Protokoll der Sitzung vom 25.10.2000

Die 52 Artikel gliedern sich in verschiedene Kapitel, nämlich: Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte, Justizielle Rechte und Allgemeine Bestimmungen. Wichtig ist, dass diese Grundrechte sich nur im Rahmen der EU-vertraglich eingeräumten Kompetenz bewegen dürfen, also keine Grundlage für weiterführende EU-Aktivitäten sind.

Zur Frage der Osterweiterung wird mein Kollege Hauk nachher noch einiges sagen und darauf eingehen.

(Zuruf des Abg. Brechtken SPD)

Man muss sehen, dass dies im gesamten Block besprochen werden muss und auch besprochen werden sollte.

Insgesamt gesehen zeigt sich das Jahr 1999 als eine Zeit integrationspolitischer Fortschritte, aber auf der anderen Seite auch als eine Zeit von Krisenerscheinungen. Es begann die Endphase der Währungsunion. Sie ist unterschiedlich zu betrachten. Insbesondere waren der Vertrag von Amsterdam und auch die Konferenz unter deutscher EU-Präsidentschaft nicht unbedingt als Erfolg zu werten. Gerade die Agenda 2000 hatte große Hoffnungen geweckt, aber sie hat auch Enttäuschungen mit sich gebracht, vor allem Enttäuschungen bei unseren Landwirten. Ich sage: Wer unseren Bauern helfen will, der muss auch etwas für die Landwirte tun. Diese Enttäuschung war berechtigt, denn sie betrifft die Gruppe, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten am stärksten von der Entwicklung abgehängt worden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Meine Damen, meine Herren: „Der Nationalstaat ist für die Lösung der großen Probleme zu klein und für die Lösung der kleinen Probleme zu groß“, hat Bell gesagt.

(Abg. Döpper CDU: Dem kann man nur beipflich- ten! – Abg. Krisch REP: Muss das stimmen?)

In Anlehnung daran möchte ich abschließend festhalten: Wir als Landespolitiker wollen ein Europa der Regionen. Wir wollen ein subsidiäres Europa. Wir wollen, dass Europa vom Kopf auf die Beine gestellt wird. Wir wollen, dass Zuständigkeiten wieder bei den Ländern verbleiben. Dazu gehört auch ein Europa der „Vier Motoren“, ein Europa der Regionen und ein föderales Europa. Das sollten wir stärken. Dem dient auch der Bericht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Rapp REP: Dünner Beifall!)

Das Wort erhält Herr Kollege Dr. Caroli.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht über die Europapolitik der Landesregierung umfasst 166 Seiten und ist, wie bereits gesagt worden ist, teilweise überholt. Deshalb empfiehlt es sich, einige wichtige Aspekte der aktuellen Europapolitik heute zu betonen.

Im europäischen Integrationsprozess vollziehen sich bedeutende Entwicklungen, die in ihrer Konsequenz den deutschen Föderalismus auf den Prüfstand stellen. Die Landesregierung und die Mehrheit dieses Parlaments tun aber so, als ob Baden-Württemberg nur am Rande berührt sei. Das zeigt auch die heutige Präsenz.

(Abg. Hauk CDU: Da schauen Sie einmal bei Ih- nen selbst!)

Natürlich. Das gilt für alle.

(Abg. Hauk CDU: Ach so!)

Es wird höchste Zeit, dass der Landtag bei anstehenden europapolitischen Entscheidungen, die Länderinteressen berühren, verstärkt einbezogen wird. Dies gilt insbesondere für die Osterweiterung, die Grundrechtecharta und für die Diskussion zur Kompetenzabgrenzung und zur Daseinsvorsorge als regionaler Zuständigkeit.

Wie wollen Sie denn, meine Damen und Herren von der Landesregierung und der Mehrheitsfraktion, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für Europa erwärmen, wenn Sie das Thema selbst nicht ernst genug nehmen? Die europäische Demokratie kann sich doch nur entfalten, wenn die Bürgerinnen und Bürger an ihr mitwirken. Tatsache ist aber, dass wir im Falle der europäischen Institutionen bei der Bevölkerung überwiegend auf Gleichgültigkeit und Ablehnung stoßen.

(Abg. Rapp REP: Wundert Sie das?)

Ich komme gleich darauf. – Dies hängt damit zusammen, dass in der europäischen Politik Persönlichkeiten als Identifikationsfiguren weitgehend fehlen, aber im Besonderen damit, dass im Bewusstsein der Öffentlichkeit ein Wirrwarr

an Zuständigkeiten statt einer klaren Kompetenzabgrenzung vorherrscht.

(Beifall des Abg. Brechtken SPD)

Die so genannte Politikverdrossenheit hat wesentlich damit zu tun, dass viele Menschen kaum mehr zuordnen können, wer welche Entscheidung aufgrund welcher Kompetenz trifft.

(Abg. Brechtken SPD: So ist es!)

Dies verringert das Interesse an gelebter Demokratie und die Bereitschaft, an ihr teilzunehmen.

Diese Konfusion kann nur beseitigt werden, wenn sich die Europäische Union auf ihre ureigenen Aufgaben, zum Beispiel die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder die europäische Strukturpolitik, besinnt und endlich ein Aufbau der Kompetenzen nach dem Subsidiaritätsprinzip von unten nach oben angestrebt wird.

Wir meinen deshalb, dass die Regierungskonferenzen zur anstehenden Osterweiterung dazu genutzt werden sollten, Kompetenzen zwischen Europa, den Nationen und den Regionen klarer abzugrenzen.

(Beifall der Abg. Brechtken und Capezzuto SPD)

Subsidiarität heißt übrigens, dass staatliche Entscheidungen möglichst von der Ebene getroffen werden sollen, die nahe an der Bevölkerung ist. Für Europa gilt demgemäß, dass keine weiteren Hoheitsrechte, die nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung dem Land zustehen, vom Bund an Europa abgegeben werden dürfen.

(Beifall der Abg. Maurer und Capezzuto SPD)

Bei der Mitwirkung an europäischen Angelegenheiten ist der Landtag von Baden-Württemberg bisher von untergeordneter Bedeutung. Die SPD-Landtagsfraktion will aber einen Föderalismus, der nicht nur über die Landesregierung im Bundesrat getragen wird. Wir wollen die maßgebliche Beteiligung der Volksvertretung unseres Landes.

(Abg. Brechtken SPD: Sehr gut!)

Wir wollen ausführliche und frühzeitige Informationen sowie Gelegenheit zur inhaltlichen Befassung bei der Vorbereitung von Bundesratsangelegenheiten und allen Themen, die Baden-Württemberg als Teil der Europäischen Union betreffen.

(Abg. Hauk CDU: Sie glänzen meistens durch Schweigen!)

Herr Kollege Hauk, auf das Niveau dieses Einwurfes muss ich doch wohl nicht eingehen.

(Abg. Hauk CDU: In fast allen Ausschussberatun- gen ist es aber so!)

Überfällig ist die Einrichtung eines Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten. Wir halten es für angebracht, dass vor Abschluss der laufenden Regierungskonferenz deutsche Vertreter der Kommission und die badenwürttembergischen Europaabgeordneten zu einer Sitzung

des Landtags eingeladen werden und dass mit ihnen eine Diskussion über Kompetenzabgrenzung und die Sicherung der Daseinsvorsorge als regionale Zuständigkeit geführt wird.

(Beifall des Abg. Brechtken SPD)

Wir plädieren im Übrigen für eine Stärkung des Ausschusses der Regionen. Wenn er nämlich über seine Beraterrolle nicht hinauskommt, wird es nichts mit einer horizontalen Koordination in Europa.

Außerdem wäre es an der Zeit, über eine Veränderung im Bereich der Gesetzeskompetenzen zugunsten der Landesparlamente nachzudenken.

Noch einige Bemerkungen zur Daseinsvorsorge als regionaler Zuständigkeit. Mit Erleichterung kann die neueste Mitteilung der Kommission zur Kenntnis genommen werden, wonach eine absolute Vereinbarkeit von hohen Standards bei der Bereitstellung von Leistungen der Daseinsvorsorge mit den EG-Wettbewerbs- und -Binnenmarktregeln festgestellt wird. Fern von ideologischen Scheuklappen wollen wir, dass öffentliche Einrichtungen die Bürgerinnen und Bürger als Kunden betrachten und diesen bessere Leistungsangebote unterbreiten.

Es geht um eine gesicherte Grundversorgung mit Dienstleistungen wie Information, Kultur, um Zugang zu Geld und Kredit – heute keine Selbstverständlichkeit mehr, wenn man in die USA schaut – und zu sozialen Diensten, um eine kostengünstige und zuverlässige Energieversorgung, um Post und Telekommunikation. Dies kann sowohl durch öffentliche Einrichtungen als auch durch private Anbieter sichergestellt werden. Wir halten allerdings nichts von einseitiger Ausrichtung auf ökonomischen Wettbewerb zulasten des sozialen Zusammenhalts und der Solidarität.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir können und sollten nicht alle Lebensbereiche kommerzialisieren, weil wir damit zugleich freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeiten diskreditieren würden. Bundespräsident Johannes Rau hat Recht, wenn er sagt:

Eine Gesellschaft, in der es schick ist, von allem den Preis zu kennen und von nichts den Wert, macht in Wirklichkeit Verluste.

Lassen Sie mich nun auf einen zweiten Schwerpunkt der Europapolitik aus der Sicht des Landes zu sprechen kommen. Meine Damen und Herren, der vom Konvent unter Leitung von Altbundespräsident Professor Roman Herzog beschlossene Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist für uns ein Meilenstein auf dem Weg zu einem vereinten Europa. Die ökonomische und politische Union erweitert sich mit diesem Schritt zu einer europäischen Wertegemeinschaft.

Zugleich sehen wir die Charta als einen wichtigen Beitrag auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung. Es ist gelungen, die klassischen Freiheits- und Bürgerrechte mit dem Schwerpunkt Menschenwürde mit modernen Grundrechten wie der informationellen Selbstbestimmung und dem Datenschutz zu verbinden. Gleichzeitig sind wichtige soziale Rechte aufgenommen worden.

Eine sinnvolle Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten ist wesentliche Leitlinie. Außerdem begründet die Charta keine neuen Kompetenzen der EU, wie es in Artikel 50 – Anwendungsbereich – festgelegt ist.

Es ist mir deshalb unverständlich, dass sich die Landesregierung im Europabericht gegen die Aufnahme sozialer Rechte ausgesprochen hat. Soziale Grundrechte für Europa sind doch gerade im Hinblick auf die Osterweiterung besonders wichtig, um unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einem drohenden Sozialdumping zu schützen. Grundrechte wie das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen, der Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung und das Recht auf Zugang zum unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst – um nur einige zu nennen – sind überwiegend Standard und müssen von den Beitrittsländern akzeptiert werden.

Statt herumzumäkeln, sollten wir die Charta in der Bevölkerung bekannt machen und um Zustimmung werben. Wir werden die Landesregierung auffordern, im Bundesrat der Grundrechtecharta zuzustimmen und sich für die frühestmögliche Aufnahme der Grundrechtecharta in die Europäischen Verträge einzusetzen. Ein unionsweites Referendum über die Charta könnte die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit diesen Grundwerten nachhaltig unterstützen.