Das ist zum Ersten die Teilhabe an Bildung - dazu haben wir heute Morgen bereits eine ausführliche Debatte geführt -, zum Zweiten die Teilhabe an Arbeit und zum Dritten das verfügbare Einkommen. Dieses bestimmt natürlich auch in gewissem Maße den Sozialstandard.
Ich möchte, obwohl die Debatte heute Morgen schon sehr ausführlich war, noch einmal auf das Thema Bildung eingehen, weil ich es für eines der Schwerpunktthemen halte, wenn es um soziale Polarisierung geht.
Es ist wirklich erschreckend, dass bei uns in Deutschland, in unserem Bildungssystem - ich sage es noch einmal - Kinder aus sozial schwachen Schichten offenbar nicht die gleichen Chancen auf höhere Bildungsabschlüsse haben.
Wir können dazu ins Detail gehen, wir können darüber diskutieren und können irgendwelche Begründungen finden, aber in der Summe bleibt es so.
Offenbar ist es so, dass die persönlichen Ergebnisse verbessert werden können. Das ist gut so. Das hat auch die Pisa-Studie gezeigt. Aber ob infolgedessen allen Kindern und Jugendlichen der Zugang zur höheren Bildung möglich ist, das möchte ich zumindest infrage stellen.
- Frau Feußner, es nützt überhaupt nichts, wenn Sie jetzt hinausgehen, wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, dass die soziale Polarisierung gerade in der Bildungsproblematik
Ich möchte auf ein kleines Detail eingehen. Herr Olbertz ist leider nicht anwesend. Es ist nicht die Angst davor, dass man mit einem Realschulabschluss keine Ausbildungsstelle bekommt. Es gibt viele freie Träger, die versuchen, die Lücke zwischen Grundschule und Gymnasium mit Sekundarschulen zu schließen, und zwar nicht, weil sie Angst vor dem Realschulabschluss haben, sondern weil sie - das muss man so ehrlich sagen - zum Teil Angst vor einem sozialen Milieu haben, das sich in bestimmten Realschulen einfach ansammelt.
Das ist die Ursache. Darüber muss man nachdenken, wenn man über Bildungssysteme und soziale Polarisierung redet.
Ich weiß, wir haben diesbezüglich große ideologische Gräben, sie verlaufen von Nord nach Süd und auch zwischen den sowie innerhalb der Parteien. Trotzdem muss man über das Problem reden und eine Lösung dafür finden.
Ich halte auch das für falsch, worüber gegenwärtig auf der Bundesebene diskutiert wird, nämlich dass dies
Das ist ein sehr langwieriger Prozess, bei dem wir, die wir aus der DDR kommen, wahrscheinlich noch eher einen Konsens finden würden, als das bei denen möglich ist, die aus der Bundesrepublik kommen.
Es geht dabei - damit komme ich zu dem zweiten Thema, zu dem Thema Arbeit - natürlich auch um Einkommen, aber es geht nicht nur um Einkommen; denn in einer Arbeitsgesellschaft wie der unseren ist bezahlte Arbeit weit mehr als nur Einkommen. Sie bedeutet Teilhabe an der Gesellschaft. Arbeit zu haben bedeutet, gebraucht zu werden. Keine Arbeit zu haben bedeutet den Ausschluss aus der Gesellschaft, es bedeutet, nicht gebraucht zu werden.
Deshalb müssen wir uns beim Thema Arbeit auch über mehr als nur über Geld unterhalten. Es geht nicht nur um Transferleistungen; die Teilhabe an Arbeit kann auch in anderen Formen erfolgen. Auf diese Weise können wir die Leute wieder in die Gesellschaft integrieren und können somit helfen, die soziale Polarisierung aufzubrechen.
Wenn es um Geld geht, dann hat das - ich habe es eben gesagt - auch etwas mit auskömmlichen Familieneinkommen zu tun. Wir haben eben über Einkommen, über Lohn, über Kündigungsschutz geredet. Natürlich entscheidet das Einkommen mit darüber, ob Kinder, Eltern, Großeltern oder auch Alleinstehende - ich will sie gar nicht ausschließen - die Angebote in Kindertagesstätten, in Schulen, in der Freizeit wahrnehmen können, ob sie sich integrieren können und ob sie an den Möglichkeiten der Gesellschaft teilhaben können.
Aber oftmals fehlt das auskömmliche Familieneinkommen auch bei denen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit haben. Auch das müssen wir betrachten, wenn es um soziale Polarisierung in der Gesellschaft geht.
Wenn man sich den Magdeburger Sozialreport ansieht - Magdeburg ist eine Stadt, der es auch von der Bevölkerungsstruktur her relativ gut geht -, dann stellt man fest, dass 50 % der Familien ein Nettoeinkommen haben, das unter 1 500 € liegt. Lediglich 27 % der Familien haben ein Nettoeinkommen, das über 2 000 € liegt. Das sind Zahlen, die aussagen, wie schwer es ist, den Kindern dieser Familien die Teilhabe an allen Angeboten oder wenigstens an einem Teil der Angebote zu ermöglichen.
Deshalb muss man bei dem Thema „soziale Polarisierung“ auch über die Löhne reden und gegen Lohndumping argumentieren. Man muss aber auch über die Angleichung des Arbeitslosengeldes II reden; denn - das stimmt, Herr Gallert - durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer wird ohnehin schon ein bestimmter Prozentsatz aufgefressen. Ich denke, der Osten wird zumindest bei der Forderung einig bleiben. Ich kann keine Garantie dafür geben, was letztlich als Ergebnis herauskommt. Aber eine Angleichung an das Westniveau ist, denke ich, dringend erforderlich.
Ich glaube auch nicht, dass die Aufhebung der Probezeit das Problem bezüglich befristeter Arbeitsverträge löst, Herr Scharf. Ich denke, die Diskussion geht tiefer; wir können sie heute hier nicht führen. Sie hat auch nur in bestimmten Bereichen etwas mit dem Thema der sozialen Polarisierung zu tun. Deshalb sollte man entideologisiert darüber sprechen, was Sinn macht und was keinen Sinn macht. Wir haben diesbezüglich wahrscheinlich sehr unterschiedliche Positionen.
Ich möchte dringend davor warnen - auch das sollte angesprochen werden, wenn man über soziale Polarisierung redet -, dass der Umstand, wenig Geld zur Verfügung zu haben, also in der Alltagssprache „arm“ zu sein, zwangsläufig bedeutet, zu bestimmten sozialen Schichten zu gehören. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat diese im Februar 2005 mit folgenden Worten beschrieben:
„Sie sind kinderreich, aber sie kennen kaum stabile Familienverhältnisse. Sie zeichnen sich trotz Armut nicht in erster Linie durch materielle Unterversorgung aus, sondern dadurch, dass sie ein Dasein ohne Zukunftsaussichten führen.“
Man kann das nicht alles über einen Kamm scheren. Natürlich gibt es viele Familien, die wenig Geld zur Verfügung haben, aber trotzdem ihren Kindern Bildung und Zukunft ermöglichen. Diese Familien schaffen es durch Zusammenhalt und Kreativität, diese Armut besser zu kompensieren, als dies in zerrütteten Familien der Fall ist. Aber das ist leider nicht die Regel. Das ist bei der großen Menge der sozial schwachen Familien leider nicht die Regel, sondern die Ausnahme.
Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass es immer mehr Menschen, immer mehr Familien werden, die an den Rand der Gesellschaft gleiten, ob sie es nun wollen oder nicht. Das findet generationsübergreifend statt. Es ist die Aufgabe der Politik, diese Tendenz aufzuhalten.
Herr Ministerpräsident, natürlich kann man in Zeiten der wirtschaftlichen Globalisierung nicht alle sozialen Probleme lösen. Es ist schwieriger geworden, diese sozialen Probleme zu lösen. Aber man kann das doch nicht als Schutzschild hoch halten und sagen: Wir sind ohnehin nicht diejenigen, die dafür die Lösungsvorschläge bringen können; wenn das einer erfunden hätte, hätte er schon den Nobelpreis bekommen.
Wir müssen uns vielmehr an dem Finden von Lösungen für unser Land, aber auch für die Europäische Union beteiligen. Wenn Sie es global sehen wollen, dann ist es sogar eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft auf dem Erdball. Aber wir müssen uns auch an der Lösung kleiner Probleme hier im Land beteiligen und dürfen nicht die Globalisierung als Schutzschild hoch halten.
Ich möchte Ihnen nur ein kleines Beispiel nennen; das kostet auch nicht mehr Geld. Wenn man sich den Bereich der sozialen Problemlagen ansieht, dann stellt man zum Beispiel fest, dass zunehmend mehr Jugendliche aus Lernbehindertenschulen zur Ausbildung oder zur
Arbeit an Einrichtungen der Behindertenausbildung abgegeben werden, anstatt ihrer Problemlage gerecht zu werden. Es wird vorher nicht einmal geprüft, ob sie vielleicht gar nicht Lernbehinderte im klassischen Sinne sind, weil bei ihnen eine Behinderung nicht aufgrund eines Intelligenzdefizits oder aufgrund einer Krankheit, sondern aufgrund von sozialen Problemen gegeben ist. Die Anzahl der Betroffenen steigt.
Man versucht, solche Jugendlichen in Behinderteneinrichtungen zu integrieren. Sie stören dort aber, weil sie anders geartete Probleme haben. Sie kommen nämlich aus einem sozial geschädigten Milieu und wollen nicht unbedingt arbeiten, was Behinderte jedoch sehr gern wollen. - Es ist einfach falsch, das zu tun.
Es gibt Einrichtungen, die sich mit Kindern aus dem sozial geschädigten Milieu beschäftigen. Das ist ein kleiner Teil, bei dem es nicht darum geht, mehr Geld anzufassen, sondern ins Detail zu schauen und darüber nachzudenken, welche praktischen Lösungen man anbieten kann, die den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht werden und mit denen man sie vielleicht aus ihrem sozialen Umfeld herausholen kann.
Eines noch zum Schluss. Für mich gehört es auch dazu, darüber zu reden, dass man das Familienbild oder zumindest einige seiner Fassetten, etwa die Einstellung zur Berufstätigkeit von Frauen mit Kindern, überdenken muss. Das haben wir hier schon oft thematisiert.
Wenn man sich den Sozialreport anschaut - Herr Gallert hat es gesagt -, dann stellt man fest, dass eben nicht die Kinder, die aus Familien stammen, in denen beide Eltern voll berufstätig sind, Probleme hinsichtlich der Gesundheit, der Motorik oder der Sprache haben. Vielmehr sind es Kinder aus anderen Bereichen. Es schadet also nicht, wenn beide Eltern berufstätig sind, sondern es wirkt sich sogar fördernd aus.
Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident! Ich glaube tatsächlich, dass wir mit diesem Thema noch viel zu tun haben werden, und zwar nicht nur bis März 2006. Dann wird es möglicherweise von dem einen oder anderen als Wahlkampfthema genutzt werden; das wird niemand verhindern können.
Ich gehe aber stark davon aus, dass wir uns insbesondere nach dem März 2006, wenn es um das Umsetzen geht, mit diesem Thema beschäftigen werden; denn wir können diese Parallelstrukturen, die sich entwickeln und die inzwischen eine große Menge von Menschen betreffen, nicht ignorieren. Wir müssen eine Lösung dafür finden.