Der Ältestenrat schlägt hierfür die Redezeitstruktur C und damit eine Debatte von 45 Minuten Dauer vor. Gemäß § 43 Abs. 6 unserer Geschäftsordnung wird zunächst dem Fragesteller das Wort erteilt. Alsdann erhält es die Landesregierung. Nach der Aussprache steht
dem Fragesteller das Recht zu, Schlussbemerkungen zu machen. In der Debatte sprechen die Fraktionen in folgender Reihenfolge und mit folgenden Redezeiten: FDP fünf Minuten, SPD sieben Minuten, CDU 13 Minuten und PDS sieben Minuten.
Zunächst erteile ich für die PDS-Fraktion dem Abgeordneten Herrn Krause das Wort. Bitte sehr, Herr Krause.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Im Jahr 2000 hat der Europäische Rat in Lissabon das Ziel formuliert, in der Europäischen Union bis zum Jahr 2010 die dynamischste und wettbewerbsfähigste wissensbasierte Wirtschaft der Welt zu schaffen, die sich durch Vollbeschäftigung mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einen verstärkten wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt auszeichnet.
Dieser Anspruch ist umso höher, als dabei das europäische Sozialstaatsmodell auch angesichts des Globalisierungswettlaufes bewahrt werden soll.
Eine besondere Herausforderung ist in diesem Zusammenhang die Zielstellung, die Unterschiede in der Entwicklung der Regionen Europas abzubauen und dabei speziell den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern. Bereits heute besteht ein erhebliches Wohlstandsgefälle auch innerhalb einzelner Mitgliedstaaten. Das trifft nicht zuletzt auch auf die Bundesrepublik Deutschland zu.
Unter den zehn reichsten Regionen der EU befinden sich fünf Regionen in den alten Bundesländern; alle neuen Bundesländer gehören aber zu der Gruppe der ärmeren Regionen in Europa. Diese Differenziertheit setzt sich innerhalb der neuen Bundesländer fort.
Die geografische Spezifik, das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung, das Vorhandensein von Handwerk, Gewerbe und Industrie, die demografischen Bedingungen sowie auch die historisch gewachsenen sozialen und kulturellen Beziehungen zwischen den hier lebenden Menschen entscheiden darüber, in welchem Maße innerhalb der Region eigene Potenziale für die weitere wirtschaftliche Entwicklung mobilisiert und genutzt werden können.
Wer die Herausforderung annimmt, ein Europa der Regionen aufzubauen, muss sich dieser regionalen Vielfalt stellen, darf jene Regionen nicht aus dem Blickfeld verlieren, die heute mehr denn je unter großen strukturellen Defiziten, unter einem gravierenden Bevölkerungsrückgang und unter einer unter dem Durchschnitt liegenden Finanzausstattung leiden. Der Bevölkerungsrückgang gerade in den ländlichen und ländlichsten Regionen auch Sachsen-Anhalts führt zu erheblichen Tragfähigkeitsproblemen, wenn es um die vielfältigen Fragen der Sicherung der kommunalen Daseinsvorsorge geht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesem Zusammenhang haben wir als PDS-Fraktion schon Anfang der 90er-Jahre die Losung geprägt: Nur ein produktives, ein wirtschaftlich und kulturell lebendiges Dorf ist letztlich auch ein schönes Dorf. Ohne die wirtschaftliche Seite des Dorferneuerungsprogramms und damit auch den Investitionsnachholbedarf in unseren Dörfern infrage stellen zu wollen, haben wir schon seinerzeit darauf hingewiesen, dass der ländliche Raum mehr als Potemkin’scher Dörfer bedarf.
Es soll an dieser Stelle auch gar nicht kleingeredet werden, dass über das Dorferneuerungsprogramm für Sachsen-Anhalt nicht nur Fördermittel bezogen worden sind, sondern auch eine Menge privates Kapital mobilisiert wurde. So sind allein im Jahr 2003 für mehr als 4 800 Maßnahmen 92,3 Millionen € an Zuschüssen bewilligt worden, die zu einer Gesamtinvestition von über 180 Millionen € führten. Diese Investitionssumme führte, wie uns das Ministerium wissen lässt, zu einem Arbeitsmarkteffekt von etwa 2 560 temporären Arbeitsplätzen.
Das Engagement von Frau Wernicke möchte ich hier auf keinen Fall unterschätzen. Alles in allem partizipierten seit 1991 immerhin mehr als 2 200 Dörfer von diesem Programm. Trotzdem konnten die Defizite, die hohe Arbeitslosigkeit, der Mangel an Einkommensmöglichkeiten, die Unzulänglichkeiten in der Verkehrsinfrastruktur, weiterer hoher Sanierungsbedarf in den ländlichen Gemeinden und anderes mehr, nicht nur nicht beseitigt werden; der Trend ist vielmehr, dass sich die Situation noch verschärft. Hinzu kommt das Problem der unzureichenden sozialen und kulturellen Infrastruktur und die sich in dieser Hinsicht abzeichnende künftige Entwicklung in diesen Gemeinden.
Die Landespolitik darauf stärker zu fokussieren, war die Absicht, die wir mit unseren Thesen zur Entwicklung ländlicher Räume und schließlich auch mit unserer Großen Anfrage verfolgt haben. Die sehr medienwirksame Ankündigung von Leitlinien für den ländlichen Raum durch die Ministerin vor zirka eineinhalb Jahren dürfte so gesehen auch ein Produkt unserer Arbeit gewesen sein. Dann aber mussten wir den Eindruck gewinnen, dass das eigene Vorhaben in Vergessenheit geraten war. Doch der Druck, den wir immer wieder gemacht haben, hat seine Wirkung nicht verfehlt.
Wenn Staatssekretär Dr. Aeikens kürzlich auf einer Regionalberatung sehr richtig und auch sehr schön formulierte - ich zitiere -, „ein lebendiger Raum braucht mehr als rote Dächer und schöne Wege“, so können wir das nur begrüßen.
Meine Damen und Herren! Obwohl dieser Satz nicht politisch gemeint ist, spricht er doch dafür, dass der Ball, den wir aus der Tiefe des parlamentarischen Raumes der Landesregierung zugespielt hatten, wie beabsichtigt angenommen worden ist.
Der ländliche Raum braucht in der Tat mehr als schöne Fassaden, sanierte Dächer und Fahrradwege. In diesem Zusammenhang geht es um Schulstandorte, um Kultur- und Freizeiteinrichtungen, um Ausbildungsplätze, um ärztliche Versorgung sowie um die Versorgung der Bevölkerung mit Artikeln des täglichen Bedarfs und anderes mehr.
Wenngleich die Landesregierung in ihrer Antwort, wie allgemein üblich, lediglich von einer drohenden Unterversorgung in der hausärztlichen Betreuung spricht, so dürfte das Problem inzwischen akut sein. Wenn Sie, meine Damen und Herren, am 11. April 2005 die Nachrichten verfolgt haben, dann werden Sie wissen, was es bedeutet, wenn in einem Kreis wie dem Altmarkkreis Salzwedel zwei Allgemeinmediziner im ländlichen Raum aus Gesundheits- und Altersgründen ihre Praxis schließen. Das kann nicht wie in den Ballungsgebieten, zum
Recherchen besagen, dass im Altmarkkreis Salzwedel für die ausreichende Versorgung mit Allgemeinmedizinern etwa 64 Ärzte vorhanden sein müssten. Nach dem Ausfall der beiden Mediziner sollen es noch 52 Ärzte sein. - So viel zu der Frage: drohender oder akuter Ärztemangel?
Dieses Problem werden wir kaum durch kommunale Imagewerbung lösen können. Dazu bedarf es ganzheitlicher, gesamtgesellschaftlicher Lösungsansätze, die das Mittel der Steuerung und Lenkung nicht ausschließen. Ich sehe es etwas anders, als Sie es in der Antwort auf die Frage 87 zum Ausdruck bringen. Damit wir uns nicht falsch verstehen, sage ich: Es geht nicht darum, jemanden zu verpflichten oder zu zwingen. Demgegenüber ist es aber ein legitimes Mittel zur Steuerung von Prozessen, Anreize zu schaffen.
Zu einem anderen Problem. Die Antwort bestätigt mehr oder weniger Bekanntes. Das Schulnetz im ländlichen Raum wirkt gefährlich dünn. Die Folgen sind längere Schulwege, eine höhere Schülerkonzentration sowie zeitliche und finanzielle Mehrbelastungen für die betroffenen Kinder und Familien. Außerdem stellt sich die Frage nach den Auswirkungen des Verlustes von Schulstandorten auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben in den betreffenden Gemeinden.
Aus dieser Sicht glauben wir, dass es wichtig ist, dass sich Schulen und Schulformen auf die Vielzahl der Gemeinden unter Berücksichtigung ihrer Größe verteilen. Auch wenn die Größe einer Gemeinde für die Schulbehörde kein Kriterium dafür ist, dass in einer Gemeinde ein Schulstandort zugelassen oder aufgehoben wird, sollten wir diese Frage nicht so kurz gefasst sehen. Uns ging es darum zu erfahren, was in solchen Gemeinden an Kultur-, Bildungs- und Jugendarbeit wegbricht, wenn der Schulstandort aufgegeben wird oder aufgegeben werden muss.
Um Antworten darauf zu erhalten und um dieses Problem zu erörtern, hat der Arbeitskreis „Bildung und Kultur“ unserer Fraktion ein Projekt in der Altmark in der Gemeinde Diesdorf sowie im Landkreis Merseburg-Querfurt gestartet. In diesem Zusammenhang sollen Gespräche mit Vereinen, Verbänden sowie mit kommunalen und freien Trägern und sonstigen Akteuren vor Ort Aufschluss und nutzbare Ergebnisse bringen.
Ansonsten hat die Landesregierung, so denke ich, in der Antwort auf die Große Anfrage insbesondere zur Bildungspolitik ein Material zusammengestellt, an dem unsere Bildungspolitiker und -politikerinnen noch ausreichend Beschäftigung finden werden.
Vor dem Hintergrund unserer heutigen Forstdebatte finde ich es bemerkenswert, dass die Plätze in den Jugendwaldheimen schon immer im Voraus belegt sind. Ernüchternd ist aber die Feststellung, dass die Einrichtungen zwar in dem jetzigen Umfang beibehalten, aber definitiv nicht erweitert werden sollen. Dieses Angebot für die Jugendarbeit zu nutzen und auszubauen, dürfte bei diesem hohen Bedarf doch eine lohnende Aufgabe für das Land und gleichzeitig ein erweitertes Arbeitsfeld für Beschäftigte der Forstwirtschaft sein.
Alles in allem ist es wohltuend zu hören, dass die Inbetriebnahme des Zellstoffwerks Arneburg eine so durchschlagende Wirkung auf die Verbesserung der Ertrags
lage der Forstwirtschaft hat und dass das Holzverarbeitungswerk außerdem als Kern eines Clusters zur Erschließung weiterer Entwicklungspotenziale für die Region betrachtet werden kann.
An dieser Stelle sei auf die sehr widersprüchliche Darlegung des Zusammenhangs von Globalisierung, Liberalisierung und Regionalisierung in der Antwort auf die Frage 22 aufmerksam gemacht. Die Landesregierung weist zwar zu Recht darauf hin, dass die Globalisierung die Öffnung der regionalen Wirtschaften und die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung bedeutet. Das Problem besteht aber gerade darin, unter diesen Bedingungen regionale Wirtschaftskreisläufe zu etablieren. Der Anbau, die Verarbeitung und die Vermarktung nachwachsender Rohstoffe und Energieträger machen schließlich nur auf der Grundlage dieses Prinzips Sinn.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! So viel Landwirtschaft muss sein, wenn es um den ländlichen Raum geht.
Unter diesem Gesichtspunkt entdecken wir das außerordentlich große wirtschaftliche Potenzial der Landwirtschaft für die ländlichen Räume. Auch wenn mit der EUAgrarreform die Zeichen für die Landwirtschaft anders gestellt sind, lasse ich mir diese Überzeugung nicht nehmen. In den ländlichen und vor allem in den ländlichsten Regionen wird von der Landwirtschaft die Initialzündung für die weitere wirtschaftliche Belebung der ganzen Region ausgehen.
Es ist Tatsache, dass die Lebensmittelbranche der einzige Sektor in Sachsen-Anhalt ist, der im Netto aller Investitionen auf Zuwachs und auf einen tatsächlichen Aufwuchs bei der Zahl der Arbeitsplätze verweisen kann. Dies, so denken wir, ist noch ausbaufähig, wenn wir in Sachsen-Anhalt Anreize zur Erhöhung der Viehbestände in einem wirtschaftlich erforderlichen und ökologisch vertretbaren Umfang bieten.
In der Region um Cloppenburg ist der Beweis dafür angetreten worden. Dort liegen die Viehbestände bei etwa vier bis fünf Großvieheinheiten pro Hektar, bei uns sind es lediglich 0,5. Allein diese Zahlen sprechen für sich. Das Problem darf nicht damit abgetan werden, dass man meint, die Landwirte müssten sich in stärkerem Maße an den Erfordernissen des Marktes orientieren. Schließlich wissen wir, dass wir in den neuen Bundesländern ein einträglicher Marktplatz für das alte Bundesgebiet sind, uns aber dort kaum ein Zipfel Markt zugestanden wird. An dieser Stelle ist die Politik gefragt. Nach 15 Jahren gäbe es einiges zu korrigieren.
Diese Zusammenhänge einmal auszuloten, dürfte ein Feld für Wissenschaft und Forschung sein. Spezielle Forschungsvorhaben des Landes im wirtschafts-, agrar-, natur- und sozialwissenschaftlichen Bereich, die sich unter Beachtung der kulturellen und sozialen Besonderheiten einer Region mit dem Wechselverhältnis zwischen Wirtschaftsentwicklung und Sicherung des ökologischen Potenzials auseinander setzen, sind jedoch nicht bekannt, wie uns die Landesregierung bestätigt.
Ich denke, wenn wir in Sachsen-Anhalt von einer Offensive in Wissenschaft und Forschung sprechen, sollte dieses Gebiet nicht ausgespart bleiben. Noch haben wir die Landwirtschaftliche Fakultät an der Martin-LutherUniversität. Wir sollten sie uns bewahren, aber nicht als
ein Anhängsel irgendeiner naturwissenschaftlichen Fakultät, sondern als eigenständige wissenschaftliche Forschungs- und Lehranstalt.
Wir sollten das nicht allein deshalb tun, weil sie so geschichtsträchtig wie wohl keine in der Bundesrepublik Deutschland ist, sondern wir sollten das vor allem auch deshalb tun, weil es gerade die Landwirtschaft war, die als einziger Bereich etwas völlig Neues in den Prozess der deutschen Einheit eingebracht hat. Das ist nicht nur die großräumige Struktur, sondern das ist vor allem das genossenschaftliche Prinzip, das wir nachhaltig durchsetzen konnten.
Es muss einfach eine universitäre Einrichtung geben, die sich dieser Sache wissenschaftlich annimmt und die Leute ausbildet, die mit diesen Strukturen und mit dem genossenschaftlichen Prinzip umzugehen verstehen. Es geht also nicht nur um die Standortfrage in Halle, sondern zuallererst um eine inhaltliche Ausrichtung.
In diesem Sinne möchte ich meine Ausführungen im Zusammenhang mit der Großen Anfrage mit einer Zusatzfrage beenden. Frau Ministerin, ich habe mir sagen lassen: Wenn es an der Landwirtschaftlichen Fakultät um betriebswirtschaftliche Fragen, um Unternehmensrecht und Agrarökonomie insgesamt geht, spielen zwar alle Rechtsformen eine Rolle, aber vom Funktionieren einer Agrargenossenschaft soll ein Absolvent der ehrwürdigen Landwirtschaftlichen Fakultät nie etwas gehört haben. Jetzt, Frau Ministerin, meine Frage: Stimmt das? - Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Krause. - Meine Damen und Herren! Die Antwort der Landesregierung wird von der Ministerin für Landwirtschaft und Umwelt Frau Wernicke interpretiert. Bitte sehr, Frau Ministerin.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will durchaus zugeben, dass ich keineswegs ärgerlich darüber bin, heute die Möglichkeit zu haben, die Situation des ländlichen Raumes zu thematisieren. Denn allzu oft stehen die Probleme des ländlichen Raumes zumindest in dieser Komplexität nicht im Fokus der Öffentlichkeit.
Nun liegt eine Fleißarbeit vor. Alle Ressorts haben nach bestem Wissen und Gewissen einen Beitrag zu dieser Analyse geleistet. Der ländliche Raum ist für SachsenAnhalt sehr wichtig. Die Gründe dafür werden deutlich, wenn man sich einmal darüber klar wird, was der ländliche Raum eigentlich ist. Auf europäischer Ebene gibt es hierfür keine Definition. Der Europäische Rechnungshof hat dies bei der Kommission angemahnt. Dort „denkt“ man, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Auf das Denkergebnis der Kommission kann man nicht warten. Deshalb haben wir uns in Sachsen-Anhalt auf die Begriffsdefinition aus dem Landesentwicklungsplan verständigt. Danach sind in Sachsen-Anhalt, abgesehen von den Verdichtungsräumen Halle und Magdeburg, flächendeckend ländliche Räume zu finden. Sie umfas