Gelegenheit bot eine als Vertrauensversammlung für Kahr geplante „Vaterländische Kundgebung“, zu der sich am Abend des 8. November Vertreter der verschiedenen Richtungen im überfüllten Saal des Bürgerbräukellers einfanden. Zur Erinnerung an den Ausbruch der Revolution fünf Jahre zuvor verlas Kahr einen Vortrag gegen den Marxismus. In diese Versammlung nationalistischer
Honoratioren brach kurz vor 21 Uhr Hitler mit bewaffneten Anhängern unter SA-Chef Göring ein. Er feuerte pathetisch den berühmt gewordenen Revolverschuss in die Saaldecke, um sich Gehör zu verschaffen, und eröffnete damit seinen Umsturzversuch, der freilich schon am Mittag des folgenden Tages ein unrühmliches Ende finden sollte.
Vom Podium aus erklärte Hitler pistolenschwingend, die „nationale Revolution“ sei ausgebrochen, der Saal von schwer Bewaffneten besetzt, die bayerische Regierung gestürzt, eine provisorische Reichsregierung werde gebildet usw. Auf die Vorgänge kann ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen; sie sind ja auch im Wesentlichen bekannt.
Zwischen den verschiedenen Richtungen wurde ein Schein- bzw. Pseudobündnis geschlossen. Es begann gleichzeitig jene seltsame Nacht zum 9. November, in der die Putschisten die Chancen nicht zu nutzen verstanden, die sie in der Hand hielten, den überrumpelten Rivalen vielmehr Zeit ließen, sich zu Gegenmaßnahmen zu formieren. Ernsthafte Versuche zur Besetzung der wichtigsten Regierungsgebäude, der Telegraphenämter oder des Bahnhofs blieben aus; das Triumvirat konnte in die Kasernen des regierungstreuen Regiments 19 entkommen, um Militär- und Polizeieinheiten zu mobilisieren. Die allgemeine Verwirrung zwischen den Fronten wirkte sich nun gegen Hitler aus. Kurz vor drei Uhr nachts ging an alle deutschen Funkstationen der Spruch, das Triumvirat sei missbraucht worden und lehne den Hitler-Putsch ab.
München befand sich am Morgen des 9. November in großer Erregung. An den Litfasssäulen prangte der Revolutionsaufruf der Putschisten. Auch ein Aufruf Kahrs wurde allenthalben angeschlagen und der Presse übermittelt. Und während kurz vor 12 Uhr Reichswehreinheiten zur Rückgewinnung des Kriegsministeriums – Wehrkreiskommando – antraten, befanden sich die Putschisten auf dem berühmt-berüchtigt gewordenen Marsch durch München, der gegen 13 Uhr vor den Gewehren der Landespolizei an der Feldherrnhalle endete.
Ein innerer Nachhall war in München und Bayern noch über Wochen zu vernehmen. Besonders in turbulenten Studentenversammlungen an der Universität trat dies in Erscheinung. So am 12. November im Beisein beider Rektoren und von Professoren wie Sauerbruch, dessen Klinik die Verletzten des 9. November behandelt hatte. Dieser „Verrat vom 9. November“ – 1918 wie 1923 – wurde künftig zum großen Schlagwort der Rechtsradikalen; es hat dann auch sogleich eine bedeutende Rolle im Hitler-Prozess selbst und in dessen Urteilsbildung gespielt. Mit der Ermordung Kahrs anlässlich des „Röhmputschs“ am 30. Juni 1934 hat Hitler schließlich verspätet, aber um so blutiger Rache genommen.
Hitlers Putschversuch und sein Scheitern am 9. November 1923 aber war in doppelter Hinsicht von entscheidender Bedeutung für die künftige Geschichte des Nationalsozialismus: sowohl für den weiteren Kurs der Partei, die nun eine neue politische Taktik einschlug, wie auch für ihr Verhältnis zur Reichswehr. Hitler musste erken
nen, dass sein Fehlschlag auf die Tatsache zurückzuführen war, dass es ihm nicht gelungen war, die Unsicherheiten innerhalb der militärischen Führung auszunutzen, und dass es ebenso nicht gelingen würde, diese durch eine plötzliche Aktion auf seine Seite zu bringen, so viele Sympathien auch die Reichswehr für diesen „nationalen Trommler“ aus Österreich hegen mochte. Der 9. November 1923 hinterließ die eindrückliche Lehre, dass nicht ein Putsch gegen die bestehenden Gewalten, sondern nur deren Unterwanderung zum Erfolg führen konnte. Die Konsequenz war jene ausdrückliche Legalitätspolitik, die der zweiten Phase der NS-„Kampfzeit“ das Gepräge gab: nämlich die Taktik, durch rücksichtslose Ausnutzung der im Rahmen einer toleranten, ja übertoleranten Demokratie gebotenen legalen und pseudolegalen Möglichkeiten, nicht mehr durch einen offenen Gewaltstreich zur Macht zu kommen. Nach neun Jahren hatte er dieses Ziel auf diese Weise erreicht.
Die folgenden Novemberdaten liegen tatsächlich in der Zeit des „Dritten Reiches“. Auch sie stehen einerseits unter der politisch-militärischen Zwangsvorstellung, von der Hitler und die NS-Führer geradezu manisch besessen waren: Der 9. November 1918 müsse wiedergutgemacht, also rückgängig gemacht werden, er dürfe sich nie mehr wiederholen. Andererseits stehen diese Daten unter dem ideologischen, ja pseudoreligiösen NS-November-Kult der „Feldherrnhalle“: „Uns sind Altar die Stufen der Feldherrnhalle“, dichtete der oberste Hitlerjugend-Führer namens Baldur von Schirach.
Es treten vier Daten hervor: Im November 1937 kam erstmals der expansionistische Kriegskurs Hitlers, im sogenannten Hoßbach-Protokoll festgehalten, zur konkreten Planung und Besprechung Hitlers mit der militärischen Führung.
Am 9. November 1938 zeigte das totalitäre Regime seine radikal-rassistische Stoßrichtung in der bagatellisierend so genannten „Reichskristallnacht“, den von oben gesteuerten Partei- und SA-Pogromen gegen die Juden in ganz Deutschland, mit der Zerstörung der Synagogen.
Im November 1939 treten die Probleme und Versuche des Widerstands gegen dieses Regime im ersten gescheiterten Attentat Georg Elsers auf Hitler hervor, das freilich, wie viele Attentate in der Geschichte, der Initiative eines einsam entschlossenen Einzelgängers entsprach.
Schließlich fand im November 1940 der Besuch des sowjetischen Außenministers Molotow statt. Zu erinnern ist aber vor allem an die Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938. Insgesamt war 1938 wahrhaft ein Schicksalsjahr in der deutschen und europäischen Geschichte. Das NS-Regime in Deutschland befand sich nun voll auf totalitärem Kurs so wie gleichzeitig der russische Totalitarismus in Gestalt der großen Moskauer Schauprozesse und so wie die rassistische Wende 1938 auch des italienischen Faschismus und der endgültige Sieg Francos im spanischen Bürgerkrieg. Dies alles war möglich angesichts des allzu schwachen Appeasementkurses der Westmächte gegenüber der Politik der Diktatoren; Stichwort Münchener Konferenz.
Schon der Anschluss Österreichs im März 1938 brachte eine Radikalisierung und Bestialisierung der Judenpolitik. Und die für alle Deutschen zutiefst beschämenden Ereignisse vom 9. zum 10. November 1938 unter dem so bagatellisierenden wie irreführenden Schlagwort „Reichskristallnacht“ markieren einen weiteren Höhepunkt von Entrechtung und Verfolgung der Juden im ganzen Dritten Reich. Darin offenbarte sich jener wahnhaft ideologische Kernbestand des Nationalsozialismus, aus dem heraus sein totalitärer Anspruch am radikalsten begründet und schließlich aufs schrecklichste durchgesetzt wurde. Vor allen anderen politischen Antrieben stand nun der rassistische Antisemitismus: die pseudowissenschaftlich drapierte Totalerklärung von Geschichte und Gesellschaft, Kultur und Politik überhaupt aus der so genannten Judenfrage, die zu lösen sei, so oder so.
Die Organisation dieser Pogrome verfolgte einen dreifachen Zweck: Anheizung der psychologischen Kampfstimmung, Ausschaltung der Juden auch aus der Wirtschaft, dem letzten Bereich beschränkter Tätigkeit, und Bereicherung der durch Kriegsvorbereitung strapazierten Staatskassen. Die materiellen Motive waren schon vorher in der „Arisierung“ zahlreicher Betriebe, die oft genug einer Enteignung gleichkam, sichtbar geworden. Auch „Arier“, die Juden bei der Rettung ihrer Geschäfte durch Scheinübertragung zu helfen versuchten, wurden mit Zuchthaus und Geldstrafen bedroht. Ab April 1938 musste jüdisches Vermögen angemeldet werden und Göring als dem Chef der Kriegswirtschaft zur Verfügung stehen.
Den Vorwand zum großen Schlag bot dann am 7. November 1938 das Attentat eines siebzehnjährigen Juden auf den Botschaftsbeamten Ernst von Rath in Paris. Großangelegte Propagandakampagnen und bombastische Feierstunden in den Schulen und Betrieben, mit Trauermusik aus der Eroica garniert, gipfelten in einer hemmungslosen Hetzrede Josef Goebbels am 9. November in München. Sie löste die geplante Aktion in jener pseudospontanen Form aus, die das Oberste Parteigericht der NSDAP nachher zynisch charakterisierte: Goebbels sei wohl von sämtlichen anwesenden Parteiführern so verstanden worden, dass die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte.
Diese so genannten Demonstrationen von Partei- und SA-Trupps zerstörten in einer Nacht der Barbarei fast alle Synagogen und über 7000 jüdische Geschäfte. Ihr wahrer Zweck trat hervor, als anschließend den Juden überdies die Wiedergutmachung der Schäden, die Zahlung einer Buße von über einer Milliarde Mark auferlegt und die Beschlagnahme der Versicherungsgelder verfügt wurde.
Die vandalierenden Täter und ebenso diejenigen, die im Zuge des Pogroms mehr als hundert Juden ums Leben gebracht hatten, gingen straffrei aus, falls sie – man höre! – nicht „Rassenschande“ verübt oder gegen die „Disziplin“ verstoßen hatten. Auch sie hatten nach dem Spruch des Parteigerichts den „richtig erkannten Willen der Führung in die Tat umgesetzt“, so – wie kaum ein
Die SS ihrerseits widmete sich der lautloseren Verhaftung von 30 000 bis 35 000 „wohlhabenden“ Juden, die über das KZ zur Auswanderung – ohne Vermögen – gezwungen werden sollten. Die Barbarei war alles andere als spontan, sie wurde auch gewiss von der Mehrheit der Deutschen missbilligt, wie der britische Geschäftsträger damals berichtete. Besonders beschämend aber war das große Schweigen der christlichen Kirchen auf die schamlose Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser und Synagogen, wie es Fritz Stern kürzlich in einem Band beschrieben hat.
Konsequenzen haben allerdings weder die britische noch die französische Regierung gezogen. Paris schloss vier Wochen später einen Freundschaftsvertrag mit Ribbentrop ab. Die Konsequenzen zog vielmehr Göring in einer Konferenz aller beteiligten Ministerien mit der Erklärung, Hitler habe ihn beauftragt, in der Judenfrage „jetzt die entscheidenden Schritte zentral zusammenzufassen“. Arisierung, Gettoisierung, Abschiebung waren die Maßnahmen, die den Judenterror zum Bestandteil des Vierjahresplans machten. Auch die wirtschaftlichen Aspekte dieser unmenschlichen Maßnahmen treten hier klar hervor: der Aufrüstungs- und künftige Kriegskurs wird nun völlig rücksichtslos auf die Judenpolitik der Erpressung und der Kontributionen angewandt. War nicht all dies bereits die endgültige Kriegserklärung an die Juden, deren Hitler seinerseits 1939 die Juden beschuldigte, und zwar mit der Drohung ihrer Vernichtung und als Begründung für ihre tatsächliche Ausrottung?
Meine Damen und Herren, der nächste Fall war ein Jahr später das Attentat auf Hitler in der Nacht vom 8. auf 9. November 1939. Es beleuchtet blitzartig das Widerstandsproblem in der Diktatur. In der Tat war damals wegen der Erfolge Hitlers der so problemreiche Widerstand gegen ein totalitäres Regime wie dieses nach Scheitern der bisherigen Versuche – zuletzt 1938 des Generals Beck und der Gruppe um Oster und Hans von Dohnanyi – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs an einem Tiefpunkt angelangt. Die NS-Herrschaft schien unüberwindbar, ihr Erfolgskurs unaufhaltsam, die Lage der Widerstandsgruppen in Deutschland ungleich schwieriger als sonst wo, auch in stetem Konflikt mit dem nationalen Patriotismus begriffen.
In dieser Situation war es, wie öfters in der Geschichte, ein Einzelgänger, der erstmals das Attentat gegen den Tyrannen wagte, das alleine noch eine Wende hätte bewirken können. Gewiss hätte es auch eine Wende bewirkt, wäre es gelungen. Tatsächlich entging Hitler am Abend des 8. November im Bürgerbräukeller zu München um Haaresbreite dem Anschlag des schwäbischen Schreiners Georg Elser, mit der Folge dann noch verschärfter Wachsamkeit gegen alle Opposition. Da der Attentäter aber keine Verbindung mit anderen Kreisen der Opposition hatte, dauerte es auch nach dem Krieg noch lange, bis seine Aktion voll gewürdigt werden konnte.
Elser gehörte zwar vorübergehend einer kommunistischen Organisation an, seinen Versuch hat er aber völlig allein gemacht. Durch Sorgfalt, Ausdauer und Geschicklichkeit ist er dem Erfolg erstaunlich nahe gekommen. In den Tagen kurz vor der alljährlichen Veranstaltung zur Erinnerung an den missglückten Putsch vom 9. November 1923, bei dem eine Anzahl „alter Kämpfer“ ums Leben gekommen war, gelang es Elser, sich in der Zeit vom Anfang August bis 8. November 1939 viele Male unbemerkt über Nacht in dem kaum gesicherten Löwenbräusaal aufzuhalten, der teilweise Besuchern als historische Stätte gezeigt, im übrigen aber als Gastwirtschaft betrieben wurde. In der mit Holz verkleideten Säule aus Steinen und Mörtel, vor der Hitler seine alljährliche Ansprache halten sollte, baute Elser eine Sprengladung ein und koppelte die Zündung mit zwei Westminster-Uhren. Den Sprengstoff – Donarit – hatte er teilweise aus einem Steinbruch entwendet, in dem er nur zu diesem Zweck Arbeit angenommen hatte. Außerdem verwendete er für die Höllenmaschine militärischen Sprengstoff aus einer Granate sowie Schwarzpulver. Die Vorbereitung der Sprengkammer in der Säule, die übrigens für die Stützung der Decke eine entscheidend statische Funktion hatte, nahm 30 bis 35 Nächte in Anspruch.
So berichtet Peter Hoffmann in seinem großen Werk über den deutschen Widerstand. Er betonte auch, dass Elsers Opposition gegen Hitler und sein Regime besonders der auf Krieg gerichteten Außenpolitik galt und dass Elser – nachdem der Krieg ja nun bereits im Gange war – durch die Beseitigung Hitlers eine gute Tat tun wollte.
Zum Ablauf des Attentats: Saal und Empore im „Löwenbräu“ waren am Abend des 8. November 1939, zwei Monate nach Beginn des Krieges, den Hitler entfesselt hatte, dicht gefüllt mit 3000 „alten Kämpfern“ der Partei und Führern wie Himmler, Rosenberg, Frank, Goebbels, Ribbentrop oder Sepp Dietrich. Wegen Nebels wird die Hitlerrede vorverlegt – er fliegt nicht, sondern fährt mit dem Zug zurück, und deswegen verlässt er unerwartet früh wieder den Saal. 13 Minuten später erfolgte die Explosion. Es gab acht Tote, der Tyrannenmord aber war gescheitert. War das Attentat moralisch überhaupt erlaubt? So fragen heute noch immer Ahnungslose oder Diktaturfreunde.
Elser wurde noch am Abend verhaftet, als er versuchte, über Konstanz in die Schweiz zu entkommen. Angesichts der mageren Untersuchungsergebnisse und mangels Beweisen für die voreilige Behauptung, ausländische Geheimdienste steckten dahinter, verzichtete man während des Krieges auf einen großen Prozess. Erst am Ende, im Frühjahr 1945, holte Gestapo-Chef Müller über Himmler Hitlers Entscheidung ein und wies am 5. April 1945 den KZ-Kommandanten von Dachau an:
Bei einem der nächsten Terrorangriffe auf München bzw. auf die Umgebung von Dachau ist angeblich „Eller“
tödlich verunglückt. Ich bitte, zu diesem Zweck „Eller“ in absolut unauffälliger Weise nach Eintritt einer solchen Situation zu liquidieren... Die Voll
zugsanzeige hierüber würde dann etwa an mich lauten: „Am... anlässlich des Terrorangriffs auf... wurde unter anderem der Schutzhäftling „Eller“ tödlich verletzt.
Meine Damen und Herren, wir kommen schließlich fast 50 Jahre später zum letzten Fall, zum weltgeschichtlich bedeutenden 9. November 1989. Er steht für das Ende der Spaltung Europas und Deutschlands, und er bedeutet das Ende nun auch der zweiten deutschen Diktatur und des zweifachen, zweimaligen deutschen Sonderwegs nach 1933 und – unfreiwillig – auch 1949. Auch das Novembergeschehen von 1989 vollzieht sich zwischen Zusammenbruch und Freiheitsrevolution. Ich meine den Zusammenbruch der DDR und die Freiheitsrevolution der Bevölkerung der DDR. Doch steht dieses Geschehen am Ende dieses Jahrhunderts im Unterschied zu 1918 im Zeichen viel längerer Erfahrungen mit der Demokratie und der Gegenerfahrungen mit totalitären Diktaturen von Rechts und von Links, und es besitzt vor allem einen eindeutigen positiven und zukunftsweisenden Sinn. Das hebt diesen Tag über alle anderen 9. November dieses Jahrhunderts heraus.
Der deutsche Weg hatte mit einer Reihe von Umständen zu rechnen, die ihn vom Verlauf der Befreiungsrevolution in den anderen Ländern Osteuropas unterschieden. Da war erstens die besondere militärische wie politische Stärke der sowjetischen Besatzung, die der DDR den Ruf einer uneinnehmbaren Festung des Sowjetimperiums verlieh.
Der 17. Juni 1953, der allzu oft unterschätzt wird und der sich meines Erachtens genauso wie der 20. Juli 1944 als Nationalfeiertag geeignet hätte, hatte dies bewiesen. Zudem hatte die antikommunistische, antitotalitäre Opposition in der DDR seit Anbeginn durch die nie endende Abwanderung von Verfolgten und Flüchtlingen, die zwar Grenzen und Mauern, aber nicht Sprachbarrieren überwinden mussten, zugleich eine immer neue Schwächung erfahren. Die Schwächung der Opposition der DDR durch die Fluchtbewegung ist ein zwiespältiges Ereignis. Andererseits vermochte die wachsende Präsenz der westdeutschen Funk- und Bildmedien auf einen erheblich vielseitigeren Informations- und Meinungsstand der Bevölkerung hinsichtlich der tatsächlichen Verhältnisse im Westen und Osten hinzuwirken, und dies wiederum besonders in Deutschland.
Während die Hoffnung auf Wiedervereinigung über die Jahrzehnte zurückging, blieb die Sowjetmacht, nicht aber das so rigoros abgeschirmte DDR-Regime oder ein eigenes Nationalbewusstsein, die eigentliche Stütze des kommunistischen Systems. Eine eigene Identität haben die heutigen Nostalgiker erst nachträglich erfunden. Der plötzliche Einbruch der Realitäten von 1989 überholte die alt-neuen Diskussionen und enthüllte nicht zuletzt die Illusion eines Appeasement-Kurses gegenüber der DDR, auf den leider auch Teile der SPD, aber auch anderer Parteien immer stärker gedrängt hatten.
Gegenüber den wachsenden Protesten von Menschenrechts-, Umwelt- und Friedensgruppen, die teilweise unter dem Schutz der Kirchen auftraten und es anlässlich der Kommunalwahlen im Mai 1989 erstmals wagten,
auch die üblichen Wahlfälschungen anzuprangern, glaubte sich die DDR fast bis zuletzt auf das so dichte Netz eines perfektionistischen Staatssicherheitsdienstes mit Hunderttausenden offizieller und nichtoffizieller Mitarbeiter samt einem uferlosen, riesenhaften Schatz von „Stasi“-Akten – 200 Kilometer – verlassen zu können. Als am 7. Oktober 1989 Honecker noch einmal den nun 40. Jahrestag der DDR-Gründung – so lange dauerte diese Diktatur im Unterschied zu der ersten deutschen Diktatur – unter politischem und militärischem Pomp feiern ließ, war zwar auch Gorbatschow als Gast anwesend, doch sein indirekt zu Reformen mahnender Ausspruch vor Ostberlinern wurde sogleich besonders bekannt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Inzwischen waren längst die Bilder der über Ungarn, Prag und auch Warschau fliehenden DDR-Bürger als Demonstration um die Welt gegangen. Die Durchfahrt der Botschaftsflüchtlinge von Prag durch die DDR in die Bundesrepublik am 10. September, die Ostberlin absurderweise noch zum Beweis seiner legalen Zuständigkeit bei der sogenannten Ausreise forderte, hatte die Schwäche des nun ohne sowjetische Hilfe operierenden Regimes schon offenbart und dessen Zurückweichen vor den folgenden Massendemonstrationen zumal in Leipzig am 9. Oktober und schließlich in Berlin am 4. November beschleunigt.
Der Zusammenbruch bahnte sich bereits mit der Absetzung Honeckers durch das ratlose Politbüro der SED am 18. Oktober an; er vollendete sich mit dem Rücktritt der gesamten DDR-Regierung am 7. November und tags darauf des Politbüros. Unter bis heute umstrittenen Umständen nahm schließlich das wankende Restregime am schon mehrfach historischen 9. November die turbulente Öffnung und bald auch Beseitigung der Berliner Mauer hin – über 28 Jahre nach der Errichtung des „hässlichsten Bauwerks der Welt“, das nach Honeckers Meinung freilich noch hundert Jahre hätte stehen sollen.
Treffend charakterisierte damals ein kundiger Beobachter wie Günther Gillessen die wesentlichen Zusammenhänge:
„Die Einheit der Deutschen kam als ein Geschenk der Geschichte, nicht als Verdienst einer Regierung, auch nicht als Erfüllung eines großen Planes. Sie kam auch nicht einfach aus einer deutschen Nationalbewegung, sondern als Teil einer größeren internationalen Bewegung ganz Osteuropas zustande. Sie wurde, anders als 1870/71, ohne Blut und Eisen, mit der raschen Entschlossenheit des Bundeskanzlers Kohl, dem Beistand Amerikas und der Zustimmung der europäischen Nachbarn vollbracht.“
Wir blicken zurück. Alle November-Ereignisse, die zu erörtern waren, sind im 20. Jahrhundert sowohl mit der russisch-kommunistischen Revolution von 1917 wie vor allem auch den deutschen November-Revolutionen von 1918 verknüpft; denn sie sind gegen deren Folgen gerichtet: 1923 antidemokratisch gegen die Weimarer Republik, 1938 zur diktatorischen Durchsetzung eines menschenfeindlichen Antisemitismus und Rassismus. Endlich aber folgt zum Schluss des Jahrhunderts die
glückliche Wende einer Revolution nun auch gegen die Diktatur und die Teilung Europas durch den Kommunismus und seine Oktoberrevolution – ebenfalls im November, weltweit sichtbar am Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.
In dieser Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Knechtschaft liegt ein gemeinsamer Nenner jener Schicksalsdaten, der eine zusammenhängende Betrachtung deutscher und europäischer November-Ereignisse sinnvoll macht. Geschah 1917 in Russland der erste Sieg des Totalitarismus, das bis heute umstrittenste Ereignis des Jahrhunderts, so bildet der 9. November 1989 das große positive Gegenstück dazu, nämlich die mittel- und osteuropaweite Revolution gegen den Totalitarismus und dessen hoffentlich nachhaltiges, wenn nicht endgültiges Verschwinden aus Europa.
Diesem Europa und besonders Deutschland ist heute mehr denn je die unbedingte Verteidigung der Demokratie aufgegeben, und zwar gegen Rechts- und Linksextremismus, wie es unsere Verfassung des Grundgesetzes von 1949, anders als die Verfassung von Weimar von 1919, so nachdrücklich fordert. Nach der Erfahrung unseres Jahrhunderts schwer begreiflich sind mir die Bedenken, die in Sachen verfassungsfeindliche Parteien immer wieder gegen die Gebote der wehrhaften Demokratie vorgebracht werden. Der Blick auf die Millionen Opfer der Diktaturen seit 1917 und 1933 verpflichtet uns, die historische Erfahrung ernst zu nehmen und allen neuen Anfängen zu wehren. Principiis obsta!
Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November hat uns viel zu sagen. Er zeigt Schreckliches auf; dafür steht der 9. November 1938. Er weist aber auch auf die Wendung zum Guten hin, auf die Chance zu einem Neuanfang; dafür steht insbesondere der 9. November 1989. Wir sollten uns den Lehren dieses Tages nicht verschließen. Herr Prof. Dr. Bracher, ich bedanke mich sehr herzlich für Ihren Vortrag.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung wird wieder aufgenommen. Ich bitte Sie, zunächst zweier ehemaliger Kollegen zu gedenken.
Am 22. Oktober verstarb Herr Richard Gürteler im Alter von 64 Jahren. Er gehörte dem Bayerischen Landtag von 1974 bis 1994 an und vertrat für die CSU den Stimmkreis Ebersberg. Seine vielfältigen Erfahrungen als Kommunalpolitiker brachte er in die parlamentarische Arbeit ein und wirkte unter anderem in den Ausschüssen für Fragen des öffentlichen Dienstes, für Staatshaushalt und Finanzfragen sowie für Wirtschaft und Verkehr. Als Bäckermeister war ihm die Förderung von Handwerk und Mittelstand ein besonderes Anliegen. Sein ganzer Einsatz galt der politischen Entwicklung