Protokoll der Sitzung vom 26.05.2005

Deshalb finde ich es richtig, dass Sie als Landesregierung mit dem Kabinettsbeschluss vom 2. März 2004 festgelegt haben: Es gelten die Ergebnisse der dritten regionalisierten Bevölkerungsprognose Sachsen-Anhalts 2002 bis 2020 als Planungsgrundlage für alle Behörden und damit auch als Grundlage für Ihre Politik.

Umso unverständlicher ist es mir dann, dass Ihr Koalitionspartner uns vorwirft - wie wir heute hören mussten -, dass wir genau Ihre Daten zur Grundlage unserer Zukunftsbeiträge gemacht hätten.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich glaube, Sie wissen genauso gut wie ich, dass das nicht von Herrn Bullerjahn erfundene Daten sind, sondern dass das die Daten des Statistischen Landesamtes sind, die hier in den Zukunftsdebatten zugrunde gelegt werden.

Man kann uns ja vorwerfen, die SPD springe zu kurz oder sie springe zu weit, aber das Ignorieren der Situation, die auf uns zukommt, und gar nicht zu springen, das führt zu Stillstand. Und Stillstand ist das Schlimmste, was diesem Land passieren kann.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von Herrn Kosmehl, FDP, und von Herrn Gürth, CDU)

Meine Damen und Herren! Die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern ist ins Stocken gekommen. In dieser Situation stellt sich die Frage: Was ist zu tun, um den Aufbauprozess wieder ins Rollen zu bringen? - So lautet die Frage, die das IWH an den Anfang einer diesjährigen Studie zur Wirtschaftspolitik in Ostdeutschland stellt.

Die Antwort, die das IWH gibt, will ich nicht an den Beginn der Debatte stellen, aber so viel kann ich Ihnen verraten: Uns hat die Antwort nicht überrascht; sie liegt nahe an der sozialdemokratischen Vorstellung über die Wirtschaftspolitik in Sachsen-Anhalt. Deshalb zunächst eine Analyse und Bewertung dessen, was wir vorhin gehört haben.

Um allen Anfeindungen ideologischer und politischer Art und Vorwürfen, ich wolle Ihre Politik nur schlechtreden, aus dem Weg zu gehen, beziehe ich mich auch hierbei auf wissenschaftliche Erkenntnisse des IWH. Wer die Beiträge des IWH und seine Einschätzung auch zur Politik der SPD-geführten Landesregierung der vergangenen Jahre noch im Ohr hat, der wird mir sicherlich zustimmen, dass das IWH nicht in dem Verdacht steht, den Sozialdemokraten in Sachsen-Anhalt nach dem Munde zu reden. - Also das Zitat aus dem Standortreport 2005:

„Es ist seit langem bekannt, dass Sachsen-Anhalt, bezogen auf den Zeitraum von 1991 bis 2002, bei den Investitionen der Spitzenreiter unter den ostdeutschen Flächenländern ist. Eine Reihe von Anzeichen deutet auf positive Effekte dieser Investitionen heute hin. Dazu gehören die Erhöhung der Beschäftigtenzahlen in den Betrieben, die günstige Entwicklung des Industrieumsatzes, eine positive Ertragsentwicklung in den Unternehmen.“

Womit wir bei den Grundlagen dafür wären, dass Sachsen-Anhalt heute - Gott sei Dank, sage ich - ein Musterschüler bei den Wachstumsraten im produzierenden Gewerbe ist. Sie haben dies ausgebaut; das ist gut so und das muss auch weiterhin passieren.

Aber ich will an dieser Stelle auch gleich mit dem weit verbreiteten Unsinn - so würde ich es fast bezeichnen - aufräumen, diese Landesregierung sei der Spitzenreiter bei Investitionen und erst nach der Regierungsübernahme sei das Ansiedlungsgeschäft wieder angelaufen.

Sehen wir uns die bewilligten Investitionsprojekte an: In den Jahren 2000 und 2001 etwas mehr als 500, im Jahr 2002 rund 600 Projekte. Wir werden sehen, wie viele davon umgesetzt werden. Ich hoffe im Interesse des Landes, dass es viele sein werden. Aber man rechnet immer mit einem Drei-Jahres-Zeitraum, und es gibt nicht wenige, die hinter vorgehaltener Hand sagen, Sie hätten bewilligt, was nur Beine hatte. Also warten wir einmal ab, was dabei herauskommt.

Im Jahr 2003 waren es dann rund 700 bewilligte Projekte, allerdings mit einem Haken: Etwas mehr als 200 dieser Projekte kommen aus dem Komm-Invest-Programm. Damit sind wir wieder auf dem Niveau von 2001. Im Jahr 2004 waren es nur noch etwas mehr als 200 Projekte insgesamt - minus 60 % gegenüber dem Vorjahr.

(Herr Gürth, CDU: Das ist eine Milchmädchen- rechnung!)

- Lassen Sie die bereinigte Kurve ruhig vor Ihrem geistigen Auge entstehen, Herr Gürth. Es ist keine Milchmädchenrechnung, sondern eine Statistik, mit der man sich einmal überlegt, was dort passiert.

(Herr Gürth, CDU: Sie rechnen sich die Welt schlecht, weil es nicht in Ihr Bild passt!)

- Das sind keine optimalen Kurven, sondern das ist in der Tat ein Sinkflug. In den zurückliegenden Jahren wurde die vermeintliche wirtschaftliche Dynamik des Landes mit den gestiegenen Investitionen begründet. Jetzt müssen wir feststellen: Die Summe der Investitionen in Sachsen-Anhalt geht deutlich zurück.

(Herr Dr. Schrader, FDP: Quatsch!)

Stieg das Investitionsvolumen von 2,8 Milliarden € im Jahr 2002 auf rund 3,1 Milliarden € im Jahr 2003 an, brach es im vergangenen Jahr auf ca. 1,4 Milliarden € förmlich ein. Damit wurde im letzten Jahr in SachsenAnhalt sogar weniger investiert als im Jahr 2001 mit 1,8 Milliarden €.

Auch die Zahl der neu geschaffenen und gesicherten Arbeitsplätze entwickelte sich rückläufig. In den Jahren 2002 und 2003 waren es jeweils ca. 7 000, im Jahr 2004 nur noch 4 000. Die Anzahl der Erwerbstätigen ist entgegen dem Bundestrend gesunken. Nur MecklenburgVorpommern ist diesbezüglich noch schlechter dran.

Herr Ministerpräsident, das ist die reale Statistik. Das ist, wie Sie vorgestern so schön gesagt haben, die unbarmherzige Wahrheit. Ebenso gehört dazu, dass die Wirtschaft des Landes analysiert: Sachsen-Anhalt ist wegen einer falschen Wirtschaftspolitik auf Bundes- und auf Landesebene nicht vorangekommen. - So einfach wird es für Sie mit den Schuldzuweisungen in Zukunft nicht mehr sein.

(Herr Dr. Schrader, FDP: Man sollte die Zeitun- gen genau lesen, bevor man so etwas sagt!)

Herausreden auf den Bund allein gilt nicht mehr.

Wirklich innovativ allerdings - ich wundere mich, Herr Ministerpräsident, dass Sie diesen Rechnungen auf den Leim gegangen sind - ist der Umgang mit der Statistik zum Wirtschaftswachstum. Statt ehrlich zu analysieren und zu sagen, dass das Wirtschaftswachstum 2004 mit 1,2 % deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 1,6 %, aber auch unter dem ostdeutschen Durchschnitt mit 1,5 % lag, kumulieren Sie die Wachstumsraten der letzten drei Jahre und reden sich zum Spitzenreiter hoch. Jedem Mathematiker müssen bei diesem Missbrauch der Addition die Haare zu Berge stehen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS)

Ich glaube, Sie sind da wohl doch der Versuchung erlegen, die barmherzige Lüge, wie Sie es so schön gesagt haben, zu wählen.

Wer heute schon Zeitung gelesen hat, wird wissen, dass bald auch die Addition nicht mehr weiterhelfen wird. Die NordLB prognostiziert nur noch 1,1 % für 2005 und damit liegen wir wieder unter dem ostdeutschen Durchschnitt.

(Minister Herr Dr. Rehberger: Da heißt es doch abwarten!)

Es macht zwar keinen Sinn, auf jede der genannten Zahlen einzugehen.

(Herr Gürth, CDU: Nicht schwarzsehen, schwarz wählen, das ist die Losung!)

Aber, meine Damen und Herren, es ist geradezu absurd, dass ausgerechnet zwei Daten als Positivbeispiel herhalten sollen, bei denen Sachsen-Anhalt Schlusslicht ist. Zwar ist die Insolvenzquote rückläufig und das ist gut so. Allerdings gehört zu der Wahrheit genauso: Nirgendwo in Deutschland war im Jahr 2004 die Gefahr, in die Insolvenz gehen zu müssen, so groß wie in SachsenAnhalt. Von 10 000 Unternehmen mussten in SachsenAnhalt 255 Insolvenz anmelden, in Sachsen 175 und in Thüringen 136.

Als Erfolg der Existenzgründungsoffensive wird die Entwicklung der Selbständigenquote angeführt. Aber auch hierbei gehört zur Wahrheit zu erwähnen, dass Sachsen-Anhalt mit 8,45 % den traurigen letzten Platz in Deutschland innehat.

Was ist Ihre Antwort? - Das ist die Frage, wenn man sich die Daten ehrlich anschaut und sagt: Es ist noch viel zu tun. Ihre Antwort auf diese Entwicklung im Land ist: Weiter so! Der Weg und die Richtung stimmen.

Nein, meine Damen und Herren, das ist keine Zukunftsdebatte. Wir müssen vernünftige Antworten auf zurückgehende Landesfinanzen und die demografische Entwicklung finden. „Wir werden das Kind schon schaukeln“, reicht nicht mehr. Sie müssen auch sagen, wie Sie es ernähren wollen, wie Sie es kleiden wollen und wie Sie es ausbilden wollen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS)

Deshalb will ich auf die Analyse, die ich vorhin angekündigt habe, des IWH und die Vorschläge des IWH zur Wirtschaftspolitik zurückkommen, auch wenn Sie es vielleicht nicht mehr hören mögen.

Die Landesregierung lehnt die räumliche Konzentration von Wirtschaftsförderung ab. Die Begründungen, die oft in den Regionen auch emotionalisierend wirken sollen - nach dem Motto: „Die Sozis wollen euch abhängen“ -,

folgen immer dem gleichen Strickmuster. Auch heute ist eines davon vorgetragen worden.

Was aber sagt die empirische Forschung, die Entwicklungen untersucht hat - nicht zu vergleichen mit der emotionalen Debatte und dem Streit um den Aufbau Ost, sondern die klare wirtschaftliche Analyse wirtschaftlich starker Regionen und eine rationale Betrachtung? Sie geht davon aus, dass in wirtschaftlichen Zentren oder Ballungsgebieten Lokalisationsvorteile und Urbanisationsvorteile entstehen - beides Vorteile, die die Zentren befähigen, dynamischer zu wachsen. Die Entwicklung überall auf der Welt belegt, dass wirtschaftliches Wachstum heute - nicht vor 20 Jahren, aber heute - nur noch in Zentren zustande kommt.

Je eher es uns gelingt, die Zentren voranzubringen, umso weniger wird unser Bundesland in Gänze vom Bevölkerungsrückgang betroffen sein. Unser Problem besteht doch, wenn wir ehrlich sind, eigentlich darin, dass das in der Diskussion immer wieder vorgetragene Argument, Zentren strahlten überregional aus, bei uns noch nicht greift. Aber der Befund, dass unsere Zentren noch zu schwach sind, um die nötige Ausstrahlung zu entfalten, darf doch nicht dazu führen, dass wir die Stärkung der Zentren insgesamt ablehnen; vielmehr muss uns das doch eher motivieren, unsere Zentren, unsere Ballungsräume dahin zu bringen, dass sie funktionieren.

(Beifall bei der SPD)

Die Stadt Frankfurt am Main zum Beispiel strahlt nach neueren Untersuchungen in einen Umkreis bis zu 150 oder 200 km aus. Es gibt nach den neuesten Analysen sogar nicht wenige Familien, die bis ins Siegerland fahren, dort wohnen, weil das Bauland dort billig ist, und in Frankfurt arbeiten.

Meine Damen und Herren! Möglicherweise denken wir, was die Ballungsräume und die Entwicklung der Zentren angeht, in Sachsen-Anhalt zu kleinräumig, wie auch bei anderen Themen. Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, dann müssen auch andere Konzepte angepasst werden, zum Beispiel bei dem Thema Infrastruktur.

Wir selbst sagen jetzt, die Infrastrukturprojekte müssten auf den Prüfstand, kleinere dezentrale müssten möglicherweise aufgegeben werden. Wenn man aber den Gedanken der Entwicklung von Ballungsräumen konsequent zu Ende denkt, müssen wir die Infrastrukturpolitik in Sachsen-Anhalt und für Sachsen-Anhalt darauf ausrichten, Peripheriegebiete optimal an unsere eigenen Ballungsräume anzubinden. Es geht um die Verflechtung von Unternehmen untereinander, es geht um die Verflechtung mit Forschungs- und Entwicklungsstrukturen, es geht darum, die wissensbasierte Gesellschaft zu etablieren und dafür zu sorgen, dass es sich lohnt, sich für Dienstleistungen hier anzusiedeln.

Ich bin fest davon überzeugt, Herr Ministerpräsident, dass Sie zu den gleichen Schlüssen kommen würden, wenn Sie das Thema einmal ohne parteipolitische Überlegungen betrachten würden. Denn eigentlich eignen sich dieser inhaltliche Streit und diese inhaltliche Auseinandersetzung nicht für Parteipolitik. Was ich erreichen will, ist eine offene Diskussion und ein konstruktiver Streit um Konzepte für die wirtschaftliche Entwicklung in Sachsen-Anhalt.

Lassen Sie mich noch ein Argument bringen: Alle Analysen zeigen, dass die städtische Entwicklung in Ostdeutschland bei allen Wachstumsfaktoren der der westdeutschen städtischen Entwicklung hinterherhinkt. Die

ostdeutschen ländlichen Räume sind allerdings in ihrer Ausstattung mit den westdeutschen ländlichen Räumen eher vergleichbar. Das ist positiv, aber auch die folgenden Konzepte müssen darauf ausgerichtet werden.

Das IWH sagt ganz deutlich: Es geht nicht um sture Investitionslenkung. Aber wenn wir die Zentren stärken, bringen wir allgemeine Ballungsvorteile zustande, die allen Bereichen nutzen und die die Vielfalt, die wir in der Wirtschaftsstruktur brauchen, fördern. Das IWH sagt auch eindeutig, dass mit dem bisherigen System der flächendeckenden Förderung der notwendige Schub nicht erreicht werden konnte. Daher müssen die Wachstumszentren in Zukunft stärker gefördert werden und das hätte für das Land die größten Wachstumseffekte. Finanztransfers fließen nicht ewig, sie sind begrenzt. Das Jahr 2019 oder, wenn Sie wollen, das Jahr 2020 kennen wir alle.

Meine Damen und Herren! Dafür ist auch ein Umdenken der Landesregierung in der Mittelstandspolitik notwendig. Wenn wir darauf setzen, dass die eigenen Potenziale wachsen sollen, dann müssen Sie bei dem Thema Erweiterungsinvestitionen umdenken. Erweiterungsinvestitionen im heimischen Mittelstand müssen wieder gefördert werden, egal, ob es die vierte, fünfte, sechste oder siebente Erweiterungsinvestition ist.

(Beifall bei der SPD)