Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und meine Herren! Ich eröffne die 49. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, erteilt.
Meine Damen und meine Herren, Gedenktage bieten Gelegenheit, sich durch Nachdenken über die Vergangenheit aus den Verstrickungen des Alltags zu lösen. So sah es der erste Bundespräsident, Prof. Dr. Theodor Heuss. Das gilt im Besonderen für den 9. November, der ein symbolträchtiger Tag in der deutschen und in der europäischen Geschichte ist. Der 9. November steht für widersprüchliche Ereignisse und Gefühle, für Absturz und Aufschwung, für Bedrückung und Befreiung gleichermaßen. „Wird nicht“, fragt der Historiker Peter Steinbach, „im 9. November der Charakter des 20. Jahrhunderts als Epoche radikal vollzogener Umbrüche sichtbar?“ Die tiefere Bedeutung der Ereignisse, die mit diesem Tag verbunden sind, fordert in der Tat im Sinne von Theodor Heuss zur Nachdenklichkeit über den Tag hinaus auf. Auch für den Bayerischen Landtag ist dies ein Anlass, das Gedenken mit dem Nachdenken über die ethischen Wurzeln unserer Demokratie zu verbinden.
Unter diesem Motto steht die heutige Gedenkstunde. Wir konnten einen renommierten Historiker und Politikwissenschaftler gewinnen, der den geistigen Bogen über die verschiedenen geschichtlichen Wegmarken spannen und über das Thema „Der 9. November – ein historischer Schicksalstag“ sprechen wird. Herr Prof. Dr. Karl Dietrich Bracher ist dafür geradezu prädestiniert; er hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk schwerpunktmäßig mit den Grundfragen des Zusammenlebens in demokratischen und totalitären Gesellschaften befasst. Seiner scharfsichtigen Analyse verdanken wir unter anderem Standardwerke über den Untergang und den Neubeginn der Demokratie in Deutschland. Als engagierter Verteidiger der freiheitlichen Demokratie hat er sich immer wieder zu Wort gemeldet und in die öffentliche Diskussion eingegriffen. Im vergangenen Jahr hat Herr Prof. Bracher das Kolloquium aus Anlass des 50. Jahrestages der Debatte und Abstimmung über das Grundgesetz im Bayerischen Landtag mit seinen Beiträgen bereichert. Im Namen des Hauses und persönlich heiße ich Herrn Prof. Bracher willkommen, der einstweilen in der Diplomatenloge Platz genommen hat.
Ich begrüße ebenso alle Gäste dieser Gedenkstunde, besonders den Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Herrn Dr. Dr. Simon Snopkowski, und die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinden in München und Oberbayern, Frau Charlotte Knobloch.
Sie repräsentieren in ganz persönlicher Weise alle Menschen, für die der 9. November wahrhaft zu einem Schicksalstag geworden ist.
Meine Damen und meine Herren, es ist ein bemerkenswerter Zufall der Geschichte, dass sich im 9. November die Geschicke unseres Landes wie in einem Brennglas zu bündeln scheinen. Aber die Geschehnisse, urteilte der Historiker Fritz Stern, waren nicht auf unsere Grenzen beschränkt, sie „ereigneten sich alle in einem europäischen Kontext“. Einen umfassenden Rundblick in dieses historische Panorama wird Herr Prof. Bracher darbieten. Ich meinerseits kann mich daher mit einem knappen Resümee des Gedenk-Charakters begnügen.
Zwei Novembertage kennzeichnen das schwierige Ringen um den demokratischen Verfassungsstaat. Bereits im 19. Jahrhundert, am 9. November des Jahres 1848, wurde der Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung, Robert Blum, in Wien von reaktionären Attentätern erschossen. Wie man die Wirkung des Verfassungswerks der „Paulskirche“ auch beurteilen mag, von ihm ging jedenfalls eine ideelle Strahlkraft aus: An vielen Orten und in vielen Sprachen erscholl damals der Ruf nach Grundrechten, nach Partizipation, nach Freiheit. Diese Ideale und Visionen haben als „Erbe der Paulskirche“ in der Verfassungsgeschichte bleibenden Bestand. Die „Paulskirche“ ist zudem ein Leitsymbol für das Streben der Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit, das sich erst nach über 140 Jahren, am 9. November 1989, voll erfüllen sollte.
70 Jahre nach der Paulskirchenversammlung, am 9. November des Jahres 1918, rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Berliner Reichstag die Republik aus. Dieses Ereignis gilt gemeinhin als „Geburtsstunde“ der ersten deutschen Republik, die mit dem Namen der Stadt Weimar verbunden ist. Hier beschloss die Nationalversammlung im August 1919 die Weimarer Verfassung. „Weimar“ beschreibt heute eine Republik, der es letztlich an überzeugten Demokraten und am Mut der wenigen Demokraten gefehlt hat. Von Beginn an war es nur eine Minderheit, die bereit war, entschlossen für die Staatsform und die Werte der Demokratie einzutreten. Die Weimarer Republik wurde – so schrieb Prof. Bracher – „jedermanns Vorbehalts-Republik“. Fehlendes Engagement, innere Distanz und passives Resignieren einer großen Mehrheit führten letztlich dazu, dass zu allem entschlossene Gegner und Feinde der Demokratie die republikanische Verfassung für ihre Zwecke missbrauchen konnten. Die Freiheit, die sie bieten wollte, schlug um in Unfreiheit und Diktatur.
Damit bin ich bereits bei den Gefährdungen der Demokratie, die ebenfalls mit dem Datum „9. November“ in Verbindung stehen. Der Umsturzversuch, den Verfassungsfeinde am 9. November 1923 von rechts organisierten, war ein Menetekel. Die demokratischen Kräfte waren zwar noch in der Lage, die Gefahr abzuwenden; aber der darauf folgende Prozess gegen die Anführer bot nach den damaligen Worten des bayerischen Landtagsabgeordneten Dr. Wilhelm Hoegner den „Nationalsozialisten die beste Wahlpropaganda, die man sich denken konnte“. Hoegner wusste, wovon er sprach, denn er war seinerzeit Mitberichterstatter im Untersu
Der 9. November 1938 ist eines der schlimmsten und beschämendsten Daten in der deutschen Geschichte.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in Deutschland jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Kinder und Greise, Frauen und Männer durch die Straßen gehetzt, misshandelt, in Konzentrationslager deportiert und ermordet. „Uns wurde bewusst“, so sagt der jüdisch-italienische Schriftsteller und ehemalige Auschwitz-Häftling Primo Levi, „dass unserer Sprache die Worte fehlen, um diese Beleidigung, diese Zerstörung des Menschen zu beschreiben.“
Wir erinnern uns in dieser Stunde auch der ehemaligen Abgeordneten des Bayerischen Landtags, die Repressalien ausgesetzt waren, verfolgt wurden oder ihre Heimat verlassen mussten. Der vor kurzem verstorbene ehemalige Reichstagsabgeordnete Josef Felder war mahnender Zeitzeuge, wehrhafter Bekenner und eine angesehene Symbolfigur für offenes Eintreten gegenüber antidemokratischer Gewalt.
Als aufrechte Demokraten haben die Überlebenden des NS-Regimes nach 1945 beim Neuaufbau unseres Staates ein Vorbild für die Verteidigung von Recht, Gerechtigkeit und humaner Würde gegeben. Sie haben die ethischen Grundlagen gelegt, auf denen wir weiterbauen können.
Ein Mark-, ja geradezu Schluss-Stein in der Architektur unserer Demokratie ist der 9. November 1989. Nach Jahrzehnten der willkürlichen Trennung ist das vereinte Deutschland in die Mitte des Kontinents zurückgekehrt. Das war keine zwangsläufige Entwicklung, sondern dem Mut der Bürger im Osten Deutschlands und ihren friedlichen Protesten gegen das marode DDR-Regime zu verdanken. Die Menschen in der damaligen DDR haben, so drückt es Joachim Gauck aus, „allen Deutschen das Eintrittsbillet in den Kreis jener Nationen gelöst, die eine Freiheitstradition haben. Sie haben uns eine neue Würde gegeben.“ Die Ereignisse in den ersten Novembertagen des Jahres 1989 gaben der Geschichte unseres Landes eine neue Wendung. Sie hatten aber ebenso eine Dimension, die weit über Deutschland hinausreicht. Hier wurde augenfällig deutlich, dass auch für das zusammenwachsende Europa Menschenrechte, Stabilität, Frieden und Freiheit als verbindende Grundelemente unverzichtbar sind. Für diese europäische Vision steht im Kern der 9. November 1989.
Damit schließt sich gleichsam der Kreis der geschichtlichen Ereignisse und Leitmotive, die mit dem 9. November in Zusammenhang gebracht werden. Dieses Datum ist ein kalendarisches Memento dafür, dass Freiheit und Demokratie „kein Besitz für immer“ sind, sondern nur so weit und so lange gesichert sind, wie wir sie bewusst leben und aktiv verteidigen.
Mit Dankbarkeit können wir feststellen, dass sich die Rahmenbedingungen unserer Demokratie grundlegend von der historisch-politischen Situation der Weimarer
Republik unterscheiden. Das Grundgesetz – ich zitiere noch einmal Herrn Prof. Bracher – „gewährt eben nicht die absolute, schließlich selbstmörderische Freiheit à la Weimar, sondern erstrebt die Einbindung der Menschenund Bürgerrechte in ein wertbezogenes... Regierungssystem.“ Von dieser Einsicht haben sich die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung und des Grundgesetzes leiten lassen. Sie hatten ein festes Wertefundament im Auge, das sich in der Präambel unserer Bayerischen Verfassung von 1946 widerspiegelt. Darin ist als Lehre aus den Erfahrungen der Vergangenheit die feste Absicht und Einsicht verankert, dass es keine Alternative zur Ordnung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats gab und auch in Zukunft nicht geben durfte. Um die Wiederholung der Weimarer Verhältnisse auszuschließen, wurde der neue Staat auf einem festen Wertefundament aufgebaut: auf der Achtung vor der Würde des Menschen, auf der Freiheit, auf Rechtsgleichheit und Verantwortung des Einzelnen für das Gesamtwohl.
Diese Normen gilt es gegen Anfechtungen zu bewahren und zu verteidigen. Wenn in letzter Zeit zunehmend jüdische Einrichtungen zur Zielscheibe von Anschlägen und Menschen zu Opfern von Hass und Gewalt werden, nur weil sie anders aussehen, weil sie eine andere Sprache sprechen oder weil sie hilflos und obdachlos sind, dann sind das alarmierende Signale. „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung der Freiheit“, hat der Philosoph Karl Jaspers einmal gesagt. Die Staatsdenker der Antike unterschieden streng zwischen zum Guten genutzter Freiheit und deren Kehrseite, der schrankenlosen Willkür. Sie galt als entartete Form der Freiheit – und zwar ebenso ihre aktive Ausübung wie das passive Erdulden. Der Wille, für den Erhalt der Freiheit einzutreten, gehört zu ihrem Wesen. Sonst trägt sie den Keim der Selbstzerstörung in sich. Das bedeutet auch: Über die legitime Staatsgewalt hinaus kann und darf es keinerlei Rechtfertigung für Gewalt geben, aus welchen Motiven heraus auch immer sie geschieht und gegen wen auch immer sie gerichtet ist.
Wir müssen dafür sorgen, dass Intoleranz und Gewaltbereitschaft keinen Nährboden haben. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland verachtet und verabscheut Gewalttaten. Darum können wir guten Gewissens sagen: Die demokratische Ordnung in unserem Land wird durch Radikalismus und Extremismus nicht ernsthaft unterhöhlt. Dennoch müssen wir wachsam sein. Jede einzelne Gewalttat ist eine Gewalttat zu viel. Das beginnt bereits bei der Sprache, bei der Aggression mit Worten. Häufig unbedacht, ist sie ein erster Schritt in einer langen verhängnisvollen Kette. Hier heißt es: Wehret den Anfängen!
Mit besonderer Eindringlichkeit wende ich mich an die junge Generation, die heute durch Schülerinnen und Schüler auf der Besuchertribüne vertreten ist. Gerade sie sollen über diesen Tag hinaus als Maxime mitnehmen: Unsere Verfassung setzt auf das bewusste Engagement aller Bürgerinnen und Bürger. Sie teilt nicht nur Rechte und Pflichten zu für die Teilhabe des Einzelnen am Staat; sie verlangt mehr, nämlich die aktive Anteilnahme an den Geschicken des Gemeinwesens. Es genügt nicht, eine gute Verfassung zu haben; wenn unser Staat in guter Verfassung sein soll, braucht er Bür
gerengagement und Zivilcourage. Beides begnügt sich, recht verstanden, nicht mit dem Nur-Nötigen; es zielt auf das Möglichst-Gute. Der gute Wille der Politik und der politischen Bildung allein kann freilich wenig bewirken, wenn nicht die überwiegende Mehrheit der Menschen in unserem Land die „Sprache des Schweigens“ verlässt und konsequent und eindeutig für die Demokratie eintritt.
Dass der demokratische Verfassungsstaat nicht nur von Extremisten und offenen Gewalttaten bedroht ist, sondern ebenso von der schleichenden Gleichgültigkeit und vom ängstlichen Wegsehen – dafür ist die Geschichte des 9. November eine warnende Lehrmeisterin. Wenn wir vor allem den Jüngeren die Ereignisse immer wieder ins Gedächtnis rufen, dann geschieht das nicht, um ein schlechtes Gewissen, Schuldgefühle oder gar Überdruss zu erzeugen, sondern um die Erinnerungen an Gefährdungen wachzuhalten und sensibel zu machen, damit vernarbte Wunden nicht wieder aufbrechen. Auch im Leben eines Staates sind Rückfälle sehr schmerzhaft.
„Wer aufrichtig sein will“, so sagte der frühere Bundespräsident Roman Herzog, „muss sich seiner ganzen Geschichte stellen, der Geschichte, die im Guten wie im Bösen die Identität eines Volkes ausmacht.“ Das ist der tiefere Sinn des Gedenkens am heutigen 9. November. Er fordert uns auf, aus dem Geschehenen Lehren für die Gestaltung des Heute und für die Sorge um das Morgen zu ziehen.
Wir gedenken aller Menschen, die Willkür und Gewalt zum Opfer gefallen sind. Wir gedenken aller, die ihrer Menschenwürde beraubt, ausgeplündert, vertrieben, verfolgt oder misshandelt wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten und Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und wir gedenken aller Menschen, die dem blindwütigen Hass und der Maßlosigkeit irregeleiteter Fanatiker ausgeliefert sind. – Ich danke Ihnen für Ihr stilles Gedenken.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt historische Daten, die ein eigentümliches, fast magisches Gewicht besitzen, weil sie nicht nur einmal ein Ereignis von geschichtlicher Bedeutung markieren, sondern mehrmals in verschiedenen Zeiten jeweils besonders signifikante Entwicklungen oder Entscheidungen, ja Schicksalstage signalisieren.
In unserem nun vergangenen Jahrhundert trifft dies auffallend häufig für die meist eher düsteren Tage – heute ist das nicht so – um den 9. November zu. Sie bezeichnen zunächst zwei tief einschneidende, weltpolitische Geschehnisse, die den Bogen vom Beginn bis zum Ende
der Sowjetunion und ihrer kommunistischen Herrschaft spannen: nämlich von der sogenannten Oktoberrevolution am 7. und 8. November 1917 bis zum Fall der Berliner Mauer 72 Jahre später, am 9. November 1989. Sie sind also Inbegriff, Anfang und Ende der großen politischen und ideologischen Umwälzungen der Epoche der Weltkriege, der Diktaturen und der Demokratien in unserem 20. Jahrhundert.
Wir denken aber nach 1917 an eine Reihe weiterer gewichtiger Novemberdaten der deutschen und zugleich europäischen Geschichte, die nicht zufällig ein Jahr später mit dem 9. November 1918 beginnen, mit dem Tag also, der das Ende des Ersten Weltkriegs und gleichzeitig den Durchbruch demokratischer Revolutionen in Mittel- und Osteuropa bedeutete. Dieser deutsche 9. November im Reich und in den deutschen Ländern ist ein zwiespältiges Datum; es steht für militärische Niederlage und Staatsumbruch, für politische Krise und freiheitliche Demokratie zugleich.
Mit ihm hängen in problematischer Verflechtung auch die anderen Novemberdaten zusammen, an die heute zu erinnern ist; denn fünf Jahre nach 1918 erschüttern die Novemberereignisse von 1923 – mit dem Höhepunkt des missglückten Hitler-Putsches in München vom 8. auf den 9. November – die von Wirtschafts- und Staatskrisen und zunächst auch kommunistischen Umsturzversuchen geplagte erste deutsche Republik von Weimar. Und in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches sind es die kriegsnahen Jahre 1937 bis 1939, in denen jeweils an Novembertagen unheilvolle Entscheidungen stattfinden, das totalitäre Regime des Nationalsozialismus zum Schlag ausholt: mit der geheimen Expansionsplanung vom November 1937, im antisemitischen Reichspogrom vom November 1938, dem Niederhalten der Opposition sowie dem gescheiterten Attentat auf Hitler im November 1939. Ein Jahr danach schließlich, im November 1940, finden in Berlin die letzten deutsch-sowjetischen Verhandlungen zwischen Molotow und Ribbentrop im Beisein Hitlers statt. In düsterer Atmosphäre angesichts britischer Luftangriffe, die Molotow sarkastisch registriert, wird vergeblich über die Abgrenzung künftiger Eroberungen in Europa und Asien gesprochen, was Hitler in der Überzeugung bestärkt, dass sein schon im Sommer 1940 gefasster Entschluss zum Angriff auf die Sowjetunion die richtige und einzige Lösung bedeuten würde.
Dann schließlich, ein halbes Jahrhundert nach der Katastrophe, der Befreiung und der Teilung Deutschlands und Europas zugleich, folgt der große 9. November 1989. An diesem hoffentlich glücklichen Ende unserer Novemberfolge besiegelt der Fall der Berliner Mauer auch das Ende des letzten sowjetkommunistischen Kolonialimperialismus und Ideologiestaates, abgesehen vom verspäteten China und Kuba, der Spezialdiktatur Fidel Castros. Das so unerwartete Ereignis ist von manchen optimistischen Betrachtern etwas vorschnell gar als Erfüllung und Ende der Geschichte gesehen worden.
Mag man gegen eine solche novemberbezogene Form der Betrachtung einwenden, sie stütze sich allzu künstlich auf ein zufälliges Zusammentreffen von Geschichtsdaten, so erscheint sie mir doch aufschlussreich im Hin
blick auf die Lage am heutigen 9. November. Die häufige Zuspitzung dramatischer Ereignisse an gewöhnlich doch eher düsteren Novembertagen unseres Jahrhunderts ist zudem interessant im Blick auf die Frage nach gewissen jahreszeitlichen Rhythmen der Politk.
Vor allem aber zeigt der 9. November, gleichsam als Zufalls-Sample, situationshaft die vielgestaltige Problematik deutscher und europäischer Geschichte in diesem Jahrhundert; er lässt uns punktuell, doch blitzartig deutlich der Ähnlichkeit wie Verschiedenheit der Entscheidungslagen vor 75, 70 und 55 Jahren im Vergleich zu 1989 und zu heute gewahr werden. Von heute aus gesehen, ist es – außer 1989 – jeweils das Auftreten einer extremen Form des politischen Radikalismus in Deutschland, der in seiner linken Version vor zehn Jahren scheinbar endgültig durch den Fall der zweiten deutschen Diktatur und die Wiedervereinigung im Zeichen der freiheitlichen Demokratie überwunden wurde. War dies eine verfrühte Hoffnung? Ist wieder der Rechtsextremismus die Neuauflage einer alten deutschen Malaise mit schrecklichen Konsequenzen, so fragen wir am letzten 9. November des Jahrhunderts und schon im Blick auf das neue Saeculum.
Unser erster deutscher Fall ist der 9. November 1918. Er symbolisiert das deutsche Revolutionsproblem im Übergang zur parlamentarischen Demokratie; als Stichworte nenne ich militärische Niederlage, politische Revolution, zugleich Sozialismus versus Kapitalismus als wirtschaftlich-soziale Machtfrage. Noch 1918 war der große Krieg nicht eigentlich zu Ende. Dieser Eindruck gehörte wesentlich zur Lebenserwartung der nun anbrechenden Weltrevolution und mehr noch zu den Überzeugungen künftiger Revolutionäre wie Mussolini und Hitler, die aus diesem Krieg kamen und ihn auf ihre Weise weiterführen wollten.
So waren auch in der deutschen Revolution vom November 1918 Krieg und Frieden eng miteinander verflochten. Ihren Hintergrund bildeten die fortdauernden Kämpfe in Osteuropa, die mit der Russischen Revolution und ihrem Bürgerkrieg wie mit den Problemen der Nachfolgestaaten des Habsburger Reiches und der Türkei zusammenhingen, vor allem aber die Auseinandersetzungen um Kriegsfolgen und Friedensordnung.
Der Ausbruch revolutionärer Unruhen auf Kriegsschiffen und in Häfen der deutschen Marine und ihre Ausbreitung in den Tagen vom 5. bis zum 9. November 1918, dem Tag der Abdankung des Kaisers, stellte sich zunächst als ein gewaltiger Streik zur Beendigung des Krieges dar. Er war die natürliche Antwort auf den Schock der Niederlage Deutschlands, die sich schon im Zusammenbruch der verbündeten Staaten abgezeichnet hatte. So hat man von einer ungewollten, nur improvisierten, einer halben oder abgebrochenen Revolution gesprochen. Freilich bleibt dann die Frage, was denn unter einer vollendeten Revolution zu verstehen sei, die bürgerliche oder erst eine sozialistische, wo doch soeben auf abschreckende Weise ein Experiment über die russische Bühne ging, für das nur radikale, militante Minderheiten zu gewinnen waren.
Auch in Deutschland waren erst im Oktober 1918, einen Monat vor dem militärischen Zusammenbruch, Parlamentarisierung und demokratische Reform eingeleitet worden – zu spät, um den revolutionären Bruch vermeiden zu können. Zu den inneren Antrieben des Systemwechsels kam die Hoffnung auf erträgliche Friedensbedingungen, auf ein demokratisches Deutschland, die sich an Wilsons Erklärungen knüpfte. Es bleibt strittig, ob nicht ein rechtzeitiger Verzicht des Kaisers eine parlamentarische Monarchie hätte retten können. Die eigentlich revolutionären Akte des 9. November 1918 sind wohl erst durch die Verzögerung der Abdankung provoziert worden. Zu ihnen zählen der Rücktritt des letzten monarchisch-konstitionellen Reichskanzlers, Max von Baden, die extralegale Regierungsübernahme durch den sozialdemokratischen Parteiführer Friederich Ebert, die vorzeitige Ausrufung der Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, die Flucht des Kaisers für immer nach Holland und der Sturz aller deutschen Fürstenhäuser in den Ländern. In diesem Vakuum kam es in den folgenden Wochen und Monaten zu der bürgerkriegsartigen, blutigen Verschärfung der inneren Auseinandersetzungen. Ihre Niederschlagung beschleunigte das Erstarken gegenrevolutionärer, antidemokratischer Kräfte und besiegelte den schweren, letztlich fatalen Dauerkonflikt der Republik mit ihren rechten und linken Feinden.
Doch war es den Sozialdemokraten gelungen, die noch 1918 von der kommunistischen Spartakus-Bewegung unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geforderte Entscheidung gegen die parlamentarische Demokratie und für ein Rätesystem zur Errichtung der Diktatur des Proletariats zu verhindern – eine grundlegende Entscheidung, die schon am 16. Dezember 1918 von den Arbeiter- und Soldatenräten mit großer Mehrheit bestätigt wurde. Anders als ein Jahr zuvor in Russland mussten die Kommunisten zusehen, wie sich eine frei gewählte Nationalversammlung konstituierte und in Weimar die demokratische Verfassungsordnung der ersten deutschen Republik beschloss. Allerdings war zuvor schon die Niederschlagung des von Anfang an aussichtslosen, nur vier Wochen dauernden bayerischen Räte-Experiments Anlass zur regelrechten ersten Erprobung und Sammlung paramilitärisch-antidemokratischer Macht gewesen. Dort hat auch Hitler seinen Weg in die Politik gefunden – im Kampf gegen den Kommunismus, den Versailler Friedensvertrag und die Juden.
Mit den Kräften der konservativ-monarchistischen Rechten erstarkten nicht nur vordemokratische, sondern auch radikal-nationalistische Befürworter einer postdemokratischen Diktatur mit plebiszitärem Führer. Diese Tendenzen wurden noch gefördert durch die bis 1923 andauernden Versuche der Kommunisten, durch Aufstände doch noch die sozialistische Revolution zu erzwingen. Am Ende stand der nationalsozialistische Putschversuch Ludendorffs und Hitlers, das Münchner Gegenstück zum schon 1920 gescheiterten Kapp-Putsch in Berlin. Erst nach vier Jahren der Krise ging im November 1923 die revolutionäre Nachkriegsperiode mit diesem gescheiterten Putsch gegen die Weimarer Republik zu Ende.
Wir sind damit beim zweiten Fall, dem 8./9. November 1923. Er steht unter der Überschrift: Krise der Demo
kratie und Putschversuch der Diktaturbewegung. Auch hier haben wir es mit einem europäischen Problem zu tun. In Deutschland war es schon 1920 mit dem gescheiterten Kapp-Putsch aufrührerischer Offiziere aufgebrochen, in Italien mit Mussolinis aufsehenerregendem Marsch auf Rom im Oktober 1922. Die wirtschaftspolitische Krise durch Inflation und Reparationsfrage gipfelte 1923 nochmals in bürgerkriegsartigen Unruhen und Aufstandsbewegungen von links wie von rechts.
In München kam es seit September 1923 zum Zusammenspiel monarchisch-reaktionärer Bestrebungen unter Generalstabskommissar von Kahr und Reichswehrkommissar von Lossow mit den diktatorisch-revolutionären Bewegungen unter Hitler und General Ludendorff. Täglich konkreter wurde der Gedanke eines Marsches auf Berlin. Grosses Vorbild dafür war Mussolinis glorifizierter Marsch auf Rom, das europäische Muster einer viel bewunderten ersten faschistischen Diktatur in Italien.
Bei den Vorbereitungen auf besagten Marsch war Hilter ganz besonders bemüht, seine Eigenständigkeit und Führungsrolle in dem Durcheinander an Gerüchten, Hoffnungen und Ambitionen zu verstärken. Deshalb entschloss er sich zur Flucht nach vorn, als er von Absichten Kahrs und Lossows hörte, möglicherweise ohne ihn und im Bündnis mit General von Seeckt in Berlin am 9. November, dem fünften Jahrestag der verhassten Revolution, ihre politischen Machtpläne durchzusetzen. Wiederum wird der symbolische Wert des 9. November erkennbar, in diesem Falle der negative symbolische Wert. Für den Fall, dass sie nur wie bisher eine Aktion hinauszögern wollten, versuchte nun Hitler, sie in eine endgültige Entscheidung zum Staatsumsturz hineinzustoßen.
Schon am 23. Oktober hatte Göring als SA-Führer im Rahmen einer militärischen Besprechung der nationalsozialistischen Verbände den Putsch und die Diktatur angekündigt und dabei auch schon drohend eine Liste der „Persönlichkeiten“ gefordert, „deren Beseitigung notwendig ist. Mindestens einer muss zur Abschreckung nach deren Erlass des Aufrufes“ – zur Übernahme der Gewalt – „sofort erschossen werden.“ Am 6. November nun, als die Verwirrungen der Inflation und des Konflikts zwischen München und Berlin auf ihrem Höhepunkt angekommen waren, fand eine Besprechung des „Triumvirats“ von Kahr – von Lossow – Seißer – Letzterer war damals Polizeipräsident – mit Vertretern der „Vaterländischen Verbände“ statt, von der Hitler ausgeschlossen blieb. Dies gab wohl den Ausschlag zu seiner Flucht nach vorn. Vergeblich versuchte Ludendorff noch am 8. November, Hitler ins Spiel zu bringen. Kahr lehnte ab. Man wusste von den Putschvorbereitungen Hitlers, nahm sie jedoch nicht ernst. Man kannte ihn als fähigen Agitator; eine eigene Aktion dieses Ausmaßes gegen die Inhaber der Macht traute man ihm kaum zu.