Protokoll der Sitzung vom 07.07.2005

Ich glaube im Übrigen nicht, dass es die Inhalte der Verfassung waren, die zu einem Nein bei der Abstimmung

geführt haben. Die bei der nachträglichen Analyse ermittelten Gründe sind immer nur Ausschnitte, die, so denke ich, für das gesamte Volk in den Ländern nicht ganz repräsentativ sind. Ich glaube vielmehr, dass eine Art gefühlter Verunsicherung dazu geführt hat, dass man zu der Verfassung der Europäischen Union nein gesagt hat.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass auch wir es uns in den letzten Jahren oft viel zu leicht gemacht haben, indem wir in Deutschland immer auf die Gesetzgebung der EU verwiesen haben, wenn wieder einmal etwas nicht klappte. Das schlägt natürlich irgendwann zurück. Auch wir haben Europa nicht so in das Volk, zu den Bürgerinnen und Bürgern gebracht, wie es diesen eigentlich zustehen würde.

Das Thema Geld steht natürlich immer stark im Vordergrund. Aber es ist nicht nur Geld, was die Europäische Union ausmacht. Wir müssen Antworten auf die Frage finden, was geändert werden kann und werden muss, damit die beiden Gründungsmitglieder, die nein gesagt haben, und auch alle anderen Mitgliedstaaten der Union zustimmen können. Und - machen wir uns nichts vor - auch wir hätten, wenn es in Deutschland eine Volksabstimmung gäbe, bis zu einer breiten Zustimmung noch einen langen Weg vor uns, um zu transportieren, wie wichtig die Europäische Union für Deutschland ist.

Klar ist auch, dass wir Einigkeit über ein einheitliches Abstimmungsverfahren haben müssen, damit die Menschen in jedem Mitgliedstaat die gleichen Bedingungen haben. Wenn dieses Jahr der Denkpause positiv genutzt werden soll, muss sofort mit den nötigen Gesprächen und Verhandlungen begonnen werden.

Unser heutiges Europa ist ein Europa, das sich als Wertegemeinschaft versteht und das auf den universellen Werten und den unveräußerlichen Rechten der Menschen beruht. Es ist ein Europa, das Demokratie mit wirtschaftlicher Produktivität und sozialer Solidarität zu einem ganz eigenen Gesellschaftsmodell verknüpft. Es ist ein Europa, das sich als soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Gemeinschaft begreift, das ganz bewusst mehr sein will als eine bloße geografische Einheit, mehr als ein Binnenmarkt und mehr als eine Freihandelszone.

Es ist ein Europa, das als innere Einheit auftreten und nach der festen Überzeugung handeln will, dass wir Europäer gemeinsam mehr erreichen können, als jeder Einzelne für sich erreicht. Wir haben in den vergangenen Jahren gemeinsam auch schon mehr erreicht, als es den einzelnen Ländern möglich gewesen wäre. Es ist ein Europa, das eine Stimme für Frieden und ein starker Partner für eine gerechte und kooperative Weltordnung sein will.

Die Verfassung schafft dieses Europa nicht, aber sie bietet den Rahmen, die Institutionen und die Verfahren dafür, dass das erweiterte Europa auf seinem Weg weitergehen kann.

Ich sage es noch einmal: Die Inhalte der Verfassung geben keinen Anlass, ihr nicht zuzustimmen. Es gibt aus meiner Sicht auch gar keine politische Alternative zu einem Bekenntnis für die Weiterentwicklung Europas als Ganzes.

Sie, meine Damen und Herren von der PDS, haben mit der Aktuellen Debatte ein zweites Thema aufgegriffen: die finanzielle Vorausschau für den Zeitraum von 2007

bis 2013. Durch das Scheitern der Verhandlungen in diesem Punkt können die nötigen operativen Planungen, das heißt die Umsetzung der geplanten Fonds in nationale und regionale Programme, nicht beginnen. Ohne diese Programme kennt niemand die ganz genauen Bedingungen für die Ausarbeitung und die Beantragung von konkreten Projekten. Die Planungen nehmen mit Sicherheit einen Zeitraum von einem bis anderthalb Jahren in Anspruch.

Es ist allerdings falsch zu behaupten - wie es in der Begründung ausgeführt wird -, dass dies Auswirkungen auf den EU-Haushalt bis 2006 habe. Dieser ist klar geregelt. Das Scheitern der Verhandlungen für den folgenden Förderzeitraum wird keine Auswirkungen auf die laufende Strukturfondsperiode haben; es ist im Grunde erst einmal uninteressant.

Die Verhandlungen sind eindeutig an der Blockadehaltung des Vereinigten Königreiches gescheitert. In deren Folge sind auch die Niederlande und Schweden zum Nein übergegangen. Frankreich war zum Schluss sogar bereit, ein Stück seiner „heiligen Kuh“, der Agrarsubventionen, zu opfern. Doch auch ein Angebot der neuen EUStaaten, die, obwohl sie die ärmsten Staaten in der europäischen Familie sind, zugunsten des so genannten Britenrabatts Verzicht erklärten, ließ den britischen Premierminister nicht umdenken.

Sollte es nicht zu einer Einigung über die neue finanzielle Vorausschau kommen, muss die Europäische Union mit den Obergrenzen des letzten Haushalts auskommen. Dies würde bei der erhöhten Mitgliederzahl zwangsläufig zu starken Reduzierungen bei der Höhe der Fördermittel führen; das ist richtig.

Ob sich in einer solchen Situation Verteilungskämpfe, die die Einheit der Union gefährden, vermeiden lassen, ist ziemlich ungewiss. Dies hätte ganz gewiss auch Auswirkungen auf Deutschland, auf Ostdeutschland, auf Sachsen-Anhalt, das um die Abfederung des statistischen Effekts und um die Weiterführung als Ziel-1Gebiet kämpft. Deshalb sage ich ganz klar: Wir brauchen die Finanzierungssicherheit aufseiten der EU. Es muss eine Einigung über die künftige Planungsperiode geben.

(Zustimmung von Frau Fischer, Naumburg, SPD)

Wir brauchen die europäische Unterstützung für die Fortführung des Aufbaus Ost. Die Regionen in Ostdeutschland sind noch zu schwach, um darauf verzichten zu können. Allerdings sind wir auch schon mit unterschiedlich langen Vorbereitungszeiten für neue Strukturfondsperioden klargekommen.

Deshalb ist es, denke ich, umso wichtiger, dass wir die Zeit auch hier im Land nutzen, um uns darüber klar zu werden, wie wir in der nächsten Periode ab 2007 die europäischen Mittel einsetzen wollen. Ein Verstecken hinter der EU und hinter dieser Pause in beiden Bereichen, hinsichtlich der Verfassung und hinsichtlich der finanziellen Vorausschau, gibt es nicht, wenn es um inhaltliche Diskussionen und Entscheidungen geht.

Hierbei sind wir als Landespolitiker gefragt und hieran müssen wir auch weiterarbeiten. Die Kernthemen sind aus der zweiten Mitteilung der Kommission bekannt. Sehr viel wird sich an den groben Grundzügen nicht mehr ändern. Das heißt, wenn die finanzielle Vorschau entschieden ist, dann müssen wir im Grunde bloß noch an kleinen Rädchen drehen. Die groben Linien müssen dann für uns im Land klar sein.

Meine Damen und Herren! Auch ohne das Ausmaß der wahrscheinlich terroristischen Anschläge in London zu kennen, ist heute einmal mehr klar geworden, dass es nicht nur um ein wirtschaftliches und soziales Europa geht, sondern dass der sicherheitspolitische und der außenpolitische Aspekt eine immer stärkere Rolle spielen und spielen müssen. Wir dürfen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in unseren Staaten nicht nur über das wirtschaftliche und soziale Zusammenwachsen reden, sondern wir müssen insbesondere auch die beiden Aspekte Sicherheitspolitik und Außenpolitik in das Bewusstsein unserer Bürgerinnen und Bürger rücken.

Ich glaube, der heutige Tag hat eher gezeigt, dass wir noch sorgsamer vorgehen müssen, wenn wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Europäische Union vermitteln. Dies hat die Aufgabe eher noch größer gemacht. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Budde. - Meine Damen und Herren! Die Debatte wird fortgesetzt und beendet mit dem Beitrag der CDU-Fraktion. Dazu rufe ich Herrn Scharf an das Mikrofon. Bitte sehr, Herr Scharf.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn es, was wir nach den ersten Meldungen vielleicht ahnen, wahr sein sollte, dass dieses schreckliche Wetterleuchten in London ein Vorbote dafür ist, dass der Terrorismus jetzt in das Herz Europas einzieht, dann kann man sich vorstellen, dass ab sofort die Diskussionen über die Zukunft Europas anders verlaufen werden als in den letzten Wochen, Monaten und Jahren.

Ich weiß es nicht. Wir wissen alle nicht genau, in welcher Situation wir uns befinden. Ich persönlich habe aber die Vermutung, dass wir möglicherweise so manche Rede, die wir uns im Vorfeld der heutigen Aktuellen Debatte aufgeschrieben haben, beiseite legen können, weil die Ausgangssituation für die Beurteilung unserer politischen Lage und dann auch für unser politisches Handeln schlagartig eine andere sein wird. Die Aufgabe der Politiker ist es, darauf mit Besonnenheit zu reagieren. Ich möchte auch nur einem Gefühl Ausdruck verleihen, zumal ich nicht weiß, ob ich nicht vielleicht doch falsch liege. Ich möchte mich aber auch nicht in einer falschen Hoffnung wiegen.

Wir müssen die Voten der Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und in den Niederlanden ernst nehmen. Herr Staatsminister Robra hat uns anhand statistischer Materialien sehr gut erläutert, dass es eine diffuse Gemengelage ist, die zur emotionalen Ablehnung der Europäischen Union in diesen Ländern geführt hat, und dass es weniger ein konkretes Votum gegen den Verfassungsvertrag oder ein konkretes Votum gegen das Zusammenwachsen Europas gewesen ist. Vielmehr fühlen sich die Menschen in dem Europa, das die Politiker ihnen anbieten, im Moment nicht zu Hause.

Ich stimme mit meinen Vorrednern darin vollkommen überein, dass mit Sicherheit nur eine Europäische Union, die eine Erfolgsgeschichte aufweisen kann, ein wirksames Argument für die Völker Europas dafür sein kann, den Wohlstand und das europäische Sozialstaatsmodell in einer globalisierten Welt auf Dauer zu sichern, zu erhalten und zu entwickeln.

Deshalb müssen wir jetzt, in der Krise der Europäischen Union, alles tun, um die Europäische Union zu stärken. Das, meine Damen und Herren, setzt aber voraus, dass das, was die Europäische Union im Moment, gemessen an den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, noch nicht ausreichend leisten kann, in Zukunft in deutlich besserer Qualität geleistet wird.

Das heißt, die Europäische Union darf nicht mit zunehmender Bürokratie identifiziert werden. Sie darf nicht mit Sozialdumping identifiziert werden. Sie darf nicht mit Arbeitsplatzverlust und Kriminalität identifiziert werden. Nein, sie muss mit dem Gegenteil dieser Wörter identifiziert werden. Sie muss in Zukunft - damit komme ich auf den Anfang meiner Rede zurück - auch zunehmend in der Lage sein, den Menschen in Europa Sicherheit vor Anschlägen zu gewährleisten, die jede Frau und jeden Mann treffen können und vor denen sich letztlich niemand schützen kann.

Weil offensichtlich bisher alles nicht so optimal gelaufen ist, wie wir uns das gewünscht hatten, kann man die Bürgerinnen und Bürger verstehen. Als Beispiel sind die nicht optimal ausgehandelten Verträge für die Osterweiterung der Europäischen Union zu nennen, die den Bürger eher zur Skepsis neigen lassen, als dass er wohlwollend auf den europäischen Einigungsprozess blickt.

Ich denke etwa daran, dass unter Ausnutzung der Dienstleistungsfreiheit durch Subunternehmer zu Tiefstpreisen Schweinehälften von Scheinselbständigen in Deutschland zerlegt werden. Die Politik darf in solchen Fällen nicht achselzuckend daneben stehen und sagen: Das passiert eben in einer Welt, die zusammenwächst. Wenn das nicht in Deutschland zugelassen wird, dann passiert das eben in Polen oder in Tschechien. Schließlich wissen wir alle, wie konsequent die Bürgerinnen und Bürger bei Aldi und Lidl nach den billigsten Lebensmittelprodukten schauen. Das ist eine mörderische Konkurrenz, die hier tatsächlich besteht.

Wir haben die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die Sozialstandards, die wir halten wollen, auch gehalten werden können. Deshalb bin ich dafür, die Europäische Gemeinschaft in diesen Fragen weiterzuentwickeln. Deshalb bin ich dafür - die Landesregierung hat sich schon dafür eingesetzt -, dass über Fragen, die die Dienstleistungsrichtlinie betreffen, konsequent verhandelt wird, damit eine annehmbare Lösung für die Bürgerinnen und Bürger in Europa gefunden wird.

Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Das, was die Landesregierung in diesem Prozess machen kann, muss sie machen. Ich kann mir gut vorstellen - da lasse ich mir ordnungspolitisch von niemandem etwas vorschreiben -, dass wir mit der Frage der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auch in diesem Land Sachsen-Anhalt wieder deutlich Ordnungspolitik machen könnten.

Ich möchte daran erinnern, dass es unter dem Arbeitsminister Schreiber eine Allgemeinverbindlichkeit bei Tarifverträgen im Gebäudereinigerhandwerk gegeben hat. Ich frage die Landesregierung: Warum denken Sie nicht ernsthaft über diese Frage nach?

Ich denke, das, was im Überwachungsgewerbe abläuft, muss ebenfalls untersucht werden. Wir können es den Arbeitnehmern in einigen Branchen nicht zumuten, auf Dauer für Löhne zu arbeiten, die nicht existenzsichernd sind. Das können wir ordnungspolitisch auf Dauer nicht begründen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Die Instrumente, die uns dafür zur Verfügung stehen, sind schwer zu handhaben. Wir können in einigen Teilen über eine Ausweitung der Arbeit an der Entsenderichtlinie diskutieren. Darüber wird in der Union bereits diskutiert. Das sehen einige in der Union anders als ich; aber die Mehrheit in der Union sieht es so, wie ich es sehe, meine Damen und Herren. Das muss deutlich angesprochen werden.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich möchte nicht verhehlen, dass ich nicht auf der Regierungsbank sitze und dass das administrative Umsetzen dieses fein ziselierten ordnungspolitischen und wirtschaftspolitischen Handelns eine schwere Aufgabe ist.

(Herr Wolpert, FDP: Schon im Ansatz!)

- Dazu möchte ich den lieben Kolleginnen und Kollegen aus der FDP sagen: Da unterscheiden wir uns im Ansatz tatsächlich. Da haben wir einen anderen Ansatz.

(Zustimmung bei der FDP - Herr Wolpert, FDP: So ist es!)

Deshalb, meine Damen und Herren, leben wir auch in einer Koalition miteinander und nicht in einer Ehe oder in einer Familie. Wir leben in der Koalition sehr vernünftig miteinander. Es ist ein auf Vernunft basierender Zusammenschluss, den wir haben. Es ist ein Vernunftzusammenschluss.

(Herr Wolpert, FDP: So ist es! - Ah! bei der SPD und bei der PDS)

- Herr Wolpert, ich kann es offen und ehrlich sagen, weil wir sehr gut zusammenarbeiten: Hier gibt es zwischen den beiden Parteien - sogar innerhalb einer großen Volkspartei wie der CDU - wirklich unterschiedliche Auffassungen. Wenn wir aber über Europa sprechen, dann bin ich der festen Überzeugung: Wir müssen diese Fragen für Europa und auch für Deutschland lösen; anderenfalls hat dieses Europa bei den Bürgerinnen und Bürgern auf Dauer keine Chance, meine Damen und Herren.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Es ist angesprochen worden, dass die ausgebliebene Einigung über die finanzielle Vorausschau und die europäische Verfassung mit Sicherheit Auswirkungen auf Sachsen-Anhalt haben wird. - Das ist so. Aber in welchen finanziellen Größenordnungen sich diese Auswirkungen bewegen werden, wissen wir noch nicht genau. Das ist im Moment Kaffeesatzleserei.

Wir wissen aber genau, dass die Jahre 2006 bis 2013 für uns schwieriger werden, wenn wir nicht absichern, dass die Förderung der Ziel-1-Gebiete mit den Finanzvolumina, mit denen wir bisher rechnen konnten, auch weiterhin zur Verfügung stehen wird. Hierüber kann verhandelt werden.

Ich möchte nicht Spekulationen über die Frage anstellen, ob Tony Blair als einer derjenigen, denen jetzt am meisten die Schuld dafür gegeben wird, dass diese finanzielle Vorausschau nicht zustande gekommen ist, der geeignete Partner ist, diese Verhandlungen innerhalb seiner Präsidentschaft noch zu einem Ende zu führen. Aber, meine Damen und Herren: Wo Not ist, da kommen auch Nothelfer.

Vielleicht hat uns das Ereignis von heute Mittag auch in die Situation versetzt, dass alle Regierungschefs neu darüber nachdenken und dass es eben nicht darauf

ankommt, ob das eine oder andere Land ein paar Prozente mehr oder weniger bekommt, sondern darauf, ob wir in der Lage sind, zu zeigen, dass sich Europa jetzt einigen kann.