Protocol of the Session on March 3, 2011

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Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 78. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie alle, unsere Gäste, die Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich eine traurige Pflicht zu erfüllen und bitte Sie, sich zu erheben.

[Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.]

Das Abgeordnetenhaus von Berlin trauert um den ehemaligen Regierenden Bürgermeister und Abgeordneten Dietrich Stobbe. Er starb nach tapfer ertragener langer und schwerer Krankheit am 19. Februar 2011 im Alter von 72 Jahren.

Mit Dietrich Stobbe hat Berlin einen herausragenden Politiker und außergewöhnlichen Menschen verloren, dem das Wohl unserer Stadt Berlin immer am Herzen lag.

Dietrich Stobbe wurde am 25. März 1938 in Weepers – das ist in Ostpreußen – geboren. Nach dem Krieg wurde Niedersachsen seine neue Heimat. Am Athenäum in Stade machte er 1958 sein Abitur. Danach studierte er Politische Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin und schloss 1962 mit dem Diplom ab.

1960 trat Dietrich Stobbe in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein. Er arbeitete in der Reinickendorfer und später in der Charlottenburger SPD als Kreisdelegierter, Landesdelegierter, Bundesparteitagsdelegierter und schließlich ab 1967 als Mitglied des SPD-Landesvorstandes. Von 1962 bis 1963 war er Kreisgeschäftsführer der SPD in Charlottenburg. 1979 wurde Dietrich Stobbe zum Landesvorsitzenden der Berliner SPD gewählt. Dieses Amt hatte er bis 1981 inne.

Dietrich Stobbe gehörte dem Abgeordnetenhaus von Berlin von 1967 bis 1981 an. Über vier Wahlperioden hinweg bestimmte er die politischen Entscheidungen im Berliner Parlament mit, seit 1967 als Parlamentarischer Geschäftsführer und ab 1970 als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Als Abgeordneter lag der Schwerpunkt seiner Arbeit im Hauptausschuss, außerdem war er Mitglied im Wirtschaftsausschuss und im Ältestenrat.

1973 wurde Dietrich Stobbe vom damaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz zum Senator für Bundesangelegenheiten berufen und vom Parlament gewählt. Am 2. Mai 1977 wurde Dietrich Stobbe zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt. Dieses Amt übte er bis zu seinem Rücktritt am 15. Januar 1981 aus. Bei der Neuwahl der von ihm an diesem Tage vorgeschlagenen Senatoren gab es auch als Folge des Garski-Skandals keine Mehrheit in der Koalition. Die Situation an diesem

Tag war wohl die bitterste politische Erfahrung im Leben Dietrich Stobbes.

Von 1983 bis 1990 vertrat Dietrich Stobbe als Abgeordneter Berlin im Deutschen Bundestag. Er engagierte sich im Auswärtigen Ausschuss und insbesondere nach dem Mauerfall im Ausschuss Deutsche Einheit, wo er als Berichterstatter seiner Fraktion zuständig war für die Herstellung der deutschen Einheit. Jetzt realisierte sich sein Traum von der Einheit seiner Stadt Berlin, und er konnte daran an führender Stelle mitwirken.

Nach seiner Zeit als Politiker ging er in die Privatwirtschaft, in eine renommierte Beratungsgesellschaft. In dieser Tätigkeit war er sehr erfolgreich und erwarb sich hohes Ansehen.

Neben seinem jahrzehntelangen parteipolitischen Engagement brachte sich Dietrich Stobbe in vielfältiger Weise in Vereine und Organisationen unserer Stadt ein. Er war Mitglied in der Friedrich-Ebert-Stiftung, im AugustBebel-Institut, der Arbeiterwohlfahrt, im Verein gegen Vergessen – für Demokratie und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit sowie in der AtlantikBrücke. Im Kuratorium der Stiftung zur Förderung der Evangelischen Akademie zu Berlin hatte er zeitweise den Vorsitz. Die Gesellschaft der Freunde der Berliner Philharmonie konnten genauso auf seine Unterstützung rechnen wie der Museumsverein des Deutschen Historischen Museums, der Freundeskreis der Bernhard-HeiligerStiftung oder der Förderverein Berlinische Galerie.

Dietrich Stobbe hat über viele Jahre als Parlamentarier, als Senator und als Regierender Bürgermeister von Berlin an der Gestaltung der Politik für unsere Stadt unmittelbar und nachhaltig mitgewirkt. Unvergessen ist sein Engagement in den 70er-Jahren für die Sicherung und Verbesserung des Transitverkehrs von und nach Berlin (West), und als Regierender Bürgermeister leitete er die Hinwendung zur inneren Stadtpolitik in der durch die Mauer geteilten und industriell schwächer werdenden Stadt ein. Die große Preußen-Ausstellung und die Internationale Bauausstellung waren sein Werk.

Dietrich Stobbe war immer leidenschaftlich mit Berlin verbunden. Mit seinem Mut und seiner außenpolitischen Erfahrung, seiner Aufrichtigkeit und Bescheidenheit hat er sich weit über alle Parteigrenzen hinweg hohes Ansehen erworben.

Das Abgeordnetenhaus von Berlin trauert mit seiner Frau und seinen Söhnen. Wir werden uns stets mit Dank und Hochachtung an Dietrich Stobbe erinnern.

Das Abgeordnetenhaus von Berlin trauert auch um Doris Schneider, die dem Landesparlament von 1985 bis 1995 angehörte. Doris Schneider starb am 21. Februar 2011 nach langer schwerer Krankheit im Alter von 76 Jahren. Mit ihr verliert Berlin eine engagierte Politikerin, die über

20 Jahre in der Landes- und Kommunalpolitik Berlins tätig war.

Doris Schneider wurde am 9. September 1934 in Berlin geboren. Nach dem Abitur studierte sie an der Freien Universität Berlin Geschichte und Germanistik. 1960 machte sie ihr Staatsexamen. Sie war verheiratet und zog zwei Kinder groß. Durch die Arbeit als Elternsprecherin der Heiligenseer Erpelgrund-Schule begann ihr Engagement im Bildungsbereich und in der Bildungspolitik.

Doris Schneider trat 1972 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei und widmete sich vorrangig schulpolitischen Themen. Sie diente ihrer Partei jahrelang als stellvertretende Kreisvorsitzende in Reinickendorf und als Kreis- und Landesdelegierte. Ab 1982 war sie Mitglied des Landesvorstandes und bis 1986 auch des Parteirates der SPD. Als Mitglied des Kreis- und Landesvorstandes der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen setzte sie sich für die Gleichstellung der Frauen in der Politik ein.

Doris Schneider war von 1979 bis 1985 Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung Reinickendorf. Von 1985 bis 1995 gehörte sie als Mitglied der SPD-Fraktion dem Abgeordnetenhaus von Berlin an. Während ihrer 10jährigen Zugehörigkeit zum Landesparlament lag der Schwerpunkt ihrer Arbeit im Bereich der Bildungspolitik. Sie vertrat ihre Fraktion im Ausschuss für Schulwesen, in dem sie auch Vorsitzende war, und in den Ausschüssen für Jugend und Familie und für Wissenschaft und Forschung.

Doris Schneider war Mitglied der Arbeiterwohlfahrt und engagierte sich in verschiedenen Kuratorien – unter anderem des Lette-Vereins. Ihre humanistische Bildung und große Belesenheit machten sie, auch nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik, zu einer interessanten Gesprächspartnerin.

Wir nehmen Abschied von unserer ehemaligen Kollegin Doris Schneider und gedenken ihrer mit Hochachtung. Sie wird unvergessen bleiben.

[Gedenkminute]

Meine Damen und Herren! Sie haben sich zu Ehren von Dietrich Stobbe und Doris Schneider von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen!

Bevor ich zum Geschäftlichen komme, möchte ich zunächst in den Reihen der Fraktion der SPD die Kollegin Claudia Tietje begrüßen, die für die ausgeschiedene Frau Susann Engert nachgerückt ist. – Herzlich willkommen, und auf gute Zusammenarbeit!

[Allgemeiner Beifall]

Dann möchte ich Frau Seibeld in unserer Mitte begrüßen. Ich hatte ihr schon zur Geburt ihres Kindes gratuliert. Nochmals alles Gute für Mutter und Kind – für den Vater natürlich auch! Schön, dass Sie wieder da sind!

[Allgemeiner Beifall]

Die Fraktion der CDU zieht ihren Antrag auf Annahme einer Entschließung über „Für einen Baubeginn des Humboldt-Forums im Jahr 2011 – Den Beschluss des Deutschen Bundestages für die Neugestaltung des Schlossareals im Zentrum der Hauptstadt umsetzen!“, Drucksache 16/3351, zurück. Der Antrag wurde in der 68. Sitzung am 1. Juli 2010 federführend an den Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr und mitberatend an den Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten überwiesen.

Am Montag sind folgende fünf Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Prävention und Strafverfolgung – konsequent gegen Gewalt im ÖPNV“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Die Gewalt in Berlins öffentlichem Nahverkehr nimmt immer mehr zu – der Senat versagt seit Jahren bei der Sicherheit in Bussen, U- und S-Bahnen“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Von wegen familienfreundlich! Nach zehn Jahren Rot-Rot fehlen Tausende Kitaplätze in Berlin.“,

4. Antrag der Linksfraktion zum Thema: „Prävention und Strafverfolgung – konsequent gegen Gewalt im ÖPNV“,

5. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Rot-rote Bildungsreformitis hat Kinder und Eltern völlig aus den Augen verloren – Kitaplatzmangel, Betreuungsdefizite bei den Eigenbetrieben, Hortlücke für Fünft- und Sechstklässler, Beratungsdefizite und Verunsicherung bei der Anmeldung an den weiterführenden Schulen!“.

Zur Begründung der Aktualität erteile ich zunächst einem Mitglied der SPD das Wort. Frau Hertel spricht für die SPD und hat hiermit das Wort. – Bitte schön, Frau Hertel!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktualität dieses Themas ist sicherlich von niemandem von der Hand zu weisen. Die Tageszeitungen der letzen Tage und Wochen waren voll; da hieß es: „Die Brutalität an der Haltestelle – Berlin hat nun sein München“, „Die U-Bahnschläger jagten zweites Opfer“ oder „Berlins Straßen und der Verlust der Sicherheit“.

Es gab mehrere Anschläge und Vorfälle, nicht nur den in Lichtenberg, der allerdings den Anfang markierte. Diese Fälle unterscheiden sich im Ort des Geschehens und in der Anzahl der Täter, nicht aber in ihrer Hinterhältigkeit, ihrer Feigheit und vor allem leider nicht in der Brutalität der Täter. Wir stehen wieder einmal vor dem Phänomen, dass Menschen – teilweise aus nichtigem oder aus gar keinem Anlass oder etwa weil sie sich langweilten – andere Menschen treten, prügeln, schlagen. Es fällt mir schwer, diese drei Begriffen zu wählen, weil ich der Auffassung bin, sie umfassen noch nicht das, was dort pas

siert ist, sie sind mir fast nicht stark genug. Bis dahin haben wir Einigkeit im Haus, über alle Fraktionen hinweg.

Herr Asmuth hat am 18. Februar in der „taz“ formuliert: „Neuer Fall – alte Debatte“. Recht hat er, der Mann! Geradezu pawlowartig wurden von der Opposition – wieder einmal – mehrere Forderungen vorgebracht: mehr und längere Videoaufzeichnungen, mehr Polizei, Polizei wieder auf die Bahnhöfe und in die Bahnen und – wieder einmal aus der Mottenkiste geholt – die Bürgerpolizei. Nicht eine, nicht einmal alle vier Forderungen zusammen würden das Phänomen, um das es hier geht, beheben oder beseitigen können. Der ÖPNV ist – das ist naturgemäß – ein Ort relativ hoher Anonymität. Die hohe Fahrgastfluktuation, die im ÖPNV herrscht, verschärft dieses Phänomen noch. Dieser Anonymität sind sich einige Täter bewusst, und sie stellt ein Dorado für diese Täter dar – das gilt für jene, die Sachbeschädigungen im Sinn haben, für Straftäter, die Diebstähle begehen wollen und vor allem für Straftäter, die im Betäubungsmittelbereich tätig sind. Sie kann ich fassen, sie kann ich mit Videoaufzeichnungen verfolgen, sie kann ich mit mehr Polizei und mit entsprechend anders bezogenen Einsätzen ergreifen, wie die Berliner Polizei es seit 2006 tut und wie die seitdem kontinuierlich rückläufigen Fallzahlen es bestätigen. Wen wir nicht fassen, das sind die Täter, die auf den Bahnhöfen pöbeln, die in den Bussen und Bahnen zuschlagen und dann verschwinden. Das sind die Täter, um die es uns geht und um die es den Fahrgästen geht.

Gegen derlei Täter und Vorfälle können wir auf zwei Wegen vorgehen: zum einen mit der viel gerühmten, viel zitierten Zivilcourage, zum anderen mit mehr Personal. Es ist mir dabei völlig egal, ob es mehr Personal der BVG ist oder ob es einfach mehr Personen sind. Wichtig ist, dass diese beiden Mittel die einzigen sind, mit denen wir dieses Phänomen wirklich bekämpfen können.

Die Aktualität des Themas wird von niemandem bestritten. Es ist ein immer wieder mal aktuelles Thema, in Berlin aber – Gott sei Dank! – keines, das kontinuierlich aktuell ist. Wir werden uns heute für ein anderes Thema für die Aktuelle Stunde entscheiden, aber ich bin mir sicher, dass wir diese Fälle im entsprechenden Ausschuss seriös diskutieren werden. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Danke schön, Frau Kollegin Hertel! – Für die CDUFraktion hat Herr Dr. Juhnke das Wort. – Bitte schön, Herr Dr. Juhnke!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Busfahrer werden attackiert, Fahrgäste lebensgefährlich verletzt – gerade die brutalen Übergriffe in den letzten Wochen machen wieder einmal deutlich,

dass die Sicherheit im öffentlichen Personennahverkehr weiterhin notleidend ist. Es kann nicht sein, dass bei Berlinerinnen und Berlinern, bei den Älteren, mittlerweile aber auch bei den Jüngeren die Angst zum ständigen Begleiter wird, wenn sie mit dem Bus oder der Bahn unterwegs sind.

[Beifall bei der CDU]

Der Ruf nach mehr Sicherheit ist ein Dauerton in dieser Stadt, doch Rot-Rot überwindet seine eigene Sprachlosigkeit nur dann, wenn das Kind wieder einmal in den Brunnen gefallen ist. Dabei wäre es gut für Berlin, dieses Thema auch hier im Plenum intensiver zu diskutieren. Genau wie aber bei der Frage der Sicherheit – die Koalition täuscht nur an und beendet anschließend die Diskussion, indem sie gegen das eigene Thema stimmt. Was soll das?

[Beifall bei der CDU]