Protocol of the Session on November 9, 2006

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Ich eröffne die 2. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie alle, unsere Gäste und unsere Zuhörer ganz herzlich.

Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, möchte ich daran erinnern, dass heute der 9. November ist. Wohl kaum ein anderes Datum bündelt Ereignisse unserer Geschichte. Viermal im 20. Jahrhundert markierte der 9. November einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte, viermal wurde er zum Schauplatz von Ereignissen, die einen Aufbruch bedeuteten oder in den Abgrund führten.

Diese vier Ereignisse haben unsere Geschichte geprägt – im Guten wie im Bösen –, und sie wirken bis in die heutige Zeit hinein. Der 9. November ist deshalb ein Tag des Erinnerns und des Gedenkens geworden, aber auch Anlass für den wertenden Blick auf Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Nation.

Der 9. November 1918 brachte das Ende der Monarchie und des entsetzlichen Krieges mit Millionen von Toten und er ebnete der Demokratie in Deutschland den Weg. Hier in diesem Saal tagten in den Dezembertagen 1918 die Delegierten des Ersten Allgemeinen Arbeiter- und Soldatenkongresses – des Revolutionsparlamentes – und stellten mit ihrem Beschluss über die Einführung der repräsentativen Demokratie die entscheidenden Weichen für die erste deutschen Republik. Aber wir wissen auch heute nur zu gut, wie zerbrechlich die junge Weimarer Republik blieb, die nicht genug Zeit erhielt, um sich im Bewusstsein der Bevölkerung zu etablieren. Die Nazis versuchten schon am 9. November 1923 zu putschen, erfolglos.

Nach der Machtübernahme durch die Nazis brannten am 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen. Jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Deutsche Männer und Frauen jüdischer Abkunft und jüdischen Glaubens, Familien die seit Generationen in unserem Land einen festen Platz in der Gesellschaft hatten, Bürger die eine bedeutende Rolle im politischen und kulturellen Leben Berlins spielten, wurden brutal verfolgt und ermordet.

Schon an diesem Tag wurde offenbar, dass fünf Jahre nach der Machtübernahme durch die Nazis bei vielen in unserem Land das Mitgefühl für den Mitmenschen durch Teilnahmslosigkeit und Zivilcourage durch Angst ersetzt worden war. Einige waren couragiert, aber zu wenige wagten es, sich dem Unrecht und der Gewalt entgegen zu stellen. Wir alle wissen, wohin dieser Weg des Rassenwahns, des Hasses und der Gewalt führte.

Mit Trauer und mit Scham blicken wir heute auf das zurück, was damals in unserem Land geschah und was den europäischen Juden von Deutschen und im deutschen Namen angetan wurde.

Die Pogromnacht vom 9. November 1938 gehört zu den finstersten Kapiteln in der deutschen Geschichte. Deshalb ist es für mich umso beschämender, dass es 61 Jahre nach Ende der national-sozialistischen Gewaltherrschaft wieder eine Zunahme von antisemitischen Übergriffen, Angriffen auf wehrlose Menschen und Schändungen von jüdischen Friedhöfen und Gedenkstätten gibt. Diesen Übergriffen, der Verharmlosung der Verbrechen der Nazis, rechten Parolen und dem Einzug von rechtsextremen Parteien in Volksvertretungen müssen die demokratischen Parteien und unsere Zivilgesellschaft klar und entschlossen entgegentreten.

[Allgemeiner Beifall]

Nicht nur an Gedenktagen, sondern an jedem Tag müssen wir durch unser Handeln deutlich machen: Antisemitismus, Rassismus und Gewalt haben bei uns keinen Platz in der Gesellschaft. Wir haben die Lehren aus unserer Geschichte gezogen und wir müssen dies vor allem der jungen Generation mit unserem ganz praktischen Verhalten an jedem Tag vorleben. Das ist unsere Pflicht und unsere Schuldigkeit den Opfern gegenüber.

Eine der politischen Folgen des Nationalsozialismus war – das darf niemand vergessen – die jahrzehntelange Teilung unseres Landes und unserer Stadt. Und wieder sollte der 9. November ein Schicksalstag für die Deutschen werden. 38 Jahre nach dem Volksaufstand gegen die Zwangsherrschaft der SED am 17. Juni 1953, wurde am 9. November 1989 ein neues Kapitel unserer Geschichte aufgeschlagen. Im Vorfeld dieses Datums hatten die Menschen in der DDR für Freiheit, Reformen und Demokratie demonstriert. Das tapfere Polen hatte den Weg gewiesen. Gleichzeitig kehrten immer mehr – vor allem junge Menschen – dem kommunistischen deutschen Teilstaat, der seine Bürger nur mit Mauer und Stacheldraht im Lande halten konnte, den Rücken.

Als die SED-Führung am frühen Abend des 9. November 1989 die Lockerung der Beschränkungen für Reisen ankündigte, nahmen die Bürgerinnen und Bürger diese Ankündigung beim Wort und drängten in den nächsten Stunden an die Grenzübergänge. An diesem Abend fiel die Mauer, die so viele Opfer gekostet hatte. Viele Berlinerinnen und Berliner feierten in der Nacht am Ku’damm und am Brandenburger Tor nach 28 Jahren die neu gewonnene Freiheit. Wir waren das glücklichste Volk der Welt. Und wir können stolz darauf sein, dass wir die Freiheit und Einheit friedlich und ohne Blutvergießen gewonnen haben. Und bei aller Mühsal des Zusammenwachsens – wir sind immer noch ein glückliches Volk.

Dieser kurze Rückblick auf unsere Geschichte, zu dem uns das historische Datum des 9. November Anlass gibt, zeigt, welche dunklen Schatten auf unserer Vergangenheit liegen. Aber er macht auch deutlich, dass Demokratie und Freiheit, dass der Frieden und die Wahrung der Menschenrechte Bestandteile unserer kulturellen Traditionen als Nation sind. Und nicht zuletzt führt er uns vor Augen, wie schnell diese Werte, die uns wichtig sind, gefährdet sein können. Auch deshalb mahnt uns der

Präsident Walter Momper

sein können. Auch deshalb mahnt uns der heutige Tag, nicht nachzulassen in unserem Einsatz für Freiheit, für Demokratie, für Toleranz und für Gerechtigkeit.

Von allen fünf Fraktionen, die die fünf Parteien vertreten, die sich zusammengetan haben, um gegen Rechtsradikalismus und Intoleranz aufzutreten, ist der Antrag auf Annahme einer Entschließung eingebracht worden, und zwar unter der Drucksachennummer 16/0048:

Antrag auf Annahme einer Entschließung

9. November – Mahnung zur Verteidigung der freiheitlichen Demokratie und zur Wahrung der Menschenrechte!

Antrag der SPD, der CDU, der Linksfraktion, der Grünen und der FDP Drs 16/0048

Diese Entschließung ist von allen Fraktionen dieses Hauses einmütig eingebracht worden. Wer dieser Entschließung zum 9. November seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke schön! Das ist einstimmig, Gegenstimmen und Enthaltungen sehe ich nicht.

Ich danke Ihnen! Die Entschließung ist eine Verpflichtung für uns alle, so ist sie gemeint.

[Allgemeiner Beifall]

Wir kommen nun zum Geschäftlichen. Mit Wirkung vom 2. November 2006 hat die CDU-Abgeordnete Frau Katrin Schultze-Berndt ihr Mandat niedergelegt. Für sie ist Frau Emine Demirbüken-Wegner nachgerückt. – Herzlich willkommen, Frau Demirbüken-Wegner!

[Allgemeiner Beifall]

Am Montag sind vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke zum Thema: „Positive Entwicklung am Berliner Arbeitsmarkt – weniger Arbeitslose und mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Berliner Kulturlandschaft erhalten und stärken – Bund als Partner gewinnen“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Rot/Rot II: Stillstand statt Aufbruch!“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Keine Vision, kein Konzept, kein Mut – Rot-Rot murkst sich in die zweite Amtszeit!“.

Zur Begründung der Aktualität rufe ich die Redner auf. Für die SPD-Fraktion erhält Frau Radziwill das Wort. – Bitte schön, Frau Radziwill!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Etwas aktuelleres als den Berliner Arbeitsmarkt und insbesondere die positiven Trends, die sich entwickelt haben, kann ich mir

nicht vorstellen. Wir tun gut daran, diese positiven Entwicklungen zu würdigen und gemeinsam darüber zu reden.

Die CDU möchte gerne über die Kulturlandschaft reden – das ist uns auch wichtig; wir haben die Kultur deswegen bei dem Regierenden Bürgermeister angesiedelt.

[Gelächter bei der FDP]

Es gibt sicherlich auch noch viele weitere Gelegenheiten, darüber zu reden.

Bei der Vorbereitung auf diese Sitzung habe ich mich mit dem Wort „murksen“ beschäftigt. Im Duden wird es als altdeutsches Wort benannt, umgangssprachlich für „ungeschickt oder unordentlich arbeiten“. Schaut man sich die aktuelle Lage auf dem Berliner Arbeitsmarkt an, so kann von einer ungeschickten oder unordentlichen Arbeit keine Rede sein.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Gelächter bei der FDP – Dr. Martin Lindner (FDP): Der 11. November kommt erst noch!]

Der Konjunkturmotor ist angesprungen – das erkennen wir –, die sinkenden Arbeitslosenzahlen sind statistisch belegt, und wir schaffen viele neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Das ist sehr wichtig, und wir sollten diese Entwicklung gemeinsam würdigen!

Berlin bietet optimale Standortvorteile, und das ist – aus meiner Sicht – in der Wirtschaft angekommen. Die Arbeitslosenzahl befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit 2000, und in den letzten anderthalb Jahren ist sie um rund 2 % auf aktuell 16,5 % gesunken. Das ist eine erfreuliche und zu würdigende Entwicklung, über die wir gemeinsam reden sollten.

[Rainer-Michael Lehmann (FDP): Aber doch nicht durch Sie!]

Die Zahl der Existenzgründungen ist gestiegen – so auch bei den Unternehmern nichtdeutscher Herkunft. Das Konjunkturklima wird von den Unternehmern positiv dargestellt. Die Bewertung der Unternehmen, wie ihre Zukunft aussieht, ist recht positiv, und ich bin zuversichtlich, dass noch weitere Arbeitsplätze geschaffen werden.

Diese Aktuelle Stunde ist auch aus folgendem Grund besonders wichtig: Wenn wir die Berliner Situation mit einigen anderen Bundesländern vergleichen, ist festzuhalten, dass im letzten Jahr – von Sommer 2005 bis Sommer 2006 – z. B. im schwarz-gelb regierten NordrheinWestfalen die Arbeitslosigkeit nur um 0,7 % gesunken ist. Im CDU-regierten Hessen hat sie sich nur um 0,4 % reduziert.

[Dr. Martin Lindner (FDP): Schauen Sie sich mal an, von welchem Niveau die kommen! – Heiterkeit bei der FDP und den Grünen]

Berlin mit Rot-Rot schafft Arbeitsplätze, die Situation ist nicht so schlecht!

Ich will noch einmal auf das Wort „murksen“ zurückkommen. Ich kann nur festhalten: Gerade die wirtschaftsnahen Parteien sollten die positiven Trends erkennen und nicht selbst herummurksen. Wenn man Arbeitsplätze schaffen möchte, ist es auch wichtig, ein positives Klima zu schaffen, es zu benennen. Sie und insbesondere die Grünen tun mit den permanent negativen Reden der Berliner Situation überhaupt nichts Gutes.

[Zuruf von Özcan Mutlu (Grüne) – Volker Ratzmann (Grüne): Das ist alles Bundespolitik!]

Ich fordere Sie auf, die Augen zu öffnen, die positiven Trends in Berlin zu sehen, sie zu würdigen und damit auch die Unternehmen und Unternehmer mehr zu unterstützen. – Ich bitte um Ihre Zustimmung!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Danke schön, Frau Radziwill! – Für die Fraktion der CDU hat nunmehr der Kollege Braun das Wort! – Bitte schön, Herr Braun!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wowereit! Es ist keine 7 Wochen her, da galten Sie als Gewinner der Berliner Wahlen, wenn auch mit dem kleinen Schönheitsfehler, fast 60 000 Stimmen gegenüber der Wahl 2001 verloren zu haben. Die auflagenstärkste Zeitung spekulierte auf ihrer Titelseite, Sie seien als nächster Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers im Gespräch.