Protokoll der Sitzung vom 17.02.2006

Was Sie aber nicht verstanden haben, ist das, was Sie gemacht haben, nämlich zu sagen, wenn nichts passiert, fahre ich die Karre gegen den Baum und deswegen versuche ich, den Baum abzupolstern.

(Frau Budde, SPD: Schwachsinn!)

Was Herr Rehberger geschildert hat, ist, wie ich ans Lenkrad gehe und steuere. Sie sind offensichtlich nicht einmal mehr in der Lage, darüber nachzudenken. Das ist der Unterschied.

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)

Herr Gallert, bitte sehr.

Ich will den Versuch machen, die Debatte auf das zurückzuführen, worum es hier eigentlich geht. Man hatte die Debatte damit angefangen, dass wir über die verschiedenen Modelle der Wirtschaftsförderung in diesem Land reden wollten. Das dann alle inhaltlichen und personalen Querelen zwischen der FDP und der SPD in diesem Land zum Gegenstand der Debatte werden, ist vielleicht für die beiden interessant, aber bitte für die anderen nicht.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Deswegen sage ich ganz deutlich, ich bin jetzt nach vorn gegangen; nicht dass Herr Thiel schon wieder gelobt wird.

(Heiterkeit bei allen Fraktionen)

Wenn das so weitergeht, bekommt er langsam ein Problem bei uns.

(Herr Tullner, CDU: Sie machen das auch gut!)

Wir sagen ganz deutlich: Natürlich ist die Auseinandersetzung um die Frage regionale Kerne oder nicht regionale Kerne eine hochinteressante. Ich habe gestern dazu ausdrücklich etwas gesagt, Herr Thiel heute auch. Wir halten das für eine Phantomdiskussion, die sich offensichtlich hervorragend polarisieren lässt, aber des

wegen nicht die eigentlich entscheidenden Fragen auch der nächsten Wochen berührt.

Ich will nur noch einmal sagen: Herr Rehberger, es ist Klasse, dass wir ein Wirtschaftswachstum von 1,1 % hatten und im Bundesdurchschnitt nur 0,9 %. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir im Jahr 2005 proportional mehr Arbeitsplätze verloren haben als alle anderen Bundesländer.

(Minister Herr Dr. Rehberger: Nein! - Herr Tullner, CDU: Das stimmt nicht!)

Herr Rehberger, an den Zahlen können Sie nicht vorbei; denn minus 20 000 sind minus 20 000 und minus 18 700 im Pendlerbereich sind minus 18 700. Deswegen brauchen wir auf diese Fragen neue Antworten, und die geben wir nicht, wenn wir die Zahlen und Fakten ignorieren und uns in einen Höhenrausch reden, den dieses Land einfach nicht verdient hat.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS und bei der SPD - Herr Tullner, CDU: Tiefenrausch!)

Danke sehr. - Ich sehe keine weitere Meldung. Damit beenden wir die Debatte. Beschlüsse in der Sache werden nicht gefasst. Damit ist das erste Thema im Rahmen der Aktuellen Debatte abgehandelt.

Wir kommen zum zweiten Thema:

EU-Dienstleistungsrichtlinie - ein fauler Kompromiss

Antrag der Fraktion der Linkspartei.PDS - Drs. 4/2625

Zunächst erteile ich für die Antragstellerin Frau Dr. Klein das Wort. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern wurde ich von einem Kollegen gefragt, was ich eigentlich mit diesem Antrag bezwecke; denn wir haben schließlich in der letzten Landtagssitzung das Thema EU-Dienstleistungsrichtlinie debattiert und die Koalitionsfraktionen und die SPD haben es als erledigt abgehakt. Ich kann Ihnen diese Aktuelle Debatte aber nicht ersparen. Es geht hier schließlich um den wichtigsten Prozess in der Europäischen Union nach der gescheiterten Verfassungsdebatte.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Diese ist unter anderem auch daran gescheitert, dass es in der Diskussion schon um die Dienstleistungsrichtlinie ging. Wir in Sachsen-Anhalt können zwar darüber philosophieren, welchen Standort wir in Europa haben; wenn wir aber in Fragen der Dienstleistungsrichtlinie den Kopf in den Sand stecken, dann kommt etwas über uns, was wir letztendlich umzusetzen haben, zu vertreten haben und dann auch gefordert sind.

Die Mitglieder des Europäischen Parlaments haben gestern in erster Lesung mehrheitlich einem Richtlinienentwurf zugestimmt, der trotz einiger Verbesserungen, die aufgrund des öffentlichen Drucks zustande kamen, eine bedrohliche Verschlechterung gegenüber der bisherigen Rechtslage darstellt.

Das Europäische Parlament hat nahezu alle Änderungsanträge des federführenden Binnenmarktausschusses vom 9. November 2005 angenommen. Ebenfalls angenommen wurden alle Kompromissvorschläge der Christdemokraten und der Sozialdemokraten, die in der vergangenen Woche ausgehandelt worden sind. Diese hatten allerdings ihre Anträge zu Artikel 16 des Entwurfs, in dem es um das Herkunftslandprinzip oder, wie es jetzt heißt, die Dienstleistungsfreiheit geht, zurückgezogen. Also war der wichtigste Änderungsantrag weg.

Von der Bundesregierung über den SPD-Vorsitzenden bis hin zu den Medien wird dieses gestrige Ergebnis bejubelt. Das europäische Sozialmodell sei gerettet. - Abgesehen davon, dass Ihnen keine und keiner erklären kann, was denn das europäische Sozialmodell ist; denn ein solches gibt es nicht. Wenn es eines gäbe, das verbindliche Sozial- und arbeitsrechtliche Standards beinhalten würde, würde die Dienstleistungsrichtlinie anders aussehen und es wären sicherlich die Proteste nicht so groß.

Seit einer Woche wird nun in den Medien von Politikern von CDU und SPD mit Nachdruck darauf verwiesen, dass ein Kompromiss gefunden worden sei, der alle Probleme löse; Proteste seien nicht mehr notwendig.

Dass wir das anders sehen, wundert Sie sicherlich nicht. Aber auch andere wie die Gewerkschaften und Hunderttausende Betroffene tragen diese angeblich jähe Wendung des Kompromisses nicht mit. Weil es eben keine jähe Wendung ist; vielmehr sind die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament schlicht und ergreifend auf die Linie der Konservativen eingeschwenkt.

Ich zitiere den Vorsitzenden der Fraktion der Sozialdemokraten im Europaparlament Martin Schulz, wie er die sozialdemokratische Verhandlungsstrategie charakterisierte:

„Letztlich geht es in den Gesprächen in der kommenden Woche weniger um inhaltliche als um sprachliche Korrekturen. Mit den Grundzügen der Richtlinie können die Sozialdemokraten leben, zumindest in der Fassung, die der Binnenmarktausschuss im Herbst 2005 beschlossen hat.“

Es gab übrigens am 28. November 2005 einen Beschluss des Parteivorstandes der SPD, der genau das konterkariert. Dort werden nämlich insbesondere das Herkunftslandprinzip und auch die Aufnahme von Diensten von allgemeinem und allgemeinem wirtschaftlichen Interesse strikt abgelehnt. Aber das Papier ist geduldig und die Praxis ist eine andere.

Es bleibt also dabei: Das Wort „Herkunftsland“ als solches ist zwar gestrichen worden, aber nicht das Prinzip. Durch die Hintertür soll es zurückkehren, weil die Mitgliedstaaten in ihren Rechten zur Festlegung von Standards beschnitten werden.

Die Mitgliedstaaten sollen verpflichtet werden, das Recht von Dienstleistungserbringern, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen zu erbringen, in dem sie niedergelassen sind, zu achten. - Zu achten. Das heißt, es wird nicht gesagt, es gelten nun die Gesetze des Herkunftslandes. Es wird aber auch nicht gesagt, es gelten die Gesetze des Ziellandes, in dem die Dienstleistung erbracht wird, zumal der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht werden soll, für die freie Aufnahme und die freie Ausübung einer Dienstleistung innerhalb seines Hoheitsgebiets sorgen soll. Dazu darf

er nach wie vor keine beglaubigten Dokumente abfordern, keine Übersetzungen, sondern er muss mit dem leben, was ihm der Antragsteller bringt, egal in welcher Sprache, egal in welcher Rechtsform.

Eine Einschränkung gibt es. Aber die ist auch nicht neu, sondern sie wurde ebenfalls bereits im November 2005 vom Binnenmarktausschuss beschlossen. Die Mitgliedstaaten, in die sich die Dienstleistungserbringer begeben, können Anforderungen in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen stellen, die aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, des Umweltschutzes und der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sind. Ebenso dürfen die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht ihre Bestimmungen über Beschäftigungsbedingungen, sprich Arbeits- und Tarifrecht einschließlich der Bestimmungen in Tarifverträgen, anwenden. - Das ist positiv.

Allerdings wirken diese Gesetze nur dann einschränkend, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Bestimmungen hinsichtlich des Umweltschutzes, der öffentlichen Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung erforderlich, diskriminierungsfrei und verhältnismäßig sind. Ansonsten unterliegt der Dienstleistungserbringer den Gesetzen seines Herkunftslandes.

Damit bekommt auf jeden Fall eine Institution Arbeit. Das ist der Europäische Gerichtshof; denn ein Land muss, wenn es seine Zustimmung verweigert, das erst einmal nachweisen. Das ist ein Rückfall hinter die jetzige Praxis. Statt Bürokratieabbau erfolgt erst einmal Bürokratieaufbau.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Die Rechtsunsicherheit für Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die Kommunen und die Länder wächst und es wird noch mehr Grauzonen als bisher geben.

In der ursprünglichen Fassung des Kompromisses von vergangener Woche - der Text, der zurückgezogen wurde - waren bei den Ausnahmetatbeständen zum Herkunftslandprinzip wenigstens noch Sozialpolitik und Verbraucherschutz mit genannt worden. Diese beiden Bereiche wurden in letzter Minute mit Einverständnis der Sozialdemokraten gestrichen. Wenn das so bleiben sollte, dann werden also sozialpolitische oder Verbraucherschutzbestimmungen als Rechtfertigungsgrund für staatliche Anforderungen an die Dienstleistungserbringer nicht mehr hinreichend sein.

Werte Kolleginnen und Kollegen! Im Hinblick auf den Geltungsbereich der Richtlinie - Artikel 2 - sind die Dienstleistungen von allgemeinem und allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nach wie vor enthalten. Es gibt zwar eine Reihe von Bestimmungen, die besagen, dass die Richtlinie nicht die Liberalisierung oder Privatisierung bisher nicht dem Wettbewerb geöffneter Sektoren bewirken soll. Angesichts dessen, dass es aber EU-weit - wir dürfen nicht nur Deutschland angucken, sondern wir müssen die ganze EU sehen - kaum noch einen Sektor gibt, der nicht irgendwo bereits dem Wettbewerb geöffnet ist, ist diese Einschränkung fast nur ein Lippenbekenntnis; denn auch so elementare Dienste wie Bildung, Wasserversorgung oder Abfallbeseitigung sind mit dem Markteintritt privater Anbieter längst dem Wettbewerb geöffnet worden und würden mit der Richtlinie flächendeckend dem freien Spiel der Marktkräfte unterworfen.

Lediglich der Gesundheitssektor, die audiovisuellen Dienste und der Bereich des Glücksspiels werden aus dem Geltungsbereich der Richtlinie ausgeklammert. Aber selbst dort sind die Begründungen schon so gehalten, dass man mindestens drei Rechtsanwälte braucht, um die vierte Meinung herauszubekommen, was denn nun eigentlich richtig ist. Ich könnte Ihnen ein Beispiel vortragen, wie die Richtlinie die öffentlichen Gesundheitsdienste nicht berührt. Aber ich glaube, das überfordert uns im Augenblick alle. - Gut.

Werte Kolleginnen und Kollegen! Wie gesagt, es wäre eine klare Trennung zwischen kommerziellen Dienstleistungen und den Dienstleistungen von allgemeinem und allgemeinem wirtschaftlichen Interesse notwendig gewesen.

Ich gebe zu, die Regulierung des Dienstleistungssektors - das habe ich bereits gesagt - ist einer der am schwersten wiegenden europäischen Rechtsakte. Dieser soll nun mit einem zutiefst widersprüchlichen Gesetzeswerk bewältigt werden. Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und Unternehmen in der Europäischen Union werden diese Last schultern müssen.

Rechtssicherheit und Kontrolle werden nicht mehr gegeben sein, wenn die Dienstleistungsrichtlinie so bleibt, wie sie nun vorliegt; denn wer soll schon die Bestimmungen der Richtlinie beherrschen? Wer beherrscht schon alle 25 Rechtssysteme der Mitgliedstaaten? Schon eine sektorale Regelung einzelner Dienstleistungen war - das hat die Vergangenheit gezeigt - und ist eine schwierige Angelegenheit.

Aus der Sicht der Linkspartei.PDS ist die EU-Dienstleistungsrichtlinie nicht der Weg, um ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, ein Europa der Regionen zu schaffen. Wir sind der Auffassung, dass uns das, was da in Brüssel passiert, sehr wohl etwas angeht und dass wir deshalb auch das Recht und die Pflicht haben, uns einzumischen. Noch gibt es die Chance, dass die Richtlinie nicht Wirklichkeit wird.

Die Linkspartei.PDS wird deshalb den Protest gegen diese Richtlinie aufrechterhalten, auch hier im Land. Wir werden die nächste Landesregierung - das Thema wird wieder auf der Tagesordnung stehen - auffordern, darauf hinzuwirken, dass die Bundesregierung einer solchen Richtlinie ihre Zustimmung im Ministerrat verweigert.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Danke sehr, Frau Dr. Klein. - Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Dr. Sobetzko. Doch zuvor haben wir die Freude, Schülerinnen und Schüler der Berufsbildenden Schulen Quedlinburg bei uns begrüßen zu dürfen. Seien Sie herzlich willkommen!