vornehmen darf?
Bereits jetzt ist in der EU das Entsenderecht überwiegend geduldiges Papier. In der Praxis treten unzählige Rechtsverletzungen auf, die zum Beispiel mangels EURegelungen zur Vollstreckung von Bußgeldbescheiden in anderen Mitgliedstaaten, mangels flächendeckender Kontrollen etc. nicht verfolgt werden können. Die Neuregelungen der Dienstleistungsrichtlinie würden diesen Bereich endgültig in ein Paradies für Scheinfirmen, zwielichtige Personalvermittler oder Sozialabgabenhinterzieher verwandeln.
Erstens. Der Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie unterwirft wesentliche Leistungen der Daseinsvorsorge wie beispielsweise Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft und andere soziale Dienste und durch Sozialversicherungen geregelte Dienstleistungen wie zum Beispiel Gesundheits- und Pflegedienste einer allgemeinen Liberalisierung und greift damit tief in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten, ihrer regionalen Untergliederungen und Kommunen ein, die diese Leistungen in eigener Verantwortung regeln können.
Zweitens. Der Entwurf schafft mit der breiten Verankerung des Herkunftslandsprinzips ungleiche Wettbewerbsbedingungen für Dienstleistungen im europäischen Binnenmarkt, durchlöchert das einheitliche Recht der Mitgliedstaaten und organisiert so einen Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme um niedrige Qualitäts-, Arbeits-, Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards.
Drittens. Der Entwurf verzichtet auf eine sozialpolitische Regulierung des Dienstleistungsbinnenmarktes und macht so eine effektive Kontrolle der Einhaltung des geltenden deutschen und des EU-Rechtes zur Arbeitnehmerentsendung unmöglich.
Schließlich Viertens. Der Entwurf erschwert eine effektive Wirtschafts- und Unternehmensaufsicht und bietet unzureichende Vorkehrungen zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Wir als PDSFraktion wollen ausdrücklich die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsrechts und Sozialrahmens. Wir begrüßen die Absicht der EU-Kommission, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu verbessern, die Niederlassungsfreiheit einfacher zu gestalten und die Rechte der Verbraucher zu erhöhen. Im Ergebnis darf aber kein Lohn- und Sozialdumpingmarkt entstehen und keine Angleichung auf niedrigstem Niveau stattfinden.
Am Ende dieses Prozesses müssen entsprechend den EU-Zielen aus der Lissabonner Strategie verbesserte Arbeits- und Lebensbedingungen, eine verringerte Arbeitslosigkeit, Nachhaltigkeit im Wirtschaften und eine erhöhte soziale Kohärenz stehen.
Die Öffnung des Binnenmarktes darf nicht bedingungslos geschehen. Wir wollen ein Europa mit effizienten Wirtschaftsstrukturen und ein sozial gerechtes Europa. Das ist unser Ziel. Deshalb sollte die Kommission diesen Entwurf nach unserer Auffassung zurückziehen und grundlegend überarbeiten.
Deshalb fordern wir die Landesregierung auf, sich auf Bundes- und EU-Ebene dafür einzusetzen, dass der Vorschlag zurückgezogen und grundlegend überarbeitet wird. Ein neuer Vorschlag soll erst in den Rechtsetzungsprozess eingebracht werden, nachdem die Rahmenrichtlinie zu Diensten von allgemeinem Interesse erarbeitet und angenommen wurde. Beide Richtlinien bedürfen in der Entstehungsphase intensiver Konsultationen mit den europäischen Sozialpartnern.
Herr Dr. Thiel, die Richtlinie ist schon etwa ein Jahr auf dem europäischen Markt, wird diskutiert. Warum kommen Sie erst jetzt mit der Forderung, sie zurückzuziehen? Warum haben Sie die Diskussion nicht schon längst, nachdem Sie die Richtlinie zur Kenntnis genommen haben, so entfacht, wie Sie das jetzt tun?
Sind Sie nicht auch der Meinung, dass die allgemeine Einschätzung so ist, dass die Richtlinie grundlegend überarbeitet werden soll - wie das üblich ist -, ohne dass sie zurückgezogen wird? Meinen Sie nicht auch, dass es ausreichend ist, wenn darin all das eingebracht wird, was notwendig ist? Im Moment sind 30 Ausnahmeregelungen vorgesehen. Es gibt aber noch vieles, was noch überdacht werden muss.
Meinen Sie nicht, dass es ausreichend ist, wenn die Richtlinie, die vorliegt, überarbeitet wird? Das ist eine Notwendigkeit. Wenn sie zurückgezogen wird, geht sie uns vielleicht verloren und es gibt auf diesem Gebiet gar nichts. Sie wissen, wie notwendig so etwas ist.