Als ein naiver Mensch würde ich vermuten, dass das der Fall ist, wenn in einer kleineren Stadt ein Gewerbegebiet gut gefüllt ist,
es aber eine entsprechende Konzentration auf bestimmte Branchen nicht gibt. Ist das eine Situation, in der kein strukturbestimmender Cluster vorliegt?
(Zustimmung und Heiterkeit bei der SPD - Frau Dr. Hüskens, FDP: Hey, also Frau Budde! - Wei- tere Zurufe von der FDP)
Ich habe zwar nicht Volkswirtschaft studiert, Herr Professor Paqué, aber ich beschäftige mich in der Tat seit 15 Jahren damit. Ich weiß auch, dass der Begriff Cluster sehr unterschiedlich definiert ist. Der eine meint damit dies, der andere meint das. Deshalb haben wir in unsere Broschüre, die Sie seit Sommer 2004 hätten lesen können, den Clusterbegriff hineingeschrieben. Soll ich Ihnen das vorlesen oder möchten Sie das gern schriftlich haben?
Cluster sind verschiedene Branchen, die in Wertschöpfungsketten verbunden sind. Wenn Sie zum Beispiel die Automobilindustrie betrachten, dann haben Sie in einem Cluster nicht nur diejenigen, die Gussteile herstellen, sondern Sie haben auch diejenigen, die Sitze herstellen, die Plasteindustie usw. Das ist die wissenschaftliche Definition des Begriffs Cluster, der im Übrigen auf der Veranstaltung - ich meine, es war im Jahr 2002 - des Regionenmarketings, das zu den Clustern und zu den Regionalclustern eine große Konferenz durchgeführt hat, auch von der Wirtschaft so dargestellt worden ist.
Ich würde Ihnen wirklich empfehlen, nicht diese theoretischen Spielchen zu spielen - das können Sie nachlesen, das haben wir ganz exakt aufgeschrieben -, sondern lassen Sie uns in der Praxis gucken, welche Schätze wir in Sachsen-Anhalt haben und wie wir helfen können, diese Schätze im Wirtschaftsbereich mit der Wirtschaftsförderung weiterzuentwickeln.
An dieser Stelle hat die Landesregierung um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Wirtschaftsminister Dr. Rehberger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich war offen gestanden richtig gespannt darauf, wer für die SPD-Fraktion heute sprechen würde. Ich dachte, entweder ist es Herr Bullerjahn, der Veranlassung hätte, sich bei der heutigen Debatte zu Wort zu melden,
Das Interessante ist nämlich, meine Damen und Herren: Je nachdem, wer für die SPD-Fraktion redet, gibt es unterschiedliche Botschaften.
Auch wenn Herr Bullerjahn das Wort nicht ergriffen hat, ist es dennoch erlaubt, auf seine grundsätzliche Sicht der Dinge im Lande Sachsen-Anhalt einzugehen, weil das der Kern des Problems ist.
Meine Damen und Herren! Die grundsätzliche Sicht - dazu zitiere ich, wenn es notwendig ist, einfach Herrn Bullerjahn - des Herrn Bullerjahn lautet: 80 bis 90 % des Landes müssen aus der Höchstförderung herausgenom
men werden. Das können Sie nachlesen. Dann fragt man sich natürlich: Wie kommt der dazu? Das ist ja nicht aus bösem Willen heraus so von ihm angedacht worden. Er muss irgendwelche nachvollziehbaren Überlegungen angestellt haben, um zu einer aus meiner Sicht derart verheerenden Forderung zu kommen.
Er hat es ja in seiner Broschüre „Sachsen-Anhalt 2020 - Einsichten und Perspektiven“ zu Papier gebracht. In diesem Papier, meine Damen und Herren, geht Herr Bullerjahn davon aus, dass die Bevölkerung SachsenAnhalts von heute 2,5 Millionen Einwohnern bis zum Jahr 2020 auf rund zwei Millionen Menschen schrumpfen wird.
Da die Altersstruktur der zwei Millionen Einwohner des Landes im Jahr 2020 noch viel stärker als heute durch einen Mangel an jüngeren Menschen und eine Dominanz der älteren und alten Menschen geprägt sein wird, geht - so seine Prognose - der Schrumpfungsprozess munter weiter. Im Jahr 2050 soll das Land nach seiner Prognose nur noch 1,4 Millionen Einwohner haben.
Ich bin gespannt, wann Herr Bullerjahn ausrechnet, wann Sachsen-Anhalt komplett leer ist. Wenn er fünf Jahre weiter Opposition verordnet bekommt - dafür spricht einiges -, hat er genügend Zeit, auch das noch auszurechnen, meine Damen und Herren.
Ich kann nur sagen: Wer so rechnet und solche Zahlen seiner Politik zugrunde legt - aus diesen Zahlen zieht er ja dramatische Schlussfolgerungen -, der bietet dem Land keine Zukunftsperspektive; es ist aus meiner Sicht, meine Damen und Herren, vielmehr eine Horrorvision. Gott sei Dank ist sie falsch.
Statistiker können selbstverständlich Trends erfassen und hochrechnen. Eine seriöse, verlässliche Prognose für 15 Jahre und mehr können sie aber nicht abgeben. So hat es keinen Statistiker gegeben - schauen wir uns doch einmal die letzten 50 Jahre im 15-Jahres-Rhythmus an -, der im Jahr 1945 zutreffend prognostiziert hätte, wie es im Jahr 1960 in Deutschland aussehen würde.
Meine Damen und Herren! Im Jahr 1945 sind in Westdeutschland, in der späteren Bundesrepublik Deutschland, neun Millionen Menschen aus dem früheren deutschen Osten zugewandert. Wenn da einer gekommen wäre und gesagt hätte, im Jahr 1960 werde man in der westlichen Bundesrepublik Italiener, Franzosen, Spanier und Portugiesen in einer Millionenzahl ins Land bitten, um das überhaupt leisten zu können, was die Industrie leisten musste, der wäre für verrückt erklärt worden, den hätte man in ein Irrenhaus gesteckt; und doch ist es so gekommen.
Es gab auch keinen Statistiker, der im Jahr 1960 zutreffend prognostiziert hätte, was in Deutschland im Jahr 1975 sein würde. Im Jahr 1960 hatten wir aus der damaligen DDR Jahr für Jahr Zehntausende Zuwanderer, und zwar jüngere Menschen, die man bestens in unserer Wirtschaft im Westen einsetzen konnte. Aber kein einziger Statistiker hat natürlich gewusst, dass im Jahr 1961 die Mauer gebaut wird und damit dieser Strom plötzlich unterbrochen wird.
Es gab im Jahr 1975 keinen Statistiker, der verlässlich prognostiziert hätte, was im Jahr 1990 in Deutschland sein würde. Da war nämlich inzwischen die Wende in der DDR eingetreten. Es gab auch im Jahr 1990 keinen
Statistiker, der auch nur einigermaßen zutreffend prognostiziert hätte, wie es in Deutschland im Jahr 2005 aussehen würde.
Meine Damen und Herren! Deswegen sage ich: Es gibt keine Statistik im Jahr 2006, die seriös und verlässlich die Bevölkerungszahl Sachsen-Anhalts im Jahr 2020 vorhersagen kann; wer es dennoch tut, der übernimmt sich ganz gewaltig.
Denn, meine Damen und Herren, für die Bevölkerungsentwicklung in einer Region wie generell gibt es zwei Faktoren, die relevant sind: Der erste ist das Generativverhalten, der zweite sind die nationalen und internationalen Wanderungsprozesse.
Gerade die Wanderungsprozesse sind in ihrer Größenordnung mittel- und langfristig schwer prognostizierbar, da sie von vielen, insbesondere von ökonomischen Faktoren abhängen. Innerhalb des Bundesgebietes und zunehmend auch in der EU, ja weltweit sind Wanderungsprozesse völlig normal. Problematisch sind diese Wanderungen allerdings für Regionen, die dauerhaft einen negativen Wanderungssaldo aufweisen.
Sachsen-Anhalt hat in den Jahren 1993, 1994 und 1996 einen leicht positiven Wanderungssaldo erreicht. Das heißt, es kamen mehr Menschen ins Land, als gegangen sind. Dann ging es zugegebenermaßen dramatisch bergab. Der Tiefpunkt wurde im Jahr 2001 erreicht. Binnen Jahresfrist wanderten über 23 000 Menschen mehr aus Sachsen-Anhalt ab, als ins Land kamen.
Meine Damen und Herren! Das war die Schlussbilanz der Regierung Höppner, nicht nur von Herrn Höppner persönlich, sondern auch der Strippenzieher, die acht Jahre lang seine Politik ermöglicht hatten.
(Beifall bei der FDP - Oh! bei der SPD und bei der PDS - Herr Bischoff, SPD: Das ist unter Ni- veau!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was jetzt interessant ist - das ist ein Treppenwitz der Geschichte -: Die Prognosen, die Herr Bullerjahn zur Grundlage seines Papiers und zur Grundlage seiner wirtschaftspolitischen Forderungen gemacht hat, beruhen - wie ich inzwischen feststellen konnte; da muss man erst einmal ein wenig kramen - auf den Zahlen der Abwanderung in den Jahren 2000, 2001 und 2002. Das heißt, die Abwanderungszahlen aus den drei Jahren, in denen wir pro Jahr weitaus mehr Menschen als jemals zuvor verloren haben, nämlich jeweils deutlich über 20 000, sind die Grundlage der Berechnungen von Bullerjahn und der Statistiker, die ihm zuarbeiten.
Da kann ich nur sagen: Es geschieht ihm recht, dass er gerade die Schlussbilanz der Höppner-Zeit zur Basis seiner Berechnungen nimmt und nicht erkennt, dass sich die Schere inzwischen wieder schließt, konkret, dass die Zahl der Zuwanderungen ansteigt und die Zahl der Abwanderungen sich eben entsprechend reduziert; das ist der Punkt.
Sie müssen sich das nur einmal anschauen: Im vergangenen Jahr hatten wir, wenn die ersten drei Quartale zugrunde gelegt werden, eine Abwanderung per sal
do von etwas über 9 000 Menschen. Lassen Sie es dann 12 000 Menschen gewesen sein; jedenfalls ist es nur die Hälfte von dem, was in den letzten Jahren unter Höppner abgewandert ist.
Wenn man die Zahlen in den letzten Jahren unter Höppner dann bis zum Jahr 2020 hochrechnet, dann kommt man in der Tat auf solche Horrorzahlen von gerade noch zwei Millionen Einwohnern und für ein paar Jahrzehnte danach auf eine noch geringere Zahl, und zwar von 1,4 Millionen Menschen.
Das ist, glaube ich, der springende Punkt, über den wir uns streiten, auch mit denen, die als Wissenschaftler behaupten, sie wüssten alles, die aber zum Teil noch nicht einmal erkannt haben, dass die drei Jahre, die sie zur Basis ihrer Prognose gemacht haben, extrem ungünstige Jahre waren. Wir werden ja die weitere Entwicklung in den nächsten Jahren sehen.
Eines ist richtig: Wenn man die Bevölkerungszahlen der Bundesrepublik Deutschland und Sachsen-Anhalts, wie sie im Moment sind, hochrechnet, dann ist ein Schrumpfungsprozess festzustellen; das ist völlig unstreitig.
- Doch. Ja, Frau Kuppe, sehen Sie, ich überrasche Sie immer wieder mit Erkenntnissen, die auch Ihre eigenen sind. Vielen herzlichen Dank für dieses Anerkenntnis.
Die Frage, wie die Binnenwanderungen verlaufen, lässt sich nicht bezogen auf einen Zeitraum von 15 Jahren klären. Die Frage, wie die Binnenwanderung verläuft, hängt insbesondere von der wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Regionen ab. Warum haben denn die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg eine so große Zuwanderung zu verzeichnen? - Einfach deswegen, weil sie wirtschaftlich besonders erfolgreich sind. Deswegen sage ich: Wenn wir eine erfolgreiche Politik in den nächsten Jahren fortsetzen, dann wird sich auch bei uns der Abwanderungsprozess, wie es jetzt schon deutlich erkennbar ist, verändern.