Leider gewinnt man den Eindruck, dass es in der aktuellen Schuldebatte nicht nur um diese Zielsetzung geht, sondern auch um Verbandsinteressen und um die Zementierung bestehender Machtverhältnisse. Wie sehr bestimmte Lehrer die Kultur des Aussortierens verinnerlicht haben, ging kürzlich aus einem Leserbrief im „Flensburger Tageblatt“ hervor. Dort wurde behauptet, dass ein Grundschullehrer oder eine Grundschullehrerin häufig schon im zweiten Schuljahr wüsste, welche Kinder für die weiterführende beziehungsweise für die Hauptschule geeignet sind. Wer so denkt, wird Schule nicht verändern können. Da wird es auch nichts bringen, einfach mehr Geld oder mehr Lehrerstellen in das System Schule zu schleusen.
Aus Sicht des SSW geht kein Weg daran vorbei, den Zusammenhang von Inhalt und Struktur in der Schulpolitik mit einzubeziehen, wenn wir den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden wollen. Dass es sich dabei nicht um die nahtlose Fortsetzung der Bildungsdebatten aus den 70er-Jahren handelt, sollten mittlerweile alle wissen. Im Übrigen gehe ich jede Wette ein, dass wir unter allen Umständen in fünf Jahren eine völlig andere Schullandschaft in Schleswig-Holstein haben werden als heute. Dafür spricht nicht nur die Entwicklung in anderen Bundesländern, sondern auch die vom Landesrechnungshof angestoßene Debatte über die Wirtschaftlichkeit unserer Schulen. „Demographischer Wandel" lautet hier das Stichwort.
Umso wichtiger wird es sein, dass wir rechtzeitig die Weichen stellen. Sonst riskieren wir, dass wir an einem Bahnsteig stehen, an dem kein Zug mehr vorbeikommt. Dies sei auch in Richtung bestimmter Lehrerverbände gesagt, die anscheinend nicht begriffen haben, dass sie ihre Möglichkeit verspielen, die Schule der Zukunft mitzugestalten, wenn sie sich ausschließlich auf eine Zementierung des Status quo festlegen.
Um es noch einmal deutlich zu machen: Schulstrukturen stellen das Fundament von Schule dar. In einer ungeteilten Schule, wie wir sie wollen, können sich alle an Schule Beteiligten auf das konzentrieren, was letztlich entscheidend ist, nämlich auf die Frage, wie wir es schaffen, eine inhaltlich gute Schule zu bekommen.
Dass eine PISA-Diskussion anders verlaufen kann, zeigt uns das Beispiel unseres nördlichen Nachbarlandes, wo man - ich sagte es bereits - natürlich auch nicht mit allen PISA-Ergebnissen zufrieden ist. Die Schulstrukturen sind dort aber so flexibel, dass man sich ganz auf das konzentrieren kann, worauf es ankommt, nämlich Schule so zu gestalten, dass allen
Kindern gleichermaßen die Chance geboten wird, entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert und gefordert zu werden.
Für den SSW steht fest, dass wir den Einstieg in eine neue Schulpolitik nicht auf die lange Bank schieben können. Ein Einstieg ist aus unserer Sicht die Einführung einer sechsjährigen Grundschule. Wie aus allen drei Anträgen hervorgeht, unterstützen auch wir die Forderung nach einer besseren Verzahnung von Schule und Kindergarten.
Wenn es um die Verbesserung der Qualität von Schule geht, müssen wir uns auch mit Evaluation beschäftigen. Was wir aber nicht machen dürfen, ist, dass wir einfach weiter testen. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen und auch Kollege Kayenburg, vom vielen Wiegen wird das Schwein auch nicht fetter.
Ich bitte um etwas mehr Disziplin, was die Einhaltung der Redezeit angeht. - Ich erteile jetzt Frau Ministerin Erdsiek-Rave das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit Blick auf das, was heute Morgen der Sitzung vorausging, muss man noch einmal festhalten: Das beste Mittel gegen Rechtsextremismus und die beste Lebensversicherung für die Demokratie ist mehr Bildung,
und zwar mehr Bildung für alle, nicht nur für diejenigen, die ohnehin aus ausbildungsnahen oder leistungsorientierten Elternhäusern kommen. Das ist unser Ziel.
Ich habe hier schon mehrfach dargestellt, welchen Weg wir dabei gehen werden. Wir haben kurz- und mittelfristig ein umfassendes Reformpaket auf den Weg gebracht, das in den Schulen und in den Kindertageseinrichtungen bereits mit Erfolg umgesetzt wird: vom Bildungsauftrag für die Kindergärten über Parallel- und Vergleichsarbeiten, Standards, Schul-TÜV und so weiter. Über vieles gibt es Gott sei Dank mehr Gemeinsamkeit, als solche Debatten hier es vermuten lassen.
Wir sind davon überzeugt, dass mehr Bildung und mehr Bildungsgerechtigkeit nicht allein mit Umsteuerungen im System zu erreichen sind; wir brauchen dazu auch eine Reform des Systems. Für die Opposition steht das dreigliedrige Schulsystem sozusagen fest gemauert in der Erden, als sei es von Moses auf Gesetzestafeln gemeißelt. Aber der Lehm, aus dem das gebrannt ist, ist alt geworden, ist bröckelig geworden. Sie haben das nur noch nicht gemerkt. Wir halten im europäischen und internationalen Vergleich einfach nicht mehr stand, auch mit unserem System nicht mehr.
Ich treffe ja häufig europäische Kollegen; die halten das alles für absolut unmodern, was wir hier machen. Keines dieser Länder, auch wenn es im Schulsystem Probleme hat, kommt - auch nicht im Traum - auf den Gedanken, wieder in ein gegliedertes System zurückzufallen, das sie früher ja alle einmal hatten, aber in den 70er-, zum Teil schon in den 60er-Jahren umgestellt haben. Das müssen Sie doch schlicht und ergreifend einmal zur Kenntnis nehmen!
Dieses System führt zu viele Kinder auf den Holzweg. Daran ändern auch arrogante und beleidigende Ausdrücke wie „Deppendorf“ nichts, wie Sie sie benutzt haben, Herr Klug, auch keine plakativen Initiativen. Das ist so. Sie haben zu Recht die rote Karte für Ihre Initiative bekommen. Hätten Sie nicht gleich Ihre alte ideologische Brille aufgesetzt und sich im Land umgehört, würden Sie hören, was viele Menschen, gerade Eltern von schulpflichtigen Kindern, bewegt. Sie machen sich oft bereits in der ersten Klasse Sorgen, wenn die Kinder eingeschult werden, dass die Weichen für den Schulbesuch schon so früh gestellt werden. Aus dieser Sorge heraus lassen Sie ihre Kinder zurückstellen und noch nicht einschulen. Kinder entwickeln sich aber individuell. Das ist ein ganz wichtiges Thema, worüber viel zu wenig gesprochen wird.
Jungs entwickeln sich viel später und anders als Mädchen. Viele Eltern hier im Norden begreifen längeres gemeinsames Lernen als Chance, gerade weil sie über den Tellerrand hinausgucken.
Übrigens nehmen Sie nicht zur Kenntnis, dass nicht nur Eltern und Bildungspolitiker diese Aufgabe erkannt haben, sondern dass zunehmend auch Wirtschaftsexperten auf unserer Seite stehen. In der letzten Woche fand der IHK-Jahresempfang statt. Dort hat Herr Professor Sinn vom ifo-Institut gesprochen. Das ist bestimmt kein Sozialromantiker. Viele von Ihnen haben schon von ihm gehört. Er hat wörtlich gesagt - ich habe es mir gleich aufgeschrieben -:
„bin ich ganz bei Ihnen. Das dreigliedrige Schulsystem gehört abgeschafft. Es spiegelt den preußischen Ständestaat wider. Es ist absurd, 10-jährige Kinder aufzuteilen und festzulegen. Wir brauchen das Ausschöpfen jeder Begabung.“
Ich habe mich gewundert: Woher kennt er das, was ich gesagt habe? Auch Wirtschaftsexperten sehen das also so, vielleicht auch aus anderen Beweggründen: weil sie sich erhoffen, dass bei einer solchen Umgestaltung des Systems mehr Begabung ausgeschöpft wird. Es sind also nackte ökonomische Gründe. Sinn ist ein knallharter Marktwirtschaftler. Solche Leute versprechen sich davon anscheinend mehr und betrachten es gänzlich unideologisch. Ich finde es einen Fortschritt, dass wir so miteinander diskutieren können. Aber hier leider noch nicht. Doch ich sage Ihnen: Auch das kommt noch!
Unser Ziel ist also nicht die Einheitsschule. Manchmal denke ich zwar: Einheit ist ein positiver Begriff: Einheit von Herz und Kopf, von Kopf und Hand.
Sie meinen das aber diffamierend. Die Leute sollen an Sozialismus denken und Angst davor bekommen. Wir verstehen darunter mehr gemeinsames Lernen, so viel Differenzierung wie nötig, so viel Gemeinsamkeit wie möglich, die Orientierung am individuellen
Kind, das Fordern und Fördern jedes Einzelnen, überhaupt mehr Verantwortung für Erziehung und Bildung in der Gesellschaft insgesamt -
in den Familien, auch bei den Schülerinnen und Schülern, die manchmal Schule lediglich als Unterbrechung ihrer Freizeit betrachten. Nein, dieses Bewusstsein muss sich in Deutschland verändern. Es muss erkannt werden, wie wichtig Bildung ist, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum. Bis wir das hinbekommen, auch die Umgestaltung des Schulsystems, brauchen wir einen langen Atem. Ich halte nichts von kurzfristigen Plänen, alles umzukrempeln. Wir brauchen mindestens ein Jahrzehnt der Kooperation, der Veränderung von Lernmethoden, der Veränderung von Unterricht. Wir werden daran beharrlich, aber behutsam festhalten.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Beratung. Es ist Abstimmung in der Sache beantragt worden. Es gibt die Möglichkeit, alternativ abzustimmen, wenn niemand widerspricht. Ich weise darauf hin, dass zur alternativen Abstimmung drei Anträge vorliegen. Damit ein Antrag angenommen wird, muss er die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten. Wird alternative Abstimmung gewünscht? - Ja.
Dann lasse ich abstimmen. Ich fange beim jüngsten Antrag an. Das ist der Antrag der Fraktion der FDP, Drucksache 15/3962. Wer diesem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Dann lasse ich über den Antrag der Fraktion der CDU abstimmen, Drucksache 15/3959. Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Jetzt lasse ich über den Antrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abstimmen, Drucksache 15/3933. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Damit ist dieser Antrag angenommen, mit den Stimmen der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten des SSW.