Protocol of the Session on October 26, 2006

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Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu dieser konstituierenden Sitzung der 16. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses von Berlin.

Besonders gern begrüße ich unsere Ehrengäste – in- und ausländische –, Mitglieder des Deutschen Bundestages, den ehemaligen Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Reinhard Führer sowie weitere altgediente Parlamentarier, den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, Prof. Sodan, anwesende Stadtälteste von Berlin und alle Zuschauer und Zuhörer in Berlin und außerhalb, vor allem auch die Medienvertreter, die auf der Tribüne Platz genommen haben.

Bis zur Beschlussfassung über die Geschäftsordnung, die das Abgeordnetenhaus der 16. Wahlperiode unter Punkt 3 der heutigen Tagesordnung beschließen wird, verfahren wir noch nach den Regeln der 15. Wahlperiode des Abgeordnetenhausees. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. – Ich sehe und höre keinen Widerspruch.

Nach Artikel 54 Abs. 5 Satz 2 der Verfassung von Berlin in Verbindung mit § 10 Abs. 1 der jetzigen Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin tritt das Abgeordnetenhaus unter dem Vorsitz des ältesten Mitglieds zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen.

Mein Name ist Uwe Lehmann-Brauns. Ich wurde am 28. August 1938 in Potsdam geboren. Ich frage die anwesenden Parlamentarierinnen und Parlamentarier: Gibt es jemanden von Ihnen, der noch älter ist als ich?

[Heiterkeit]

Das ist offenbar nicht der Fall. Dann werde ich das Amt des Alterspräsidenten – und zwar sehr gern – ausüben und eröffne hiermit die 1. Sitzung der 16. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses von Berlin.

Wie Sie vielleicht wissen, hat ein Alterspräsident das Recht, sich mit einer Rede an Sie zu wenden. Von diesem Recht mache ich sehr gern Gebrauch.

Wer den Preußischen Landtag betritt, vorbei an dem Freiherrn vom Stein, trifft im Erdgeschoss auf Fotografien und Texte, die sich mit der Geschichte des Hauses befassen. Eine abenteuerliche Geschichte! Berlin hatte in den vergangenen hundert Jahren viel auszustehen. Von der sogenannten guten alten Zeit bis in den Ersten Weltkrieg, in Jubel, Tod, Hunger, Demütigung. Ein gnädiges Schicksal bewahrte uns vor dem, was Moskau und St. Petersburg blühte. Es kamen die Zwanzigerjahre, es kam der Bruch mit der alten Zeit, es kam die Zigarren rauchende Marlene Dietrich, die Künste triumphierten, und Walter Rathenau, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann schrieben demokratische Geschichte für die Nation. Berlin wurde Weltstadt, so lange, bis 1933 die Nazis die Stadt in den Griff

nahmen, allerdings ohne die Wahlen gewonnen zu haben. Es folgte der Mord, ein Selbstmord, an den deutschen Juden, an ihrer/unserer Kultur, ihrem Menschentum, es folgten die Wannsee-Konferenz, Auschwitz, die Hölle brach an, ergänzt durch die Bombennächte und den Kampf um Berlin.

Die Befreiung von jenen Teufeln wurde nur als kurzes Glück empfunden, denn die Stadt war fast ausgelöscht, ausgebrannt, missbraucht, bewohnt von armen Leuten, Waisen und Witwen, die über die Ruinen stolperten und Zigarettenstummel sammelten. Allein die Trümmerfrauen, Ernst Reuter, General Clay hielten zu diesem stromlosen, blockierten Berlin, das – als wäre all das nicht schlimm genug – zusätzlich gespalten wurde.

Es folgte die Diktaturzeit mit demütigenden Folgen für Berlin, das seine Hauptstadtfunktion in der einen Hälfte verlor und von der größten deutschen Industriestadt zur steuer- und investitionsbegünstigten Werkbank mutierte. In Mitte und den östlichen Bezirken ließ sich die Zentrale der zweiten deutschen Diktatur nieder, ohne die Bürger um ihr Einverständnis gefragt zu haben. Dort entfaltete sich ein Doppelleben: ein offizielles und ein privates. Trotz totaler Überwachungsversuche gelang es der offiziellen Seite weder, das private Leben zu zerstören, noch, den aufkommenden Widerstand zu ersticken. Es ist und bleibt die große Leistung der Ostdeutschen, sich am Ende unblutig selbst befreit zu haben.

Warum erwähne ich das? – Weil wir als Zeitzeugen und Nachgeborene Befangene dieser Zeiten bleiben. Wir werden jene Vergangenheit – selbst wenn naive oder dumpfe Geister es wollten – nicht loswerden. Sie ist Teil unserer politischen Maßstäbe und auch der Grund für unsere ökonomische Situation.

Die Stadt steht jetzt in den Schuhen, die für sie von der Geschichte gemacht wurden: Hauptstadt ohne Mauer und Diktatur, mit Bundestag und -regierung, Bundesrat, Botschaften, Verbänden, Medien und – wie wir hoffen – bald mit allen Bundesministerien. Sie ergänzen Berlins Reichtum an Kultur, wissenschaftlichen Einrichtungen, seine alten und jungen Stadtquartiere, seine idyllischen Außenbezirke, seinen guten Ruf im Ausland. Anders als die großen europäischen Metropolen, anders, als Rom, Paris und London in ihrer Weltläufigkeit in sich ruhen, muss Berlin als Labor der Gegenwart täglich neu um seine Position im europäischen und im globalen Wettbewerb kämpfen.

Mit einen „Eastpak“ voller Schulden hofften wir auf Erleichterung durch das Bundesverfassungsgericht. Ich betreibe keine Urteilsschelte, wenn ich sage: Berlin hat einen anderen Hintergrund als Hamburg, München, Bonn Stuttgart und Frankfurt am Main. Dort hat man kaum die Spaltung Deutschlands, kaum das komplizierte Zusammenwachsen beider Teile mitbekommen, geschweige denn durchlebt. Es war Berlin, das die Last der Teilung für die ganze Nation geschultert und getragen hat und

Alterspräsident Dr. Uwe Lehmann-Brauns

nicht nur Pfeffersäcke. Aus der größten deutschen Industriestadt – ich habe das schon erwähnt – verschwanden seit Kriegsende die meisten Industrieunternehmen, im Ostteil der Stadt noch nach 1990.

Nur mit hauchdünner Mehrheit votierte der Bundestag 1991 für Berlin aus Hauptstadt, trotz aller Lippenbekenntnisse zuvor. Es dauerte dann Jahre, bis sich die Westrepublik bequemte, die Hauptstadtentscheidung auch zu vollziehen. Diese jahrelange Verzögerung führte zu Einbrüchen des prognostizierten Wachstums. 16 Jahre nach dem Mauerfall werden der Hauptstadt noch immer die kompletten Bundesministerien verweigert.

Das sind keine hausgemachten Tatbestände. Die Republik darf ihre Hauptstadt deshalb nicht in dieser ökonomischen Knielage belassen, eine Lage, in die sie am wenigsten durch eigenes Verschulden geraten ist. Ich empfand die strahlenden Gesichter der reichen Ministerpräsidenten in Bad Pyrmont und die Beifall klatschenden Bundeshaushaltspolitiker als Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als eine unsolidarische, ja eigentlich schäbige Distanzierung von ihrer Mitverantwortung für diese Stadt.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts taugt nur bedingt als Alibi, denn es urteilte nur über Rechtsfragen. Schon gar nicht sagt es etwas über Patriotismus gegenüber einer Stadt, die – wie ich geschildert habe – 1989 nicht aus einer Poleposition heraus starten konnte. Sich diese Vorgänge bewusst zu machen, heißt nicht, zu resignieren, sondern heißt, den Kampf um die Achtung Berlins als Hauptstadt der Deutschen fortzusetzen. Jetzt erst recht! Wir haben ganz andere Herausforderungen überstanden.

Diese Stadt ist auch mehr als eine Feier-Metropole. Feiern, locker sein, sich privat und öffentlich ausleben ist etwas Selbstverständliches und Unpolitisches – Privat- und Geschmacksache in einer freien Gesellschaft. Die Stadt, auch mancher Politiker hat sich in dieser Beziehung nichts vorzuwerfen.

Mit Recht fordert FU-Präsident Dieter Lenzen aber, dass Berlin auch als Wissenschaftsstandort wahrgenommen wird, übrigens auch als Sportstadt, als Gesundheitsstadt, als Kulturstadt sowieso, auch als Stadt der Jugend.

Ich empfinde es als einen schwer erträglichen Mangel, dass wir sechs von sieben Studenten, die hier studieren wollen, abweisen müssen. Es wäre gerade auch unter ökonomischen Aspekten verhängnisvoll, wenn wir daran gingen, unseren Reichtum an Kultur, Wissenschaft und Forschung abzurüsten. Ich persönlich glaube, der Regierende Bürgermeister verdient wegen vergleichbarer Formulierungen Zustimmung, denn dieser Reichtum bringt uns nicht nur die Aufmerksamkeit Europas, sondern auch Touristen, Steuern und Wirtschaftsansiedlung.

Wir haben während der Fußballweltmeisterschaft in Berlin eine Gesellschaft erlebt, deren Fröhlichkeit sich mit dem Erlebnis von Zusammengehörigkeit verbunden hat. Dieser Fußballpatriotismus hat kurzfristig das Gezerre um materielle Vorteile, den Hickhack und Interessenausgleich, den Restfrust zwischen Ost und West einen Sommer lang verscheucht und Aufbruchstimmung verbreitet. Wir haben wieder gelernt, was Sport auch kann: den Idealismus einer Gesellschaft entzünden, Kräfte freisetzen und Selbstbewusstsein schaffen, ohne auf andere herabzublicken. Auch das gewonnene Fußballendspiel 1954 in Bern hatte damals mehr erreicht als ein 3:2 gegen Ungarn. Das „Wunder von Bern“ half der Nation, ihre zerknirschte Selbstversunkenheit zu verlassen.

Berlin braucht deshalb nicht nur die Erinnerung an dieses „Sommermärchen“, sondern Aufbruchsenergien darüber hinaus. Auch wenn wir nicht mehr im Jahre 1947 oder 1954 leben, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass unser Wirtschaftswachstum z. B. weit hinter dem Sachsens zurückhängt. Trotz Hauptstadtstatus bleiben wir ökonomisch die Vorletzten. Was machen wir falsch? – Diese Frage zu beantworten, wird im Zentrum dieser 16. Legislaturperiode stehen. Wir müssen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernstnehmen, vor allem aber die Ratschläge der Berliner Wirtschaftsunternehmer und Wirtschaftsforscher, denn nur ein Mehr an Wirtschaftswachstum gewährleistet soziale und Generationengerechtigkeit. Nur Wirtschaftswachstum beseitigt Arbeitslosigkeit und Armut, minimiert unsere Schulden.

Apropos Patriotismus: Mir liegt angesichts rechter Ränder an einer Klarstellung. Patriotismus hat mit Nationalismus nicht das Geringste zu tun, hat nichts zu tun mit kleinen Großkotzen, deren Deutschtum sich in Brutalität und Einäugigkeit verkrümelt hat. Rational betrachtet ist Nationalismus in seiner blinden Egomanie ein verwesendes Unikum, zumal in dieser globalisierten, technologisch funktionierenden Welt. Den Nationalisten fehlt die Neugier auf das andere, das Fremde, das Bewusstsein von Zugehörigkeit zu Europa, zur westlichen Welt und ihren Werten. Diese verantwortungslose Spezies sind die wahren Fremdkörper dieser Nation. Ich sehe in Nationalismus den Gegenbegriff zu Patriotismus und Bürgerlichkeit – einer Bürgerlichkeit, deren Funktion es ist, wie der Nobelpreisträger Imre Kertész sagt, zu modernisieren, zu mäßigen und zu zivilisieren.

Erlauben Sie abschließend, zweier Persönlichkeiten zu gedenken, die in diesem Herbst 70 Jahre alt geworden sind bzw. werden. Ich denke zunächst an Václav Havel. Wenn es eine Persönlichkeit gibt, die jenes brutale 20. Jahrhundert überstrahlt, dann ist es der Mensch, der Künstler, der Menschenrechtler, der Politiker Václav Havel: fünf Jahre lang unter z. T. verschärften Bedingungen in den tschechischen Diktaturgefängnissen eingelocht und krank gemacht, 1989 aus der Gefängniszelle in die Präsidentschaft des befreiten Landes entlassen. – Erlauben Sie, dass ich ihm den respektvollen, herzlichen Glückwunsch dieses Parlaments übermittele.

Alterspräsident Dr. Uwe Lehmann-Brauns

[Allgemeiner Beifall]

Auch Wolf Biermann wird in ein paar Wochen 70 Jahre alt. Seine Biographie ist vielsagend: sein Vater in Auschwitz umgekommen, er selbst als junger Mann und idealistischer Kommunist in die DDR gelangt, schon bald von ihrem Diktaturverhalten abgestoßen, gereift zum Künstler, gedrängt zum Widerstand. Wolf Biermann hat mit seinen Gedichten und Liedern diese Stadt, ihre Wunden, ihre Kraft, ihren Geist wie kein anderer besungen. Wenn die Metapher vom aufrechten Gang einer Personifikation bedarf, dann ist es dieser preußische Ikarus. Viele Menschen aus allen politischen Lagern wünschten sich, dass er Ehrenbürger dieser Stadt würde.

Ein Alterspräsident kann Probleme nur ansprechen. Wir alle, wo wir politisch auch stehen, sind dieser großen, freien Stadt tief verbunden. Ihre Probleme veranlassen uns erst recht, ihr zu dienen und zusammenzustehen, auch in dem Bewusstsein – ich zitiere Camus –, dass die Freiheit keine Daseinsberechtigung hätte, wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe. Nutzen wir also unsere Freiheit! – Vielen Dank!

[Allgemeiner Beifall]

Zurück zum Geschäftlichen: Ich rufe auf

lfd. Nr. 2:

Konstituierung des Abgeordnetenhauses von Berlin der 16. Wahlperiode

verbunden mit

Namensaufruf und Feststellung der Beschlussfähigkeit

Bevor ich die Beschlussfähigkeit des Hauses feststelle, berufe ich die vier an Jahren jüngsten Mitglieder des Abgeordnetenhauses in das amtierende Präsidium. Ich bitte folgende Abgeordnete, neben mir Platz zu nehmen: die Jüngste, eine Abgeordnete der Fraktion der Grünen, Frau Clara Herrmann, und den Jüngsten, Herrn Sebastian Czaja von der Fraktion der FDP, dann Herrn Benedikt Lux von der Fraktion der Grünen sowie Frau Ellen Haußdörfer von der Fraktion der SPD. Seien Sie willkommen!

[Allgemeiner Beifall]

Ich werde nun die Beschlussfähigkeit des Hauses durch Namensaufruf feststellen lassen. Die aufgerufenen Kolleginnen und Kollegen bitte ich, auf den Namensaufruf jeweils mit Ja zu antworten und sich dabei vom Platz zu erheben. Ich bitte Frau Herrmann, mit dem Aufruf zu beginnen.

[Aufruf der Namen]

Haben Sie vielen Dank! – Meine Damen und Herren! Damit stelle ich die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Ich komme nunmehr zu

lfd. Nr. 3:

Beschlussfassung

über die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin der 16. Wahlperiode (einschließlich der Anlagen)

Antrag der SPD, der CDU, der Linksfraktion, der Grünen und der FDP Drs 16/0001

Hierzu liegen folgende Änderungsanträge vor:

Drucksache 16/0001-1 – neu –: Änderungsantrag der Fraktionen der FDP, der CDU und der Grünen, Stichwörter: „Vorsitz des Hauptausschusses“

Drucksache 16/0001-2 – neu –: Änderungsantrag der Fraktionen der FDP, der CDU und der Grünen, Stichwörter: „Bearbeitung der den Ausschüssen überwiesenen Anträge“