Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 11. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste sowie die Zuhörer und Medienvertreter ganz herzlich.
Heute hat Kollege Dr. Luther Geburtstag. – Herzlichen Glückwunsch, Herr Luther! Alles Gute! Gesundheit!
Ich gratuliere außerdem der Frau Abgeordneten Dr. Steffi Schulze. Sie ist Professorin an der Hochschule Neubrandenburg geworden. – Herzlichen Glückwunsch! Alles Gute!
Am Montag, dem 7. Mai sind die folgenden vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:
1. Antrag der Fraktion der SPD und der Linksfraktion zum Thema: „Von Arbeit muss man leben können – gesetzlichen Mindestlohn einführen“,
2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Rot-roter Senat versucht halbherzig die Scherben seiner Jugendpolitik zu kitten – vernachlässigte Kinder leiden weiter!“,
3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „ICCSanierung jetzt! – auch hier ist eine Senatsentscheidung überfällig“,
4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „6,5 % höhere Strompreise – schützt der rot-rote Senat die Strommonopolisten oder endlich einmal die Berliner?“.
Ich rufe zur Begründung der Aktualität auf. Für die SPD ist Kollege Dr. Felgentreu gemeldet worden und hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letzten Sonnabend stand die Neuköllner SPD wie immer mit ihrem Infostand auf der Hermannstraße. Wie immer kam ein Wachmann vorbei und gab in aller Freundschaft zu erkennen, dass er nicht viel von der SPD hält. So etwas gibt es, leider.
Aber das normale Ritual, das wir mit diesem Wachmann haben, wurde doch durchbrochen. Er kam an den Info
stand heran, schaute sich an, was wir haben, und sagte: „Das ist ein wichtiges Thema!“ Dieses wichtige Thema ist der gesetzliche Mindestlohn.
Dies ist ein Thema, das den Berlinerinnen und Berlinern brennend auf der Seele liegt, das sie interessiert, weil es sie angeht, und es ist ein Thema, das deswegen auch von meiner eigenen Partei zum 1. Mai bundesweit thematisiert worden ist. Daher schlägt die Koalition es auch für die Aktuelle Stunde vor.
Es kann nicht sein, dass jemand arbeitet und von dem Geld, das er verdient, nicht leben kann. Der Postzusteller, der 40 Stunden pro Woche arbeitet und am Ende des Monats 800 € mit nach Hause nimmt, kann niemals eine Familie gründen. Da sind wir in der Verantwortung. Wir müssen uns um diese Leute kümmern. Wir können ihnen helfen, indem wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland einführen.
Die Aktualität dieses Themas hat auch die CDU erkannt. Sie hat sich aber bisher nicht entscheiden können, wie sie dazu steht. Die Standardantwort, die von Ihnen gern gegeben wird, ist der Kombilohn. Es ist eigentlich auch eine gute Idee, zu sagen, wenn jemand nicht genug Geld verdient, um davon sich und seine Familie ernähren zu können, kommt eben vom Staat noch etwas dazu. Dann müssen wir keine 400 € Arbeitslosengeld II zahlen, sondern zahlen stattdessen 200 € Lohnkostenzuschuss. Wir haben Zweifel an diesem Kurs, Herr Goetze, aus einfachen Gründen: Zum einen entsteht eine komplett neue Bürokratie. Gerade die CDU spricht in solchen Fällen immer gern von Staatssozialismus. Aber beim Kombilohn wollen Sie auf einmal die Sozialistischsten und den Sozialisten noch überbieten. Das können wir nicht nachvollziehen. Der zweite Punkt, mit dem wir Schwierigkeiten haben: Wie wollen Sie garantieren, dass im Ergebnis nicht viele Arbeitgeber sagen: Ist ja prima, da kann ich mein Lohnniveau noch ein bisschen weiter absenken; was fehlt, kommt von Vater Staat hinzu? – Dies ist eine Entwicklung, von der wir glauben, dass sie nicht steuerbar ist.
Deswegen sagen wir stattdessen: Wir brauchen eine einfache, gerechte Regelung, die jeder verstehen kann und die gleichzeitig verhindert, dass es zu Ausbeutung kommt. Das ist der gesetzliche Mindestlohn.
Natürlich wäre es vorzuziehen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Mindestlohn, der notwendig ist, für ihre jeweilige Branche untereinander in einem Tarifvertrag verabreden würden. Das ist im Prinzip das übliche Verfahren. Dieses ist immer richtig gewesen und hat sich bewährt. Aber es gibt heute in Deutschland eine Reihe von Branchen, wo das nicht mehr funktioniert: Friseure, Wachgewerbe, Postzusteller, in der Gastronomie. Es sind viel zu wenig Beschäftigte in den Gewerkschaften. Da gibt es keine Betriebsräte, keine Arbeitgeberverbände, und da kann kein Tarifvertrag verhandelt werden. Wenn
es doch einen gibt, dann erreicht er zu wenig Betriebe und hat nicht die Verbindlichkeit, die er haben müsste.
Auch aus diesem Grunde sind wir in der Verantwortung; hier können wir schützen, indem wir einen gesetzlichen Mindestlohn schaffen.
Ja, Herr Lindner, es gibt natürlich Leute, die das für wirtschaftsfeindlich halten, die meinen, die Arbeit werde zu teuer, der Mindestlohn vernichte Arbeitsplätze, fördere Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung – diese Argumente sind bekannt. Es gibt aber ein Land, das uns immer wieder als leuchtendes Beispiel für einen deregulierten Arbeitsmarkt, für hohe Flexibilität, Vollbeschäftigung und Freiheit in der Wirtschaft vorgehalten wird.
Nein, die USA meine ich, nicht Großbritannien! Die USA haben auch einen gesetzlichen Mindestlohn – und das nicht erst seit letztem Jahr, sondern seit 1938. Seit 1938 machen die USA gute Erfahrungen mit einem gesetzlichen Mindestlohn, und zu diesem Zeitpunkt ist im Kongress ein Gesetz in Beratung, diesen gesetzlichen Mindestlohn für die gesamten USA auf 7,25 $ zu erhöhen.
Aber Großbritannien ist auch ein gutes Beispiel – dort hat Tony Blair den gesetzlichen Mindestlohn 1999 eingeführt, und danach ist die Arbeitslosigkeit von über 6 Prozent auf unter 5 Prozent gesunken. Es gibt keinen Zusammenhang, es gibt keinen Widerspruch zwischen gesetzlichem Mindestlohn und einer wirtschaftsfreundlichen und arbeitsmarktfreundlichen Politik.
Für den gesetzlichen Mindestlohn gibt es noch keine politische Mehrheit in Deutschland, eine gesellschaftliche schon, eine politische aber noch nicht. Deswegen haben wir uns, Herr Dr. Lindner, auch gefreut, als wir feststellten, dass die FDP zum ersten Mal in sechs Jahren ein Verbraucherthema auf die Tagesordnung setzen und über die Strompreise in Berlin debattieren will. Dem wollen wir nicht im Wege stehen, das ist ein guter Ansatz: Wenn die FDP sich mal für etwas interessiert, das die gesamte Bevölkerung angeht, dann sollte man das auch fördern. Aus diesem Grunde haben wir uns dafür entschieden, das Thema Mindestlohn auf der Agenda zu behalten, darüber werden wir noch reden, aber heute können wir dem Antrag der FDP zustimmen und über die Strompreise reden.
Danke schön, Herr Dr. Felgentreu! – Für die Fraktion der CDU hat zur Begründung der Aktualität nunmehr Frau Demirbüken-Wegner das Wort. – Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zunahme von Kindervernachlässigung, Kinderverwahrlosung und Kindesmissbrauch ist heute ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Der eine oder andere Bürger draußen oder auch in diesem Hause könnte unter Umständen meinen, dass das ganze Thema medial überdramatisiert wird. Wer sich aber mit Fachleuten unterhält, wer in die Einrichtungen geht, die diese Kinder aufnehmen, wer vor Ort mit Sozialarbeitern, Pädagogen und medizinisch geschultem Personal diskutiert, wer vielleicht auch noch mit den Kindern spricht, der erhält ein sehr differenziertes, aber auch schauriges Bild davon, was in einem Teil unserer Gesellschaft heute los ist.
In den letzten fünf Jahren hat der rot-rote Senat den Etat für Hilfen zur Erziehung um knapp 40 Prozent gekürzt. Von 450 Millionen € auf 290 Millionen € haben Sozialdemokraten und demokratische Sozialisten die Mittel zur Betreuung sozial gefährdeter Familien heruntergefahren. Die Regierungsparteien, die in zwei Wahlkämpfen angetreten sind, „Berlin sozialer machen“ zu wollen, haben in einem elementaren Feld sozialer Verantwortung – rein fiskalisch orientiert – Kahlschlag betrieben. Nun stelle ich mich hier nicht hin und sage, dass genügend Geld die Probleme und menschlichen Katastrophen kleiner Lebewesen verhindert hätte – das wäre zu einfach, das wäre unseriös. Was mich aber auf die Barrikaden bringt, ist die Ignoranz, mit der Mitglieder des Senats von Berlin – in statistischen Vergleichen schwelgend – meinen, Kinderschutz abhaken zu können. Wenn der Senat meint, dass die bewährte und in vielen Fällen erfolgreiche Arbeit der freien Träger und Wohlfahrtsverbände bei der Kinder- und Jugendhilfe zu teuer sei, dann muss er sich fragen lassen, welche Alternative er entwickelt hat. Wenn der Senat meint, dass Kinderschutz allein aufgrund der räumlichen Nähe am besten bei den Bezirken angesiedelt sei, dann muss er den Bezirken die Möglichkeit geben, dieses Netzwerk – auch genügend Fachpersonal, beispielsweise für regelmäßige Hausbesuche – beleben zu können. Wenn der Senat der Meinung ist, dass im Stadtstaatenvergleich Berlin bei den Hilfen zur Erziehung gut abschneide, dann muss er auch Farbe dafür bekennen, dass es ihm nicht gelungen ist, die Sozialstruktur der Stadt auch nur im Ansatz Richtung Hamburg zum Beispiel zu heben.
Allein diese Widersprüche beschreiben, wie inkonsistent der Politikansatz dieser Landesregierung im Bereich Kinderschutz tatsächlich ist. Die Jugendhilfe in dieser Stadt verdient den Namen nicht, den die rot-roten Damen und Herren aus der Sicht der Haushaltskonsolidierung ihr geben. Andere Metropolen wie Frankfurt/Main oder das vom Finanzsenator so geliebte Hamburg haben die Mittel
in den letzten Jahren aufgestockt. Berlin hat gespart, das ist ein Armutszeugnis im doppelten Wortsinn – so hat eine große Berliner Tageszeitung das rot-rote Fiasko beim Kinderschutz kommentiert. Ich habe bereits vor einigen Wochen gesagt: Kinder sind Zukunft! Und ich wiederhole dies hier und heute noch einmal: Kinder sind Zukunft! Diese Zukunftsgestaltung braucht Ernsthaftigkeit. Gleiche Leistungen für immer weniger Geld – das mag vielleicht die Maxime einer Politik des „billig-will-ich“ sein. Wenn man aber – wie Senator Prof. Zöllner mit dem Netzwerk Kinderschutz – Erwartungen auf bessere und frühzeitigere Hilfen für Kinderschutzfälle weckt, dann kann man Kinder- und Jugendhilfe nicht als bloße Mangelverwaltung ausstatten.
Ein jeder, der in diesem Haus für sein Fachgebiet streitet, findet sich spätestens im dritten Satz seiner Argumentation mit der Forderung nach „mehr Geld“ wieder. Die jetzige Landesregierung mag mit ihrer gesamten Inaktivität manchmal den Eindruck des auf Sommerurlaub weilenden Weihnachtsmannes verbreiten. Sie ist aber nun mal nicht dieser Weihnachtsmann – wenngleich auch die Mantelfarbe wohl stimmt. Weil sie aber nicht der Weihnachtsmann, sondern die Führung ist – meist nur schwer zu erkennen –, muss sie Prioritäten setzen.