Protocol of the Session on January 25, 2011

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Ich eröffne die 65. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde wie immer erteilt. Ich darf darauf hinweisen, dass das Bayerische Fernsehen den nachfolgenden Gedenkakt für die Opfer des Nationalsozialismus live überträgt. Die Gedenkstunde wird ebenfalls live auf der Webseite des Bayerischen Landtags übertragen.

Wir beginnen mit der Gedenkstunde.

Gedenkakt anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus

(Musikstück)

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste! Seit 15 Jahren gedenken wir in Deutschland jeweils am 27. Januar der Menschen, die der verbrecherische NS-Staat verfolgt, erniedrigt, deportiert und ermordet hat. Von Anfang an hat auch der Bayerische Landtag immer in der Plenarsitzung, die dem Gedenktag am nächsten liegt, an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert - darunter auch an die ehemaligen Abgeordneten aus bayerischen Parlamenten, die im Dritten Reich verfolgt wurden und deren Schicksale wir vor zwei Jahren dokumentiert und der Öffentlichkeit präsentiert haben.

Heute wollen wir unser Gedenken erstmals in einer etwas anderen Form als bisher zum Ausdruck bringen. Der heutige Gedenkakt ist eine gemeinsame Veranstaltung des Bayerischen Landtags und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Wir betonen damit, dass die Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht nicht allein ein staatlicher Auftrag ist, sondern ihrem Wesen nach eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Dabei engagieren sich die bayerischen KZGedenkstätten in Dachau und Flossenbürg seit Jahren in ganz herausragender Weise, und dafür darf ich Ihnen im Namen des Parlaments in dieser Stunde unseren Dank und unsere große Anerkennung aussprechen. Des Weiteren soll in diesem Jahr die öffentliche Aufmerksamkeit sowohl auf die jüdischen Opfer als auch besonders auf das Schicksal der Sinti und Roma gelenkt werden.

Aus diesem Anlass darf ich zunächst neben den Mitgliedern des Hohen Hauses, dem Herrn Ministerpräsidenten und der Staatsregierung auch eine Reihe von ehrenamtlichen Gästen willkommen heißen. Ich begrüße sehr herzlich den Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Herrn Kollegen Karl Freller.

Ich begrüße sehr herzlich den Präsidenten des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Herrn Dr. Josef Schuster.

Ich begrüße sehr herzlich und mit Freude die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Frau Charlotte Knobloch.

Ich begrüße den Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern, Herrn Erich Schneeberger.

Mein besonderer Gruß gilt dem Hauptredner, Herrn Franz Rosenbach. Er ist überlebender Sinto des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und führendes Mitglied des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern. Ich danke Ihnen, sehr geehrter Herr Rosenbach, dass Sie heute zu uns sprechen werden.

Herzlich willkommen heiße ich ebenso die weiteren Zeitzeugen und Überlebenden des Holocaust, die heute unsere Gäste sind.

Ich begrüße sehr herzlich die Vertreter der Kirchen auf der Besuchertribüne.

Herzlich willkommen heiße ich auch das Präsidium des Landtags von Nordrhein-Westfalen, an der Spitze den Präsidenten, Herrn Kollegen Eckhard Uhlenberg. Mit den Kolleginnen und Kollegen aus Düsseldorf haben heute Vormittag Arbeitsgespräche stattgefunden.

Ich begrüße auch alle weiteren Gäste, darunter die Mitglieder von drei Studienseminaren aus Schwaben und - darüber freue ich mich ganz besonders - einer 9. Klasse der Realschule Puchheim mit ihrer Lehrerin Frau Heimann.

Ich begrüße die Damen und Herren der Medien.

Die musikalische Gestaltung unserer Gedenkstunde verdanken wir Herrn Romeo Franz und Herrn Unge Schmidt. Auch sie heiße ich sehr herzlich willkommen.

Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Damen und Herren, "eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt" - das war die Hoffnung von Bundespräsident Professor Roman Herzog, als er 1996 den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus proklamierte. Weiter führte er dazu aus:

Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.

Die Geschichte der Opfer und was sie Schreckliches erlebt haben, kann wohl niemand besser erzählen als sie selbst. Es wird nur noch eine begrenzte Zeit sein, in der wir die Berichte der überlebenden Zeitzeugen aus ihrem eigenen Mund und mit ihrer eigenen Stimme hören können. Aber auch danach - und gerade dann - dürfen wir nicht vergessen, was Menschen damals anderen Menschen an Leid und Grausamkeiten angetan haben.

Es ist und bleibt eine Verpflichtung auch für die kommenden Generationen, sich dem Vergessen-Wollen entgegenzustellen, damit sich das Geschehene nie wiederholt.

Sie, sehr geehrter Herr Rosenbach, engagieren sich dafür in ganz persönlicher Weise. Ähnlich wie Herr Dr. Max Mannheimer und andere Überlebende berichten Sie an bayerischen Schulen von Ihrem Schicksal als Verfolgter.

Außerdem hat der Bayreuther Historiker Norbert Aas Ihre Lebensgeschichte in einem Buch dokumentiert. Es trägt den Titel "Der Tod war mein ständiger Begleiter". Sie schildern darin in Worten, die einem sehr nahegehen, in welch unfassbare Abgründe des Bösen Sie und Ihre Familie geblickt haben.

Als Sie 1943 zusammen mit Ihrer Mutter und anderen Verwandten in das KZ Auschwitz deportiert wurden, erfuhren Sie, dass Ihr Vater zwei Tage vor Ihrer Ankunft von der SS erschlagen worden war.

Später mussten Sie im Lager Birkenau mithelfen, die Toten aus den Gaskammern herauszutragen. Dort haben Sie mit eigenen Augen die großen Fässer gesehen, die mit Goldzähnen, Frauenhaaren, Brillen und Ringen gefüllt waren.

1945, nach der Befreiung, waren Sie 18 Jahre alt. Sie und zwei Ihrer Schwestern waren die Einzigen aus Ihrer Familie, die den Völkermord an den Sinti und Roma überlebt hatten.

Das Martyrium Ihrer Familie steht exemplarisch für die Gräueltaten, die die Sinti und Roma unter dem Naziregime erlitten haben. Sinti und Roma waren eine Minderheit, die dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Sie wurden in Lagern interniert, mussten dort Zwangsarbeit leisten und wurden ab dem Frühjahr 1940 in den Osten deportiert und systematisch ermordet. Andere starben an Hunger, Krankheiten und Erschöpfung. Heute schätzt man, dass insgesamt zwischen 220.000 und einer halben Million Sinti und Roma zu Tode kamen.

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten fanden sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR die Ver

brechen an den Sinti und Roma nur wenig Beachtung. Erst 1982 hat die Bundesrepublik Deutschland diesen Völkermord politisch und völkerrechtlich anerkannt.

Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma hat uns dazu dankenswerterweise eine eindrucksvolle Ausstellung zur Verfügung gestellt. Sie ist im Kreuzgang zu besichtigen. Ich darf Sie im Anschluss an diese Gedenkstunde zu einem Rundgang einladen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor Herr Dr. Schuster zu uns spricht, darf ich Sie nun bitten, sich zum ehrenden Gedenken an alle Menschen, die dem Terror und der Barbarei der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind, zu erheben.

(Schweigeminute)

- Ich danke Ihnen.

Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meine Damen und Herren Mitglieder der Bayerischen Staatsregierung, meine Damen und Herren Mitglieder dieses Hohen Hauses, Hohe Geistlichkeit, Frau Knobloch, Herr Rosenbach, meine Damen und Herren!

Es waren zwei Völker in Europa, die die Nazis zur Vernichtung ausersehen hatten: die Juden und das Volk der Sinti und Roma. Konnten sich andere wie Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, Homosexuelle, Priester zumindest theoretisch - ich betone: theoretisch - der Verfolgung entziehen, wenn sie sich um Unauffälligkeit bemühten, so konnten Juden und Sinti und Roma dies nicht. Sie waren pauschal zum Tode verurteilt. Ein jüdisches Kind, ein Kind einer Sintesa, das Kind eines Rom waren durch Geburt vogelfrei und der Gewalt der Nationalsozialisten hilflos preisgegeben.

Das Synonym dieses in der Geschichte der Völker beispiellosen Verbrechens ist Auschwitz, dessen Befreiung durch die Rote Armee sich in diesen Tagen zum sechsundsechzigsten Male jährt. Als die sowjetischen Soldaten am Nachmittag des 27. Januar 1945 das Lager betraten, fanden sie im Lager Auschwitz IIBirkenau 600 getötete Gefangene, die nur Stunden vor der Befreiung ermordet worden waren. Die Deutschen waren Hals über Kopf geflüchtet. Und allein diesem Umstand ist es zu verdanken, dass insgesamt 7.650 todkranke und erschöpfte Häftlinge gerettet werden konnten, 1.200 in Auschwitz I, 5.800 in Auschwitz II-Birkenau und 650 in Auschwitz III-Buna/ Monowitz.

Ab Mitte Januar 1945 hatten die Deutschen bei ihrem überhasteten Rückzug mehr als 58.000 Häftlinge aus Auschwitz auf die Todesmärsche gen Westen getrieben. Wer zu schwach war, das Marschtempo einzuhalten, wurde an Ort und Stelle erschossen. Unzählige verhungerten und erfroren. Nur vergleichsweise wenige erreichten das Lager Dachau und seine Außenlager in Bayern, wo sie wenige Monate später von der amerikanischen Armee befreit werden konnten.

Als Deutschland kapitulierte, waren sechs Millionen Juden und - wir haben die Zahl gerade gehört - etwa 500.000 Sinti und Roma in Europa tot, ermordet aus einem einzigen Grund: Sie waren Juden oder sie waren Sinti und Roma.

Wenn wir nun heute dieses Tages, des Befreiungstages von Auschwitz, in Deutschland, in den meisten Ländern Europas und in den USA gedenken, so tun wir das in Trauer, aber nicht in Bitterkeit. Wir, die wie ich nach der Nazizeit, nach dem Ende des Krieges geboren sind, haben diese brutale Diktatur nicht kennengelernt. Das deutsche Volk kam in den Genuss einer demokratischen Gesellschaft mit ethischen Werten. Wir alle haben gelernt, dass der Respekt vor der Würde des Menschen nicht nur unser oberster Verfassungsgrundsatz ist, sondern dass er auch gelebt und praktiziert werden muss, wenn ein friedliches Miteinander gelingen soll.

Die Voraussetzungen für ein respektvolles Miteinander sind da. Aber die Gesellschaft ist nicht so, wie wir sie uns wünschen würden. Der Antisemitismus ist nicht verschwunden, die Fremdenfeindlichkeit nicht und die Verächtlichmachung derer, die man für anders hält, auch nicht. Eine rechtsextreme Partei sitzt in einigen deutschen Landtagen und betreibt Propaganda für ihre verderblichen Ziele.

Wir wissen nicht nur aus den Verfassungsschutzberichten, dass neonazistische Gruppen alles daran setzen, bereits Kinder und Jugendliche für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Es bedarf unser aller Anstrengungen, dass einem solchen Treiben ein Ende geboten wird. Wir wollen nicht, dass noch mehr junge Menschen diesen braunen Rattenfängern wieder folgen.

Als Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland versichere ich Ihnen, dass der Antisemitismus nicht das eigentliche Problem der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist. Er betrifft uns; er macht uns besorgt. Aber er ist eigentlich nicht unser Problem. Er ist vielmehr das Problem der nichtjüdischen deutschen demokratischen Gesellschaft, die es um ihrer eigenen Würde willen nicht zulassen darf, dass je wieder eine Ideologie in Deutschland Raum findet, deren Ziel es ist, Menschen wegen ihres Sos

eins oder Andersseins zu verfolgen. Es ist unser aller Aufgabe, die Demokratie vor Volksverführern zu bewahren.

Als Abgeordnete dieses Landtags vertreten Sie die Bevölkerung Bayerns und damit haben Sie das Vertrauen der Menschen in Bayern. Das ist, denke ich, eine hervorragende Basis für eine beispielgebende Arbeit. Dazu wünsche ich Ihnen Glück und Gottes Segen. Vielen Dank.

Dr. h. c. Charlotte Knobloch (Präsidentin der Israeli- tischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und ehem. Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland): Sehr verehrte Frau Präsidentin Stamm, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Seehofer, sehr geehrter Herr Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, sehr geehrte Überlebende und Zeitzeugen, sehr geehrter Herr Rosenbach, sehr geehrter Herr Dr. Schuster, sehr geehrte Mitglieder des Kabinetts, sehr verehrte Damen und Herren Abgeordneten, verehrte Gäste! Der 27. Januar ist ein besonderer Gedenktag. Bundespräsident Roman Herzog und Ignatz Bubis, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, wählten vor 15 Jahren mit Bedacht das Datum der Befreiung von Auschwitz als Tag des gemeinsamen Erinnerns. Von Jahr zu Jahr wird dieser Tag wichtiger. Von Jahr zu Jahr wird es wichtiger, unsere Kultur des Erinnerns weiterzugeben an die jungen Generationen in diesem Land, stehen wir doch an der Schwelle der Zeit, da der Holocaust seiner Zeitgenossenschaft entschwindet.

Saul Friedländer äußerte erst vor wenigen Tagen seine Sorge, da sich beim Thema Holocaust Ermüdung zeige. Meine Erfahrungen aus den unzähligen Begegnungen mit Schülern in der gesamten Bundesrepublik vermitteln mir ein anderes Bild. Wenn junge Menschen heute fragen: "Was geht mich das noch an?", so wollen sie dies nicht rhetorisch verstanden wissen. Sie wollen eine Antwort von uns. Sie haben ein genuines Interesse an der Geschichte, und es liegt an uns, ob wir ihre Neugier befriedigen oder abtöten. Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Der Wunsch nach Harmonie im Verurteilen der NaziGräueltaten und im Bekenntnis zur Demokratie ist selbstverständlich. Fatalerweise birgt aber gerade dieser Wunsch die Gefahr, eine wahrhaftige Auseinandersetzung zu ersticken. Immer wieder erlebe ich, wie verkrampft durchaus gut gemeinte Aktionen ablaufen.

Verordnetes Gedenken aus Sorge, der Holocaust könnte in Vergessenheit geraten, funktioniert nicht. Jugendliche haben feine Sensoren für Peinlichkeiten, für falsche Töne und dafür, wie authentisch man ihnen begegnet. Sie können nicht auf Befehl Betroffenheit zeigen. Um in ihre Köpfe und Herzen zu drin

gen, müssen wir ihnen einen eigenen Anteil an der Geschichte geben. Keinen Anteil an Schuld, keinen Anteil an Scham oder Schande, aber einen Anteil an dem besonderen Bewusstsein, das aus unserer Erinnerung resultiert, an den wichtigen Lehren, die wir aus unserer Vergangenheit ziehen können.

Verehrte Anwesende, ich habe den Holocaust überlebt. Niemals kann ich vergessen, in welche Katastrophe der Mensch selbst seinesgleichen stürzen kann. So geht es an Tagen wie diesem natürlich um Erinnerung, aber vor allem auch um Bewusstsein, um Wissen um jene Gefahr, die wir kennen, seit wir begreifen mussten, dass es eine Illusion war zu glauben, der Zivilisationsprozess sei eine Einbahnstraße, eine Gefährdung, von der wir wissen, dass sie immer aktuell sein kann.

Das alle Generationen verbindende Schlüsselthema unserer Gesellschaft heißt Verantwortung, die uns allen auferlegt ist und die uns alle verpflichtet. Wir alle tragen Verantwortung für die im Grundgesetz verankerten Werte und Freiheitsrechte. Diese Botschaft müssen wir den jungen Leuten in der Bundesrepublik Deutschland mit auf den Lebensweg geben. Ihr Anteil an der Geschichte besteht in ihrem Anteil an der Verantwortung in der Gegenwart und ihrem Anteil an der Gestaltung der Zukunft und dem friedlichen Miteinander aller Menschen in unserer Gesellschaft.