Protokoll der Sitzung vom 16.02.2006

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne hiermit die 73. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode. Dazu möchte ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste begrüßen.

(Unruhe)

- Wenn der Schallpegel etwas gesenkt werden würde, könnte ich die Beschlussfähigkeit des Hauses feststellen.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich einige Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung bekannt geben:

Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer und Herr Kultusminister Professor Dr. Olbertz entschuldigen sich für die heutige Sitzung des Landtages ab 18 Uhr aufgrund ihrer Teilnahme an der Tagung der Leucorea und der Stiftung Luther-Gedenkstätten zum Thema „Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit“ in Wittenberg.

Herr Minister Professor Dr. Paqué entschuldigt sich für die heutige Sitzung ab 11.30 Uhr. Er nimmt an der Sitzung des Finanzplanungsrates in Berlin teil.

Nun zur Tagesordnung, meine sehr geehrten Damen und Herren. Die Tagesordnung für die 38. Sitzungsperiode des Landtages liegt Ihnen vor.

Die Fraktion der FDP und die Fraktion der Linkspartei.PDS haben fristgemäß je ein Thema für die Aktuelle Debatte eingereicht. Ich schlage Ihnen vor, die Aktuelle Debatte als Tagesordnungspunkt 25 auf die Tagesordnung zu nehmen und als ersten Beratungsgegenstand am morgigen Freitag zu behandeln.

Der Antrag der Fraktion der FDP in der Drs. 4/2624 mit dem Titel „Sachsen-Anhalt holt auf - keine Abkehr von der erfolgreichen Wirtschaftsförderung“ sowie der Antrag der Fraktion der Linkspartei.PDS in der Drs. 4/2625 mit dem Titel „EU-Dienstleistungsrichtlinie - ein fauler Kompromiss“ würden also in dieser Reihenfolge als Tagesordnungspunkt 25 a und b am Freitag, also morgen früh, eingeordnet.

Gibt es weitere Bemerkungen zur Tagesordnung? - Herr Gürth, bitte.

Herr Präsident, ich möchte beantragen, abweichend von der Tagesordnung die zweite Lesung des Entwurfs eines Rettungsdienstgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt auf den morgigen Tag zu verschieben und diese unmittelbar nach der Aktuellen Debatte einzuordnen.

Sie haben es sicherlich alle vernommen, es gibt den Vorschlag der CDU-Landtagsfraktion, den Tagesordnungspunkt 4 statt am heutigen Tag am morgigen Tag unmittelbar nach dem Tagesordnungspunkt 25, also nach der Aktuellen Debatte, zu behandeln. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen und wir verfahren entsprechend.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nun zum zeitlichen Ablauf der 38. Sitzungsperiode: Die heutige Landtagssitzung werden wir gegen 19.30 Uhr beenden. Die morgige 74. Sitzung beginnt wie üblich um 9 Uhr.

Damit können wir in die Tagesordnung eintreten, beginnend mit Tagesordnungspunkt 1 a:

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Prof. Dr. Wolfgang Böhmer zum Thema „Die Stellung Sachsen-Anhalts in der Gemeinschaft deutscher Länder“

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich erteile Herrn Ministerpräsidenten Professor Dr. Böhmer das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung. Bitte sehr, Herr Ministerpräsident.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Regierungserklärung in der letzten Plenarsitzung einer Legislaturperiode sollte aus meiner Sicht keinen programmatischen Inhalt mehr haben, wenn sie nicht als Wahlkampf missverstanden werden soll. Der gleiche Verdacht würde aufkommen, wenn sie wie ein Bilanzbericht angelegt würde. Ich habe beides nicht vor, obwohl mir schon signalisiert worden ist, dass ich damit einige von Ihnen ausdrücklich enttäuschen würde. Trotzdem werden wir gemeinsam sowohl zurück- als auch nach vorn blicken müssen und dies auch wollen.

Ich möchte am Ende dieser Legislaturperiode die Gelegenheit nutzen, Ihnen einige Gedanken vorzutragen, für die wir uns während der bisherigen gemeinsamen Arbeit kaum Zeit nehmen konnten.

Die Staatsqualität Sachsen-Anhalts hat unter allen 16 Bundesländern die kürzeste eigene Geschichte. Als eigenständiges Land hatte Sachsen-Anhalt lediglich vom Sommer 1945 bis zum Sommer 1952 bestanden, bevor es mit dem Ländereinführungsgesetz vom Sommer 1990 am 14. Oktober 1990 wiedererrichtet wurde.

Die Reföderalisierung des Gebietes der ehemaligen DDR war nicht nur eine formale Anpassung an die Strukturen der Bundesrepublik, sie entsprach auch dem ausdrücklichen Willen der Bürgerrechtsbewegung in diesem Teil Deutschlands. Die erklärte Absicht, staatlicher Allmacht durch horizontale Gewaltenteilung zukünftig Schranken zu setzen, wurde von den meisten der damals aktiven Gruppierungen der Bürgerrechtsbewegung vertreten.

Anders als in unseren Nachbarländern, die ihre Identität aus einer längeren gemeinsamen Geschichte ableiten, gibt es eine solche historisch gewachsene Landesidentität in Sachsen-Anhalt nicht. Obwohl bei einer Umfrage bereits im Jahr 1994 in Sachsen-Anhalt nur 45 % der damals Befragten eine Identifikation mit ihrem Land angaben und damit weniger als in allen anderen deutschen Ländern, waren bereits damals 78 % der Befragten der Meinung, das Land Sachsen-Anhalt solle auch bei einer eventuellen Länderneugliederung erhalten bleiben. Ich denke, das muss jede Landesregierung als Auftrag verstehen, wenn sie die Interessen der eigenen Bürger nicht verraten will.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung von der Regierungsbank)

Gleichwohl bestreitet niemand die Notwendigkeit der Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland. Weil der Bundestag während der vergangenen mehr als fünf Jahrzehnte immer häufiger von der Möglichkeit der konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch gemacht hat, sind die Landtage in ihren Gesetzgebungsbefugnissen ausgeblutet. Sie haben kaum noch eigene Entscheidungsmöglichkeiten. Die Länder wurden mehr und mehr zu Verwaltungsprovinzen; ihr Staatscharakter ist kaum noch erkennbar.

Dies wird in Deutschland sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die Gesamtheit der alten Bundesländer beklagt diese Entwicklung als eigenen Bedeutungsverlust. Die neuen Bundesländer, welche die größere eigene Kompetenz nie selbst erlebt haben, sehen dies sehr unterschiedlich. Sobald sie eine eigene Tradition haben, wie zum Beispiel Sachsen, stehen sie schon deshalb einem deutlich eigenen Staatscharakter ebenfalls offen gegenüber. Sofern sie diese eigene Tradition nicht haben, entsteht gelegentlich der Eindruck, dass die nur als Verwaltungsprovinz empfundene Eigenständigkeit eine beliebige Spielmasse zur Profilierung sei.

Deshalb sollten auch bei uns zukünftige Landesregierungen der eigenen Bevölkerung jenes Maß an Authentizität und Selbstwertgefühl vermitteln, das unsere Nachbarländer auch im Osten Deutschlands ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Kritiker missverstehen das absichtlich als das Kultivieren einer Kleinstaaterei. Dabei geht es allen Ländern nur um die Wahrung der eigenen Identität in einem gemeinsamen Bundesstaat, den niemand infrage stellt.

(Beifall bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Auch dieser Bundesstaat bedarf der Reformen. Die Welt um uns verändert sich rasant. Grundsätzliche technologische und soziale Entwicklungen der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts haben dazu geführt, dass diese Welt nie wieder so sein wird, wie sie einmal war. Andere Nationen holen auf und dominieren in einer nie da gewesenen Weise die Märkte. Uns gelingt es immer weniger, mit diesem Tempo mitzuhalten.

Im Wettbewerb der Standorte sind jene Staaten im Vorteil, die schnell entscheiden können. Wir brauchen deshalb für unsere innerstaatliche Ordnung klare Zuständigkeiten beim Bund einerseits und bei den Ländern andererseits. Die Föderalismuskommission hat dazu erste Vorschläge gemacht, die in diesem Jahr umgesetzt werden sollen.

Auch Europa ist inzwischen Realität. Mehr als 50 % unseres gesamten Gesetzesrechtes und mehr als 80 % unseres Wirtschaftsrechtes sind durch Vorgaben der Europäischen Union geprägt und veranlasst. Der Entwurf eines gemeinsamen Verfassungsvertrages der Europäischen Union ist in zwei Ländern gescheitert; die Gründe hierfür mögen unterschiedlich gewesen sein.

Verbreitet ist die Sorge, die Europäische Union könnte sich zu einem zentralistisch organisierten Verwaltungsmoloch entwickeln, in dem die Identität der Regionen verloren geht. 73 Regionen innerhalb der Europäischen Union verfügen über eigene Regierungen und direkt gewählte Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen. Auch wir gehören dazu. Gemeinsam umfassen diese Regionen mit einer eigenen Gesetzgebungsbefugnis fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung der Europäischen Union.

Auf der sechsten Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen Ende November des vorigen Jahres in München haben diese mit der Zustimmung Sachsen-Anhalts eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der das Subsidiaritätsprinzip mehr als bisher als Leitgedanke für den Strukturaufbau einer Europäischen Union befürwortet wird. Der wichtige Gedanke der Europäischen Gemeinschaft wird nur dann umgesetzt werden können, wenn er zu einer Einheit in der Vielfalt führt und die Regionen ihre Identität nicht verlieren.

(Beifall bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Ich denke, das gilt insbesondere für eine Region wie Sachsen-Anhalt, die aus historischen Gründen noch dabei ist, ihre eigene Identität zu finden. Die unterschiedliche Ausgangsposition der Länder innerhalb der Bundesrepublik hat auch in der Föderalismuskommission zu unterschiedlichen Zielvorstellungen geführt. Praktische Politik, das wissen wir, beginnt immer mit dem Betrachten der Realitäten.

(Herr Bullerjahn, SPD: Genau!)

Dazu gehört, dass wir nur die Ziele erreichen werden, die wir gemeinsam vertreten. Bereits am 6. Mai 2005 haben sich deshalb die Ministerpräsidenten auf eine gemeinsame Verhandlungsposition geeinigt. Fast jedes Land, auch Sachsen-Anhalt, hat dabei eigene Interessen zurückgestellt und um der Gemeinsamkeit willen andere Positionen mitgetragen, die keine eigene Priorität hatten.

Die Zahlerländer im innerdeutschen Finanzausgleich halten eine grundlegende Neuordnung der Finanzverfassung schon lange für dringend notwendig. Alle Empfängerländer haben dies erst einmal abgelehnt. Um die erreichbaren Ziele umsetzen zu können, wurde dieses Thema zunächst bewusst ausgeklammert. Nach der gesetzestechnischen Verabschiedung der konsensfähigen Reformschritte sind in diesem Jahr weitere Gespräche über eine Neuordnung der Finanzverfassung vorgesehen. Davor wird noch viel zu klären sein.

Der Bund und die Länder bekennen sich zur Fortführung des Solidarpaktes einschließlich der Finanzierung des so genannten Korbes II, wie dies bereits im Jahr 2001 beschlossen wurde. Dafür sind die neuen Länder dankbar. Spätestens jetzt, da es um die Konkretisierung einzelner Maßnahmen geht, wird deutlich, was Eingeweihte bereits von Anfang an wussten, nämlich dass diese Einmütigkeit auf unsicheren Füßen versteckter Undeutlichkeiten steht.

Von Anfang an ist undeutlich geblieben, was alles zum Korb II gerechnet wird. Alle Versuche, mit der früheren Bundesregierung darüber ins Gespräch zu kommen, sind gescheitert. Zumindest aus der Sicht des Bundesministeriums der Finanzen soll alles dazu gezählt werden, was an Finanzierung in die neuen Bundesländer fließt. Das führt dazu, dass uns gelegentlich vorgeworfen wird, wir hätten schon viel zu viel Geld bekommen. Diese Aussage ist nachzulesen in einer kürzlich von dem Minister für den Aufbau Ost, Herrn Tiefensee, autorisierten Presseerklärung.

Bei dieser Betrachtung wird die Finanzierung aller Bundesaufgaben in den neuen Ländern, wie zum Beispiel die Investitionen in Bundeswehrstandorte und Ähnliches, mit eingerechnet. Das entspricht nicht unseren Vorstellungen von der inneren Einheit in Deutschland. Die neuen Länder verstehen sich nicht als ein besonderes Gou

vernement in Deutschland, sondern als wesensgleiche Länder in einem Bund.

(Beifall bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Die Finanzierung von Bundesaufgaben in den neuen Ländern sollte deshalb nicht anders gewertet werden als eine solche in den alten Ländern.

Herr Präsident, ich bedanke mich an dieser Stelle dafür, dass Sie bereit waren, die Tagesordnung zu ändern. Heute Nachmittag tagt der Deutsche Bundestag zu diesem Thema. Hierbei geht es um den Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit. Als Sprecher der ostdeutschen Ministerpräsidenten möchte ich an dieser Debatte teilnehmen und genau dies auch im Deutschen Bundestag mit der gleichen Deutlichkeit sagen.

(Zustimmung bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Ich bin dankbar dafür, dass sich die Bundeskanzlerin bereit erklärt hat, noch in diesem Monat mit Gesprächen darüber zu beginnen. Niemand kann ein schnelles Ergebnis erwarten. In einem ersten Schritt soll über die Struktur solcher Gespräche entschieden werden. Sofern der Bund im Interesse der neuen Länder in dieses Gebiet seinerseits überproportional investiert, wird dies berücksichtigt werden müssen. Es ist sicher, dass diese Verhandlungen nicht einfach werden, aber sie müssen zumindest begonnen werden.

Genauso wichtig sind Gespräche mit der neuen Bundesregierung über die Bewertungskriterien in den so genannten Fortschrittsberichten der Bundesregierung über den Aufbau Ost. Ich halte es für selbstverständlich, dass wir über die Verwendung von Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen Rechenschaft ablegen müssen. Für die geplanten Föderalismusgespräche über die innerdeutsche Finanzstruktur wird ein Benchmarking der Landeshaushalte angedacht.

Dass aber die Behebung von teilungsbedingten Sonderlasten nur mit einem einzigen fiskalischen Parameter gemessen wird, ist aus meiner Sicht nicht sachgerecht.

(Beifall bei der CDU)

Dies dient einigen Medien regelmäßig zu einer Diffamierung der neuen Länder und bedient deshalb Vorurteile in den westlichen Bundesländern. Hierüber mit uns zu sprechen hat sich die neue Bundesregierung bereit erklärt. Wir wollen noch in diesem Monat wenigstens das Verfahren dazu verabreden.

Dabei sollten wir vor uns selbst nicht verschweigen, dass die Haushaltssituation in den neuen Bundesländern durchaus sehr unterschiedlich ist. Aufgrund konsequenter eigener Politik steht Sachsen wesentlich besser da als Sachsen-Anhalt. Es überzeugt nicht, die Gründe dafür nur bei anderen zu suchen. Wer sie wissen will, muss sich nur einmal die Protokolle über die parlamentarischen Haushaltsberatungen der letzten Jahre durchlesen. Das löst zwar unsere eigenen Probleme nicht, sollte aber wenigstens vor der Wiederholung einmal gemachter Fehler und politischer Konstellationen in diesem Lande bewahren.