Protokoll der Sitzung vom 10.06.2010

Allerdings können wir Europa nicht ständig auf eine breitere Basis stellen – Stichworte Binnenmarkt und Währungsunion – und gleichzeitig so tun, als würde es die alten Nationalstaa ten noch geben. Man kann nicht beides haben, meine Damen und Herren.

Die Eurokrise macht deutlich: Innen- und Außenpolitik sind immer weniger voneinander zu trennen. In einem vereinten Europa, in einer Währungsunion sitzen wir alle in einem Boot. Meine Damen und Herren, deswegen ist die europäische Ebe ne zunächst einmal von Zahlen und Bilanzen geprägt, wie wir sie uns bisher kaum vorstellen konnten. Sie ist geprägt vom Leben auf Pump, sie ist geprägt von gefälschten Bilanzen.

Aber diese Krise ist noch viel schlimmer. Das Hauptproblem Europas ist derzeit nämlich, dass wir auf europäischer Ebene keine Staatschefs mehr haben, die sich Europa zu einer Her zensangelegenheit gemacht haben. Deswegen ist auch in Deutschland – ich brauche mir nur als Beispiel anzusehen, wie die derzeitige Bundeskanzlerin in Sachen Europa agiert – der Rückfall besonders krass.

Herr Kollege Döpper, bevor Sie jetzt einen Zwischenruf ma chen – ich habe gesehen, Sie setzen schon an –,

(Vereinzelt Heiterkeit)

wende ich mich speziell an die CDU-Fraktion: Unter dem bei Ihnen sehr beliebten Helmut Kohl war die CDU eine europä ische Partei.

(Abg. Albrecht Fischer CDU: Das ist sie noch im mer!)

Mittlerweile, Herr Kollege, ist es so

(Abg. Jochen Karl Kübler CDU: Fischer heißt er!)

das weiß ich; ich kenne ihn schon länger als du –, dass bei spielsweise eine Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen das Handeln einer Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene be stimmt und nicht mehr das, was aus Gründen der europäischen Einigung unbedingt notwendig gewesen wäre. Das war ein riesiger Fehler. Das ist ein Grund, warum wir heute so dick in der Krise stecken.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Franz Untersteller GRÜNE: Sehr gut! – Zuruf von der CDU: Nein!)

Ich meine das wirklich ernst. Wenn wir so weitermachen und in dieses rein nationalstaatliche Denken zurückfallen, ist die europäische Idee bald tot. Das kann es schlichtweg nicht sein.

Über viele Jahrzehnte hinweg haben wir uns, hat sich Deutsch land in der Außenpolitik immer dadurch definiert, dass es ei ne europäische Außenpolitik, eine europäische Integration gab. Das dürfen wir nicht aufgeben, egal, ob im Saarland, in Rheinland-Pfalz oder in Nordrhein-Westfalen oder sonst wo gewählt wird. Wenn etwas notwendig ist, um die europäische Integration, die europäische Idee voranzubringen, muss dies und nichts anderes das Handeln bestimmen.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Franz Untersteller GRÜNE: Sehr gut! – Abg. Jochen Karl Kübler CDU: Spärlicher Beifall!)

Ich betone es noch einmal: Ansonsten hat sich diese europäi sche Idee eines Tages erledigt, und wir haben einen reinen Binnenmarkt.

Die Finanzkrise zeigt es: Wenn eine Gesellschaft versucht, sich nur durch materielle Werte, nur durch Ökonomie zu de finieren, dann wird diese Gesellschaft scheitern. Deswegen

muss es etwas geben, was über den Binnenmarkt hinausreicht. Es muss eine europäische Idee geben.

Ich sage es noch einmal: Bei allen Problemen, die uns Hel mut Kohl innenpolitisch hinterlassen hat, hat er, was die eu ropäische Idee anbelangt, Europa außenpolitisch weit über das hinaus vorangebracht, was Sie heute denken. Da sollten Sie wieder hinkommen.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Hagen Kluck FDP/ DVP: Was war mit Genscher? – Zuruf des Abg. Karl Zimmermann CDU)

Ja, die FDP soll es auch noch geben. Aber darüber wollen wir jetzt nicht diskutieren.

(Zuruf von der CDU – Abg. Winfried Scheuermann CDU: Ein Grüner lobt den Kohl-Beitrag!)

Meine Damen und Herren, kein Land in Europa profitiert von der Europäischen Union so sehr wie Deutschland.

(Zuruf des Abg. Albrecht Fischer CDU)

Aber davon abgesehen profitieren wir in großem Maß von dieser Union.

Deswegen, meine Damen und Herren, ist es auch notwendig, dass wir politisch eine Führungsrolle in Europa spielen.

(Abg. Hans Heinz CDU: Das machen wir doch!)

Nein, das machen wir leider nicht. – Darauf, meine Damen und Herren, müssen wir auch vonseiten der Bundesländer drängen.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Wir haben doch Herrn Minister Reinhart! – Gegenruf des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Unser Außenminister!)

Herr Kollege Blenke, es reicht nicht, wenn wir in Sonntags reden immer die europäische Idee hochhalten, uns unter der Woche aber hauptsächlich mit Abwehrkämpfen beschäftigen.

(Abg. Thomas Blenke CDU: Sie haben mich noch nie sonntags reden hören!)

Manchmal halten Sie auch samstags oder donnerstags eine Rede. Sonntagsreden kann man bekanntlich jeden Tag halten.

Meine Damen und Herren, bevor wir jetzt über Wochentage reden: Es geht um die europäische Idee.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Du sollst den Feier tag heiligen!)

Jetzt müssen wir vorsichtig sein, sonst hole ich Herrn Kretschmann.

(Heiterkeit – Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Aber bitte nur subsidiär!)

Ja, subsidiär, genau. – Herr Kollege Kluck und Herr Kolle ge Noll, wir sind uns doch sicherlich einig, dass der Vertrag von Lissabon ein Meilenstein in der europäischen Geschich te war.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der Grünen – Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Jawohl!)

Er stärkt das demokratisch legitimierte Parlament, so, wie wir das schon seit Langem gefordert haben. Er anerkennt und stärkt die Rolle der Mitgliedsstaaten, und er unterstützt uns auch, indem wir mehr Rechte bekommen, zumindest insofern, als die Nationalparlamente mehr Mitspracherecht haben. Es gibt sozusagen ein Vorwarnsystem. All diese Dinge sind durch den Vertrag von Lissabon gestärkt worden. Deswegen ist das ein großer Schritt und eine wichtige Maßnahme gewesen.

Meine Damen und Herren, im Vertrag von Lissabon wurde zudem festgeschrieben – ob das auch immer eingehalten wird, bleibt dahingestellt; es ist unsere Aufgabe, das zu überprüfen –, dass die EU nur dann Maßnahmen ergreift, wenn sie der Überzeugung ist, dass diese Maßnahmen sinnvoller und bes ser sind als das, was auf nationaler Ebene an Maßnahmen er griffen werden kann.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Genau!)

Es ist unsere Aufgabe, Herr Kollege, das immer wieder nach zuprüfen.

Wir sollten uns aus Gründen einer falsch verstandenen Sub sidiarität nicht immer wieder in Abwehrkämpfe begeben. Es geht nicht an, dass wir, sobald ein Grünbuch vorliegt, sofort alles, was darin enthalten ist, ablehnen und sagen: Nein, wir lassen uns da nicht hineinreden. Vielmehr sollen wir konst ruktiv mitarbeiten, um ein möglichst gutes Ergebnis für ganz Europa zu erzielen. Es ist doch klar, dass wir in einem verein ten Europa in vielen Fragen einheitliche Standards brauchen. Das geht nur, wenn wir uns konstruktiv einbringen.

Es kann nicht sein, dass wir eine Blockadepolitik machen – so, wie das einige Länder jetzt tun –, beispielsweise im Zu sammenhang mit der Bodenschutzrichtlinie. Jetzt kann man damit argumentieren, wir machten das alles in Deutschland schon. Wo aber liegt dann das Problem mit einer solchen Richtlinie auf europäischer Ebene? Wir machen möglicher weise wirklich schon alles Erforderliche, aber in vielen ande ren Ländern wird der Boden nicht so geschützt wie bei uns. Deswegen wäre es dringend notwendig, dass eine Boden schutzrichtlinie kommt. Ich möchte Sie bitten, Ihren Wider stand dagegen endlich aufzugeben. Die Europäische Kommis sion wird dabei im Übrigen auch nicht lockerlassen. Aber hie rüber wird nun schon seit 2002 diskutiert, und es ist noch im mer nichts verabschiedet worden.

Etwas anderes ist es beispielsweise, wenn es um den Richtli nienentwurf zum Verbraucherrecht geht. Das würde bedeuten, dass wir durch Europa niedrigere Standards hätten als zuvor, und das kann nicht in unserem Interesse sein. Im Umkehr schluss heißt das für uns: Immer dann, wenn wir höhere Stan dards haben, müssen diese auch zukünftig erhalten bleiben können, damit wir keinen schlechteren Verbraucherschutz be kommen als zuvor.

(Abg. Albrecht Fischer CDU: Und damit Wettbe werbsnachteile erhalten bleiben!)

Herr Kollege, insgesamt ist es aber gut, dass sich die EU bei vielen Themen einmischt. Denn wir brauchen diese Standards.

Heute lässt sich der Kollege Reinhart in der „Stuttgarter Zei tung“ feiern.

(Abg. Thomas Blenke CDU: Herr Minister Reinhart!)

Er ist aber doch trotzdem noch Kollege. Ist er etwa kein Ab geordneter mehr?

Er lässt sich dafür feiern, dass die EU beim Thema „Bildung in Hochschulen“ und bei der Hochschulpolitik auch weiter hin nicht mitredet. Natürlich ist es ein hohes Gut, dass wir hier unsere Bildungspolitik machen, Herr Kollege. Aber anderer seits müssen wir doch sagen: Zehn Jahre, nachdem auch die ses Bundesland dem Bologna-Prozess zugestimmt hat, kann man doch nicht mehr so tun, als ob man im Bildungsbereich keine europäischen Standards brauchen würde. Wir sind doch in dem, was wir machen, schon längst viel weiter als mit dem, was wir teilweise sagen.

Deswegen: Stützen Sie die europäische Idee, wann immer Sie das können, dann kommen wir wieder voran. Ich möchte noch einmal betonen: Das ist nicht nur wichtig, weil wir die euro päische Idee hochhalten müssen, sondern weil wir in Deutsch land wie kein anderes Land von dieser EU profitieren. Wenn Ihnen kein anderes Argument genügt: Dieses müsste Ihnen doch ausreichen.