Protocol of the Session on January 13, 2011

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Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 75. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie und unsere Gäste, Zuhörer sowie die Medienvertreter ganz herzlich. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich eine traurige Pflicht zu erfüllen und bitte Sie, sich zu erheben.

[Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.]

Am 24. Dezember 2010 ist die frühere Abgeordnete Ingeborg Renner im Alter von 80 Jahren verstorben. Mit Ingeborg Renner verliert Berlin eine engagierte Politikerin, die über 63 Jahre in der Landes- und Kommunalpolitik unserer Stadt tätig war.

Ingeborg Renner wurde am 24. März 1930 in Berlin geboren und ging in Pankow zur Schule. Nach dem Abitur studierte sie an der Pädagogischen Hochschule, gab dieses Studium aber vor der Geburt ihres zweiten Kindes auf. Sie zog insgesamt drei Kinder groß.

Von 1967 bis 1981 gehörte sie als Mitglied der SPDFraktion dem Abgeordnetenhaus von Berlin an. Während ihrer 14-jährigen Zugehörigkeit zum Landesparlament setzte Ingeborg Renner sich besonders für Bildung und soziale Gerechtigkeit ein. Sie vertrat ihre Fraktion in den Ausschüssen für Schulwesen und für Jugend, im Ausländerausschuss und im Petitionsausschuss. Außerdem war sie Mitglied des Präsidiums und sechs Jahre im Rundfunkrat des Sender Freies Berlin tätig.

Ingeborg Renner war durch ihren sozialdemokratischen Vater geprägt, der für sein mutiges und aufrechtes Eintreten für die Demokratie während der Herrschaft zweier Diktaturen das Bundesverdienstkreuz erhalten hatte. Auch Ingeborg Renner engagierte sich ab 1947 in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Sie diente ihrer Partei unter anderem als stellvertretende Kreisvorsitzende auf dem Wedding, als Kreis- und Landesdelegierte und von 1957 bis 1969 als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Frauen.

Ingeborg Renner arbeitete von 1959 bis 1962 als Bürgerdeputierte und von 1962 bis 1967 als Bezirksverordnete für den Bezirk Wedding. Als Mitglied im Schulausschuss, im Jugendwohlfahrtsausschuss und als Mitglied des Sozialbeirats der Bezirksverordnetenversammlung beteiligte sich Ingeborg Renner am Aufbau des Gemeinwesens in ihrem Wohnbezirk. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Abgeordnetenhaus war sie dann ab 1981 noch mal sieben Jahre in der Bezirksverordnetenversammlung Wedding aktiv.

Ingeborg Renner war Mitglied der GEW, der Arbeiterwohlfahrt und der Naturfreunde. Über 30 Jahre war sie Vorstandsmitglied des Deutschen Freidenkerverbandes, des heutigen Humanistischen Verbandes, und auch jahre

lang Vorsitzende und Vorstandsmitglied dieses Verbandes.

Ingeborg Renner war keine laute, aber eine zielstrebige Arbeiterin in der Politik. Soziale Gerechtigkeit war das Ziel dieses Arbeiterkindes vom Wedding. Geprägt durch die Not und das Elend der Kriegs- und Nachkriegsjahre setzte sie sich pragmatisch und zäh für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen ein. Wegen Ihrer nüchternen Art und wegen ihres Pragmatismus war sie über die Parteigrenzen hinaus anerkannt und hochgeschätzt.

Wir nehmen Abschied von unserer ehemaligen Kollegin Ingeborg Renner und gedenken ihrer mit Hochachtung.

[Gedenkminute]

Sie haben sich zu Ehren von Ingeborg Renner erhoben. Ich danke Ihnen!

Bevor wir zum Geschäftlichen der heutigen Sitzung kommen, möchte ich dem Kollegen Florian Graf in zweifacher Hinsicht gratulieren: zum einen zur Geburt des Sohnes Justus Alexander und zum anderen zur erfolgreichen Promotion als Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. – Herzlichen Glückwunsch, Herr Dr. Graf!

[Allgemeiner Beifall]

Ein herzlicher Glückwunsch geht auch an den Kollegen Sayan von der Linksfraktion zur Geburt von Zwillingstöchtern, die Maha und Sara heißen. – Herzlichen Glückwunsch! Alles Gute für Mutter und Kinder!

[Allgemeiner Beifall]

Am Montag sind folgende vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD und der Linksfraktion zum Thema: „S-Bahnverkehr sichern, Kunden entschädigen: Bund und Bahnkonzern müssen ihrer Verantwortung gerecht werden“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Keine Zeit für Stillstand im Senat – Berlin im zweiten S-Bahnkrisenjahr, mit zu wenig Lehrern an den Schulen, hoher Arbeitslosigkeit und wieder Winterchaos auf den Gehwegen!“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Zwei Jahre S-Bahnchaos sind genug! Wowereit und S-Bahn können es nicht!“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Chaotische Zustände an Berliner Schulen: Lehrermangel, Notstundenpläne, Unterrichtsausfall und übervolle Klassen. Wann hört der Bildungssenator mit seiner Schönrednerei auf und lässt den Schulen endlich mehr Freiheit?“.

Zur Begründung der Aktualität erteile ich zunächst einem Mitglied der Koalitionsfraktionen das Wort, und zwar ist

mir die Kollegin Matuschek gemeldet und hat hiermit das Wort. – Bitte schön, Frau Matuschek!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Verkehrsangebot der S-Bahn – oder das Nichtangebot der S-Bahn – beschäftigt die Berlinerinnen und Berliner zurzeit am allermeisten. Deshalb hat die rot-rote Koalition folgendes Thema vorgeschlagen, und auch in dieser Reihenfolge darf ich es noch einmal deutlich benennen: S-Bahnverkehr sichern, Kunden entschädigen: Bund und Bahn müssen ihrer Verantwortung gerecht werden.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Und genau darum geht es.

Die Anhörung am Montag hat leider keine Lösung gebracht. Deshalb müssen wir heute hier zum wiederholten Male darüber reden. Durch die Ereignisse seit Anfang Dezember beim S-Bahnverkehr mussten wir alle erkennen, dass die Anstrengungen der Berliner S-Bahn nicht ausreichten und ausreichen, um ein stabiles Nahverkehrsangebot zu erbringen. DB Netz, die Verantwortlichen für Schiene, Weichen und Signale, sind nicht in der Lage, die Gleise benutzbar zu halten, übrigens nicht nur in Berlin, sondern bundesweit, wenn es mal ein bisschen schneit oder mal zu heiß wird. Der Bahnkonzern, der uns aus den letzten Jahren immer nur Erfolgsmeldungen über Gewinnerzielung und internationale Aktivitäten beim Einkauf von Verkehrs- und Logistikunternehmen berichtete, hat nichts Eiligeres zu tun, als der S-Bahn Berlin eine zusätzliche Gebühr für das Abstellen von Fahrzeugen auf den Schienen aufzuerlegen. Da fragt man sich schon, welche Glaubwürdigkeit die von Bahnvertretern wie Herrn Homburg schon vor einem Jahr und nun von Herrn Grube als Bahnchef wiederholten Äußerungen haben, wenn sie behaupten, dass der Konzern zur Bewältigung der S-Bahnprobleme kein Geld und keine Mühe scheuen wird.

Dabei verkennen wir nicht, dass Vieles insbesondere durch die neue Geschäftsführung der Berliner S-Bahn unternommen wurde, um die Situation zu verbessern und die jahrelangen Missstände aufzuarbeiten. Aber von einem sicheren und vollständigen Angebot sind wir weit entfernt. Die Situation wird nicht besser, wenn wir täglich die im Einsatz befindlichen Fahrzeuge zählen oder die Weichentechnik im Detail erforschen – das langweilt die Fahrgäste und ist im Übrigen auch nicht unsere politische Aufgabe.

Unsere politische Aufgabe ist es hingegen zu benennen, was vom Deutsche Bahn Konzern und vom Eigentümer Bund sichergestellt werden muss, um den vertraglichen Verpflichtungen und letztlich den Erfordernissen der öffentlichen Daseinsvorsorge gerecht zu werden – nämlich Fahrzeuge auf die Schiene zu bringen, nicht erst 2017, sondern jetzt!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Der Bund als Eigentümer der Deutschen Bahn AG muss diesem Unternehmen die strategische Ausrichtung auf den Personenverkehr auferlegen, nicht nur Verbesserungen für den ICE-Verkehr anmahnen, wie wir es heute der Presse entnehmen durften, sondern vor allem auch Verbesserungen für den Nahverkehr. Der Bund als Eigentümer hat jahrelang zugesehen – und tut dies noch heute! –, dass der Schienennahverkehr in der Bundeshauptstadt von einem bundeseigenen Unternehmen DB AG kaputtgespart wurde. Er sieht jetzt zu, dass die DB AG nicht bereit ist, diese Unternehmensstrategie grundsätzlich zu ändern, sondern den einzig Schuldigen bei der Fahrzeugindustrie auszumachen sucht. Der Bund lässt zu, dass die ganze Branche der Eisenbahnfahrzeugindustrie auf diese Art und Weise diskreditiert wird und dass das innerbetriebliche Missmanagement der DB AG unter Hartmut Mehdorn bis heute nicht aufgearbeitet wurde.

[Vereinzelter Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Der Bund lässt außerdem zu, dass die Bundesbehörde Eisenbahnbundesamt zusätzlich bremst, weil Zulassungsverfahren für die Beseitigung erkannter technischer Mängel unerträglich lange dauern. Diese Zulassungsverfahren allein sind schon wegen ihrer Länge ein Missstand.

Auf diese Zusammenhänge werden wir heute verweisen, vor allem aber – und damit komme ich zum Schluss – wollen wir der Deutschen Bahn AG noch einmal von dieser Stelle deutlich sagen: Die Kunden haben ein Anrecht auf Entschädigung, die Kunden nehmen lange Umwege, Wartezeiten und Erschwernisse in Kauf, die ca. 400 000 Abonnenten in Berlin haben alle bezahlt, tun das bis heute und bekommen nicht das, wofür sie bezahlt haben. Wir verlangen eine Entschädigungsleistung für diese Kunden,

[Zuruf von Oliver Friederici (CDU)]

nicht erst im nächsten Winter, sondern so schnell wie möglich und mindestens in der Höhe wie im vergangenen Jahr!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Danke schön, Frau Kollegin Matuschek! – Bevor ich dem Kollegen Henkel das Wort erteile, bitte ich darum, dass der Lautstärkepegel im Saal etwas gesenkt wird. Alle, die wichtige Mitteilungen zu machen haben, mögen diese bitte draußen vornehmen – das macht es für uns alle leichter zu reden und zuzuhören.

Es hat nun der Kollege Henkel, der Fraktionsvorsitzende der CDU das Wort. – Bitte schön, Herr Henkel!

[Zuruf von Lars Oberg (SPD)]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen heute mit Ihnen über den Stillstand in unserer Stadt reden, den niemand mehr übersehen kann. Es lässt uns nicht kalt, wenn der Zorn der Eltern wächst, weil es an den Schulen drunter und drüber geht, wenn die Menschen zu Tausenden gegen Flugrouten demonstrieren, weil sie sich von Ihrer Politik getäuscht fühlen, und es lässt uns nicht kalt, wenn ältere Menschen auch im letzten Dezember wieder vor schlecht geräumten Gehwegen kapitulieren mussten.

[Beifall bei der CDU]

Das, was in Berlin derzeit passiert, widerspricht allen Ansprüchen, die die Bürger an eine funktionierende Infrastruktur haben dürfen, und es widerspricht allem, was in unserer Stadt einstmals als Normalität galt.

Dabei ist die S-Bahn sicher das zentrale Thema, zumindest darüber scheint es heute – mit Ausnahme einer Fraktion – Übereinstimmung zu geben. Wir müssen darüber reden, denn die S-Bahn ist das Sinnbild für das, was in den letzten zehn Jahren unter Ihrer Führung, Herr Wowereit, kaputtgegangen ist. Es ist ein Desaster ohnegleichen, was Hunderttausenden Fahrgästen seit über zwei Jahren täglich zugemutet wird.

[Beifall bei der CDU und den Grünen]

Es ist ein Desaster, wie diese Berliner Institution systematisch zugrunde gerichtet worden ist. Frau Matuschek! Sie haben eben wieder auf die Bahn eingeprügelt, auch auf den Renditekurs des Unternehmens. Es mag ja sein, dass das, was Herr Mehdorn, was Herr Schröder und auch Frau Künast damals unterstützt haben, ursächlich ist für viele der heutigen Probleme,

[Zuruf von Wolfgang Brauer (Linksfraktion)]

aber es erklärt nicht das singuläre Fiasko hier in Berlin, denn warum haben Städte wie München und Stuttgart nicht die gleichen Probleme wie hier in der Hauptstadt? Warum bekommen andere Städte das hin, was in Berlin nicht funktioniert?

[Beifall bei der CDU, den Grünen und der FDP – Zuruf von Uwe Doering (Linksfraktion)]