Protokoll der Sitzung vom 17.02.2006

Danke sehr, Frau Dr. Klein. - Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Dr. Sobetzko. Doch zuvor haben wir die Freude, Schülerinnen und Schüler der Berufsbildenden Schulen Quedlinburg bei uns begrüßen zu dürfen. Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Dr. Sobetzko, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die Bedeutung der Dienstleistungen für unseren Binnenmarkt brauche ich wahrscheinlich nicht aufmerksam zu machen. Immerhin spielen hier 70 % der Wertschöpfung eine Rolle. Da wir in unserem Land - zunächst einmal in Deutschland, in unserem Bundesland

analog -, einen Negativsaldo haben, ist hier etwas zu machen. Deshalb können wir nur dankbar sein, dass eine Dienstleistungsrichtlinie umgesetzt werden kann. Deshalb bin ich dafür dankbar, dass dieser Kompromiss gefunden wurde.

Mit der gestrigen Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie zunächst im Europäischen Parlament konnte ein Kompromiss gefunden werden, der einerseits den gesteigerten Anforderungen der Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger an den europäischen Binnenmarkt gerecht wird und andererseits berechtigte soziale Interessen berücksichtigt. Frau Dr. Klein, ich glaube, dass das, was Sie vorgetragen haben, zum großen Teil Ihre Auslegung ist.

Es wird nun darauf ankommen, dass sich die Staats- und Regierungschefs möglichst noch im Rahmen der österreichischen Präsidentschaft zu diesem Kompromiss bekennen. Ich möchte behaupten, dass der Kompromiss mit seinen substanziellen Änderungen den ursprünglichen Entwurf in entscheidenden Positionen sogar vom Kopf auf die Füße gestellt hat und somit auch das europäische Sozialmodell gesichert scheint.

(Frau Dr. Klein, Linkspartei.PDS: Was ist das?)

Die Ängste, die von der Linkspartei.PDS vorgeführt werden, sind, meine ich, somit unbegründet. Dieser Feststellung lege ich aber folgende Einschätzung zu dem gefundenen Kompromiss zugrunde:

Erstens. Bezüglich des umstrittenen Herkunftslandprinzips - wir hatten uns dem angeschlossen - konnte ein guter Kompromiss gefunden werden, der eine moderate Regelung zum anwendbaren Recht durchsetzen lässt. Damit scheitert der Versuch, ein Binnenmarktverhinderungsprogramm zu verabschieden. Mit der Richtlinie werden unsinnige Barrieren und bürokratische Schikanen für Unternehmen abgebaut, also auch der notwendigen Vorfahrt für Dienstleistungsunternehmen aus Deutschland eine Chance gegeben.

(Zustimmung von Herrn Tullner, CDU)

Besonders schikanöse Belastungen, wie zum Beispiel die Pflicht, eine Niederlassung im Hoheitsgebiet des Mitgliedslandes zu eröffnen, werden generell verboten. Rechtsbereiche, wie zum Beispiel Regelungen zur Unternehmensführung, zur Unternehmensstruktur, zur Ausführung der Dienstleistung oder zum Inhalt der Dienstleistungen, bei dem das Recht des Herkunftslandes unproblematisch ist - warum auch nicht? -, werden in einer Positivliste zusammengeführt.

Grundsätzlich gilt für den Marktzugang und auch für die Ausübung der Dienstleistung das Recht am Ort der Niederlassung. Die Mitgliedstaaten, in denen die Dienstleistung erbracht wird, können jedoch verlangen, dass ihre Regeln eingehalten werden, die zum Schutz von öffentlicher Sicherheit und Ordnung, Volksgesundheit und Umwelt oder zur Vorbeugung gegen besondere Risiken vor Ort zwingend erforderlich sind.

Die vom Binnenmarktausschuss beschlossene Fassung ersetzt somit das Herkunftslandsprinzip mit seinem punktuellen Ausnahmekatalog durch ein vernünftiges Zusammenspiel der Rechtsordnungen von Herkunfts- und Bestimmungsland. Die Mitgliedstaaten erhalten somit die Möglichkeit, ihre Anforderungen, die durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sind, effektiv durchzusetzen. Sie können sie jedoch nicht als Instru

ment der Marktabschottung missbrauchen; denn das sollte nicht sein.

Zweitens. Es ist insbesondere der EVP-Fraktion zu verdanken, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht vollständig durchlöchert wurde. Wichtig ist jedoch, dass Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse weiterhin erfasst sind. Die beschlossenen Änderungen erzwingen keine Liberalisierung von Daseinsvorsorge, ermöglichen aber, dass die Richtlinie überall dort angewendet werden kann, wo Dienstleistungen dem Wettbewerb unterliegen. Es ist auch festzustellen, dass die Wachstumsbranche der privaten Gesundheitsdienstleistungen aus der Richtlinie ausgeschlossen worden ist - ein wichtiger Kompromiss.

Drittens. Dort, wo der von der Kommission vorgelegte Richtlinienentwurf über sein Ziel hinausgeschossen war, konnte sich die EVP bereits im Vorfeld in Abstimmung mit den Liberalen, den Sozialdemokraten und den Grünen auf eine gemeinsame Änderung einigen. Die notwendigen Korrekturen wurden mit einer breiten fraktionsübergreifenden Mehrheit verabschiedet.

Viertens. Im Konsens mit allen Fraktionen wurden folgende Änderungen beschlossen. Ich möchte darauf noch eingehen, um einiges herauszugreifen.

Erstens. Es ist sichergestellt, dass die Richtlinie die staatliche und kommunale Daseinsvorsorge nicht einschränkt. Die Definitions-, Gestaltungs- und Finanzierungshoheit der Mitgliedstaaten bleibt unangetastet. Den Besonderheiten von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse wird innerhalb der Richtlinie Rechnung getragen.

Zweitens. Das gesamte Arbeitsrecht, insbesondere die Entsendung von Arbeitnehmern, bleibt von der Richtlinie unberührt. Weder die Bestimmungen zu Arbeits- und Tarifverträgen noch der Arbeitsschutz oder verbindliche Mindestlöhne können umgangen werden. Befürchtungen, die Richtlinie würde Sozialdumping fördern, wird damit - so meine ich jedenfalls - der Boden entzogen. Auch die Gewerkschaften haben, obwohl sie demonstrieren ließen oder demonstriert haben, dem Kompromiss zugestimmt, weil das letztlich auch aus ihrer Sicht eine Notwendigkeit war.

Drittens. Eine effektive Kontrolle seitens der Behörden am Ort der Dienstleistung wird gewährleistet. Mit einem praxisgerechten Konzept der Verwaltungszusammenarbeit wird ein wirkungsvolles Instrument zur Bekämpfung von illegaler Schwarzarbeit und Scheinselbständigkeit geschaffen.

Viertens. Sensible Dienstleistungen wie Notartätigkeit, Geldtransporte, audiovisuelle Dienste, Zeitarbeit oder der Glücksspielsektor werden aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie genommen.

Ich denke, meine Damen und Herren, es konnte mit dieser ausgewogenen Balance zwischen der Herstellung eines größeren Dienstleistungsmarktes, der für unser Land dringend notwendig ist, dem Abbau protektionistischer Barrieren und den berechtigten Schutzinteressen der Mitgliedstaaten ein annehmbarer Kompromiss gefunden werden. Hierzu kommt - das ist auch wichtig, Frau Dr. Klein -, dass innerhalb von fünf Jahren regelmäßige Evaluierungsberichte durch die Europäische Kommission zu erstellen sind. Dann werden wir sehen, ob sich das bewahrheitet hat, was ich jetzt zu Papier gebracht und was ich jetzt gesagt habe, oder ob die Ängste

und Bedenken, die Sie geäußert haben, irgendeinen Niederschlag gefunden haben, was sich dann gegebenenfalls noch korrigieren lassen könnte.

Meine Damen und Herren! Ich bin damit am Ende dieser Ausführungen. Es ist meine letzte Parlamentsrede und ich möchte mich auf diese Weise auch von unserem Landtagsparlament verabschieden. Ich war immerhin 16 Jahre lang in diesem Parlament. Es war eine schöne Zeit. Ich betrachte den Abgang von der politischen Bühne mit etwas Wehmut. Aber es gibt eben nach der politischen Arbeit manchmal auch noch etwas Schöneres. Das allerdings unter dem Aspekt gesehen, dass man lange Zeit hier politisch gearbeitet hat und rückblickend sagen kann, man hat viel mitgestalten dürfen, man hat aber auch vieles mit verändern dürfen. Das erfüllt mich mit Stolz und Genugtuung, wenn ich dieses Parlament verlasse.

Ich möchte all denen danken, mit denen ich gut zusammenarbeiten konnte. Das war die Mehrzahl der Anwesenden. Das sind auch diejenigen gewesen, die jetzt nicht mehr im Parlament sind. Es ist ganz klar, dass man hier Höhen und Tiefen mitgemacht hat. Diese Höhen und Tiefen in einem Parlament können einen nur formen und lassen dann rückblickend viel Spielraum für die nachfolgende politische Betrachtung zu.

Ich möchte deshalb denjenigen, die das Glück haben werden, in der nächsten Legislaturperiode in diesem Parlament zu sein, noch zurufen: Nutzen Sie diese einmalige Chance, die Sie haben! Versuchen Sie - das meine ich wirklich ernst -, diesem Auftrag, den Sie erhalten haben, unserem Volk, unserem Land, unseren Menschen zu dienen - nicht für sich selbst zu arbeiten, sondern unserem Land zu dienen -, nachzukommen. Das zu sagen ist mir sehr wichtig. Ich wünsche Ihnen dazu alles Glück der Welt und ich wünsche Ihnen dazu Gottes Segen.

(Starker Beifall bei der CDU - Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der SPD und bei der Linkspar- tei.PDS)

Danke, Herr Dr. Sobetzko. - Für die SPD-Fraktion spricht Herr Dr. Püchel.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Zuruf von der CDU)

- Das ist keine Abschiedsrede, ich komme noch einmal dran.

(Heiterkeit)

Lieber Herr Sobetzko, ich wünsche Ihnen für das Leben danach alles Gute. Die wenigsten von uns wissen, was das, was danach kommt, wirklich ist. Sie werden es bald spüren. Hoffentlich wird alles schön werden. Es gibt nicht nur diesen Landtag.

(Zustimmung von Herrn Tullner, CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat sich in den letzten Monaten und Jahren mehrmals mit der Dienstleistungsrichtlinie beschäftigt, zuletzt erst im Januar 2006, sodass man heute eigentlich nicht damit rechnen konnte, dass wir noch einmal

darüber diskutieren würden, obwohl der Antrag der Linkspartei.PDS für die Aktuelle Debatte für mich nicht ganz überraschend kam, weil ich in der vorigen Woche im „Spiegel“ gelesen habe, dass Ihr derzeitiger Lebensabschnittsgefährte Oskar Lafontaine dieses Thema im Land Rheinland-Pfalz zum Wahlkampfthema machen will.

(Frau Dr. Klein, Linkspartei.PDS: Mit dem habe ich nichts zu tun!)

- Natürlich, mit dem haben Sie nichts zu tun, aber auch nichts dagegen.

Meine Damen und Herren! Natürlich ist das Thema Dienstleistungen in Europa in diesen Tagen von ganz besonderem Interesse. Gestern wurde, wie gesagt, in erster Lesung die Richtlinie verabschiedet.

Der freie Verkehr von Dienstleistungen ist keine Erfindung irgendwelcher europäischer Bürokraten oder Technokraten, sondern ist seit den Römischen Verträgen vorgesehen, das heißt seit 1957. Also seit Beginn der europäischen Einigung ist er zentraler Bestandteil des EGVertrags. In diesem sind die vier Grundfreiheiten des europäischen Marktes verankert, das heißt freier Verkehr von Personen, von Waren, von Kapital und eben auch von Dienstleistungen. Diese vier bilden in ihrer Gesamtheit den Grundpfeiler des europäischen Binnenmarktes. Darauf kann im Einzelfall jede interessierte Seite klagen, wenn das Europäische Parlament keinen hieb- und stichfesten gesetzlichen Rahmen setzt, der politisch gewollt und steuerbar ist

Und genau darum geht es. Gibt es keinen gesetzlichen Rahmen, kann es eine Welle von Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof geben, und niemand weiß genau, wie diese ausgehen. Vor allen Dingen verlieren wir dabei jeden politischen Gestaltungsspielraum und daran kann keinem gelegen sein.

Meine Damen und Herren! Der freie Verkehr von Personen, Waren und Kapital ist geregelt und verläuft ohne Probleme. Der Dienstleistungsverkehr stellt dagegen eine offene Flanke dar, die durch den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten mit ihrem völlig anderen Lohngefüge in den letzten Jahren Angst vor Lohndumping verbreitet hat. Die alten EU-Mitgliedstaaten hatten außerdem Schutzbarrieren errichtet, die für den einzelnen Dienstleister nur schwer überwindbar gewesen sind. Die Beispiele geisterten in den letzten Tagen durch die Medien; Sie kennen die teilweise irrsinnigen Vorschriften.

Will ein deutscher Handwerker in Luxemburg arbeiten, braucht er einen luxemburgischen Gesundheitspass, obwohl er einen deutschen Gesundheitspass hat. Will ein Aachener Malermeister in Belgien arbeiten, muss er an der Grenze sein Material in ein Auto umladen, das in Belgien zugelassen ist. In Portugal dürfen Baufirmen nur dann arbeiten, wenn ein portugiesischer Bauingenieur in der Firma beschäftigt ist. In Frankreich müssen sich ausländische Fachleute, die einen Computer reparieren wollen, fünf Tage vorher bei den Behörden melden. In Österreich dürfen nur Einheimische Bergführer werden.

Es gibt noch weitere derartige Geschichten, die nicht verständlich sind. Ein Handlungsbedarf war also gegeben, wollte man weiteres Wachstum und Zusammenwachsen der Europäischen Union erreichen.

Um Ordnung in dieses System zu bringen, wurde die Kommission vor zwei Jahren in Gestalt des Kommissars Bolkestein aktiv, der den Entwurf einer Dienstleistungs

richtlinie vorlegte. Diese hatte zum Grundprinzip, dass jeder Unternehmer in einem EU-Nachbarland zu den Bedingungen seines Heimatlandes tätig werden kann. Im Grunde ist das ganz einfach und leicht umzusetzen, jedoch ist es, wie gesagt, mit einer Gefahr verbunden: Verursacht durch das sehr niedrige Lohnniveau in den neuen Mitgliedstaaten sind Ängste entstanden, dass es mit dem In-Kraft-Treten der Richtlinie zu einem Sozial- und Lohndumping in Europa kommen könnte. Als besonders plakatives Beispiel für die Gefahren, die davon ausgehen könnten, wurde immer wieder der Lebensmittel-Discounter genannt, der sein Firmenzentrum nach Polen verlegt und in seinen deutschen Filialen polnische Verkäuferinnen für polnische Löhnen beschäftigt.

Meine Damen und Herren! Ich will nicht orakeln, aber hätte nicht der neoliberale Niederländer Bolkestein, sondern ein anderer die Verantwortung für die Erarbeitung der Richtlinie getragen, hätte sie vielleicht anders ausgesehen. So setzte die Richtlinie auf die freien Kräfte des Marktes und versprach 600 000 neue Arbeitsplätze in Europa, davon 100 000 in Deutschland.

Der Hauptkritikpunkt von vielen Seiten war das Herkunftslandprinzip mit der Angst vor einem gigantischen Verdrängungswettbewerb. Die SPD hat diese Bedenken aufgenommen und in der Stellungnahme des Präsidiums vom 23. Januar 2006 eindeutig geäußert.

Meine Damen und Herren! Wir brauchen ein soziales Europa ohne Dumping im Sozialbereich und bei den Löhnen. Wir brauchen ein Europa als Sozialgefüge und nicht als Spiel freier Kräfte. Nur ein soziales Europa ist auch ein starkes Europa.

Dies haben viele Menschen in vielen Ländern Europas auch so gesehen. 30 000 Gewerkschafter aus mehreren Ländern der EU haben am Dienstag in Straßburg genau dafür demonstriert, wie schon zuvor am Samstag in Berlin 40 000 Menschen gegen den ursprünglichen Entwurf demonstrierten.