Protokoll der Sitzung vom 11.11.2005

Pisa 2003 zeigt mit dem Nachweis der nach wie vor hohen Abhängigkeit des Lernerfolgs vom sozialen Hintergrund endgültig, dass die frühe Aufspaltung in unterschiedliche Bildungsgänge keinen erfolgreichen Weg aus der Bildungsmisere zu weisen vermag.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Sicherlich kann durch gute Schule, durch guten Unterricht und nachhaltiges Fördern auch in den gegebenen Schulformen etwas geleistet werden. Aber die unterschiedliche Zuweisung von Bildung nach dem vermeintlichen Leistungsniveau an den unterschiedlichen Schulformen ist nicht geeignet, einen umfassenden oder auch nur hinreichenden Nachteilsausgleich zu gewähren.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS - Frau Feuß- ner, CDU: Die POS kann aber differenzieren, die kann das!)

Man muss aber auch sehr deutlich sagen, dass das Zusammenführen der Schulformen allein auch keine Lösung bringen wird, wenn dies nicht durch andere Rahmenbedingungen und eine andere Lehr- und Lernkultur sowie durch die Fähigkeit, aber auch die Bereitschaft von Lehrerinnen und Lehrern, mit Heterogenität umzugehen, begleitet wird.

(Frau Feußner, CDU: Das ist ja eine Schande, was Sie hier von sich geben!)

Fazit: Wir müssen über Schulstrukturen reden, da die Instrumentarien innerhalb des gegliederten Schulsystems und vielleicht innerhalb der Schulen zu Veränderungen führen können, die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft jedoch nicht aufzubrechen vermögen. Alles andere ist halbherzig.

Nun zu den konkreten Dingen, die wir vorschlagen: erstens frühkindliche Bildung fördern. Dazu fordern wir, dass alle Kinder wieder einen Ganztagsanspruch auf einen Kita-Platz bekommen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Zudem sind Erzieherinnen und Erziehern nicht nur die nötigen Weiterbildungen zugänglich zu machen, sondern ihnen ist auch die für ihren Bildungsauftrag nötige Vor- und Nachbereitungszeit einzuräumen. Künftig ist darüber nachzudenken, wie die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher an Kindereinrichtungen qualifiziert und auf ein dem Bildungsanspruch entsprechendes Niveau gehoben werden kann.

(Minister Herr Prof. Dr. Olbertz: Das ist richtig!)

Zweitens. Wir halten es für erforderlich, die frühe Trennung in unterschiedliche Bildungswege aufzuheben, und schlagen dafür einen schrittweisen Übergang zu einer Schule für alle Kinder vor. Die Wahl der Schulform darf nicht zur Sackgasse werden, auch nicht zu einer mit verengtem Ausgang.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Als Erstes sind sowohl die freie Wahl der Schulform und des Bildungsweges als auch die zehnjährige Vollzeitschulpflicht wieder einzuführen.

Weiterhin müssen die Bildungsziele der Schulformen so verändert werden, dass das Ziel der allgemeinen Schulbildung in allen Schulformen mindestens der Abschluss der 10. Klasse ist und dass ein Übergang zu einem vollwertigen Abitur auch ohne Ehrenrunde erreichbar ist. Dazu wollen wir es ermöglich, dass alle Abschlüsse bis zur 10. Klasse an allen Schulformen erworben werden können und dass der Übergang zum Gymnasium oder zur gymnasialen Oberstufe auch nach der 9. Klasse möglich ist. Schulen unterschiedlicher Schulform sollen sich außerdem zusammenschließen können, wenn es vor Ort gewünscht ist, und kooperativ und integrativ zusammenarbeiten.

Die pädagogischen Rahmenbedingungen müssen dringend verbessert werden. Für eine individuelle Förderung ist es erforderlich, dass an allen Schulformen speziell für die Begleitung im Unterricht ausgebildete pädagogische Fachkräfte arbeiten und für die individuelle Förderung von Begabungen ebenso zur Verfügung stehen wie für einen zielgerichteten Nachteilsausgleich. Dazu muss allerdings erst ein entsprechendes Berufsbild entwickelt und ausgebildet werden.

Angesichts wachsender sozialer Probleme im gesellschaftlichen und familiären Umfeld müssen mehr Sozialpädagoginnen in den Schulen eingesetzt werden. Ein entsprechendes Programm ist aufzulegen. Aus dem gleichen Grund empfiehlt es sich, den schulpsychologischen Dienst wieder schulnah anzubieten und personell entsprechend aufzustocken.

Neue pädagogische Modelle und Arbeitsformen an Schulen sollen gefördert und vernetzt werden. Dazu gehören Projekte wie die des selbst gesteuerten Lernens, die Arbeit in offenen Unterrichtsformen, Gruppenarbeit, Freiarbeit oder auch produktives Lernen. Eine moderne Ausgestaltung polytechnischer Elemente des Unterrichts kann die Motivation stärken und einem Schulversagen vorbeugen.

Für Jugendliche aus sozial schwachen Elternhäusern sind der kostenfreie Zugang zu Lernmitteln und die Gewährleistung der Schülerbeförderung wichtig. Ungeachtet des von uns verfolgten Ansatzes der generellen Kostenfreiheit solcher Angebote sollten diese materiellen Bedingungen zumindest für jene Personengruppen vorgehalten werden, die von Sozialleistungen abhängig sind, wie die Kinder aus Elternhäusern, die ALG II empfangen.

Schließlich muss sich der notwendige Nachteilsausgleich im Interesse einer höheren Bildungsbeteiligung für junge Menschen aus einem sozial schwachen Elternhaus auch in der Möglichkeit eines gebührenfreien Studiums in Sachsen-Anhalt fortsetzen.

Das sind einige Teile eines sehr umfassenden Programms, das nicht in einem Atemzug und auch nicht in einer Legislaturperiode umzusetzen ist, das aber mach- und finanzierbar ist. Wir werden es in einen Schulgesetzentwurf und in weitere parlamentarische Aktivitäten gießen und für seine Umsetzung werben. Es wird hilfreich sein, wenn die öffentliche Debatte fortgeführt wird und die Beruhigungspillen, die der Minister und die Koalition derzeit wieder mutig ausgeben, nicht geschluckt werden. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS - Zuruf von Frau Feußner, CDU)

Danke sehr, Herr Abgeordneter Höhn. - Für die CDUFraktion spricht die Abgeordnete Frau Feußner. Bitte sehr, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Debatte gibt uns Anlass, über die Ergebnisse der zweiten Pisa-Untersuchung aus dem Jahr 2003 zu reden. Zunächst sollten wir die positiven Ergebnisse, die wir als Land Sachsen-Anhalt erreichen konnten, in den Vordergrund rücken. Diese Ergebnisse - immerhin konnte das Land Sachsen-Anhalt den größten Fortschritt verzeichnen - geben Anlass zur Freude und machen uns Mut, den eingeschlagenen Weg weiter fortzusetzen.

(Zustimmung von Frau Wybrands, CDU, und von Minister Herrn Dr. Daehre)

Das heißt nicht, dass wir uns ausruhen können. Wir müssen weiter dranbleiben, um den Anschluss an die Spitzenländer in Deutschland und darüber hinaus zu erreichen.

(Zustimmung von Frau Wybrands, CDU, und von Minister Herrn Dr. Daehre)

Für die Bemühungen aller an Schule Beteiligten, die Ergebnisse der Untersuchung aus dem Jahr 2000 zu verbessern, sollte man an dieser Stelle auch einmal einen Dank aussprechen, insbesondere an die Lehrerschaft, die heute wieder in ausreichendem Maße kritisiert worden ist, die hierfür eine sehr große Verantwortung trägt.

(Zustimmung bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Deshalb muss ich mich wundern - eigentlich braucht man sich bei der Opposition gar nicht mehr zu wundern -, dass nur ein Aspekt der Pisa-Ergebnisse aufgegriffen wird und dass nicht über das Gesamtergebnis diskutiert wird. Unabhängig von den noch vorhandenen Problemen sollte man sich unbedingt davor hüten, Dinge hochzustilisieren, ohne die Gesamtzusammenhänge zu betrachten.

Im Übrigen könnte man gegenüber der Opposition unter dem Motto „Im Osten nichts Neues“ argumentieren: Die Konzepte, die Sie heute angeboten haben, bringen Sie

doch schon seit Jahren gebetsmühlenartig vor, als wäre das der Weisheit letzter Schluss.

(Zustimmung von Herrn Gürth, CDU - Zurufe von Frau Mittendorf, SPD, und von Frau Dr. Hein, Linkspartei.PDS)

Ich muss ganz ehrlich sagen: Außer einem erheblichen Anstieg der Kosten und der Forderung danach, dass der Staat wieder alles regeln soll, haben Sie heute nichts vorgebracht.

(Zustimmung von Herrn Gürth, CDU - Unruhe)

Es ist so, dass die Pisa-Ergebnisse aus dem Jahr 2003 tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungskarrieren attestieren; aber die Schlussfolgerungen, die Sie aus diesem Tatbestand ziehen, sind dem Papier gar nicht zu entnehmen.

In der „Osnabrücker Zeitung“ wird dazu geschrieben:

„Es drängt sich der Verdacht auf, dass so mancher selbsternannte Experte die angeblichen und tatsächlichen Ergebnisse der Bildungsforscher nur zu gern für seine Zwecke instrumentalisieren möchte.“

Das kann ich nur unterstreichen.

(Zustimmung von Herrn Gürth, CDU - Lachen bei der Linkspartei.PDS)

Und weiter - hören Sie erst einmal weiter zu -:

„Letzte Woche Donnerstag stellte der Pisa-Koordinator Manfred Prenzel klar, dass die Studie überhaupt keine Aussage dazu macht, wie sehr die Chancen von Schülern von ihrer sozialen Herkunft abhängen.“

Das sagt Herr Prenzel - Sie wissen, wer das ist -, der an der Pisa-Studie beteiligt ist.

(Frau Dr. Hein, Linkspartei.PDS: Gelegentlich schon einmal gehört! - Heiterkeit bei der Links- partei.PDS)

Wie gehen wir nun damit um? Die sozialen Disparitäten in unserer Gesellschaft sind natürlich vorhanden. Wie sind aber die wirklichen Auswirkungen auf die Schule? Haben diese Disparitäten Auswirkungen auf die Bildungschancen?

Die Pisa-Studie liefert Daten darüber, dass weniger Kinder aus einem schwierigen sozialen Umfeld als Kinder von Akademikern zur allgemeinen Hochschulreife gelangen. Das müssen wir natürlich ernst nehmen. Aber wo liegen die eigentlichen Gründe dafür? Die Oppositionsfraktionen haben dafür wie immer ein und dieselbe Lösung: längeres gemeinsames Lernen.

(Frau Mittendorf, SPD: Das stimmt! - Herr Dr. Thiel, Linkspartei.PDS: Wo wir Recht haben, haben wir Recht! - Heiterkeit bei der Linkspar- tei.PDS)

Dabei betreiben sie überhaupt keine Ursachenforschung. Es ist doch nun bewiesen - auch das zeigen die Pisa-Ergebnisse in Deutschland deutlich -, dass die Gesamtschule nicht das Allheilmittel ist.

(Zustimmung bei der CDU und von der Regie- rungsbank)

Es gibt über Pisa hinaus eine Vielzahl von Untersuchungen, die belegen, dass die Gesamtschulen wesentlich

schlechter abschneiden als das gegliederte Schulwesen. Ich kann einige nennen: das HIS Hochschulinformationssystem, die BIJU-Studie, Untersuchungen in NordrheinWestfalen, die BMBF-Studie, Untersuchungen vom MaxPlanck-Institut für psychologische Forschung, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Alle diese Institutionen bzw. Studien sind zu diesen Ergebnissen gelangt. Diese können Sie doch hier nicht leugnen.