Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 80. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.
Am 9. Juli verstarb der ehemalige Kollege Willi Lucke im Alter von 98 Jahren. Willi Lucke gehörte dem Bayerischen Landtag von Dezember 1966 bis November 1974 an und vertrat für die Fraktion der CSU den Wahlkreis Oberbayern. Während seiner Parlamentszugehörigkeit war er Mitglied in verschiedenen Ausschüssen, unter anderem im Ausschuss für Eingaben und Beschwerden und im Ausschuss für Sozial- und Gesundheitspolitik. Darüber hinaus war er Mitglied im Stiftungsrat der Sudetendeutschen Stiftung.
Willi Lucke erlitt - wie so viele - das Schicksal von Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg und Vertreibung. Doch auch in seiner neuen Heimat fand er, der sich bereits früh in der Katholischen Jugend- und Arbeiterbewegung engagiert hatte, neue Herausforderungen. Als Sekretär und persönlicher Referent des Bundestagsabgeordneten und späteren Staatsministers Hans Schütz sowie als Mitarbeiter im Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge erfüllte er Aufgaben, die seinem Wissen und seinen Überzeugungen entsprachen. Mit der Wahl in den Bayerischen Landtag widmete sich Willi Lucke sowohl den sozialpolitischen Fragen als auch den Anliegen der Vertriebenen. Als Sudetendeutscher wusste er um ihre Sorgen und galt über Jahrzehnte hinweg als ein wichtiger Brückenbauer zwischen den Vertriebenen und der einheimischen Bevölkerung.
Willi Lucke wurde für seine zahlreichen Verdienste mehrfach geehrt, unter anderem mit dem Bayerischen Verdienstorden und dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Der Bayerische Landtag wird dem Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren. - Sie haben sich zu Ehren des Toten von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich einige Glückwünsche aussprechen. Am 29. Juni feierte Frau Kollegin Kerstin Schreyer-Stäblein einen runden Geburtstag. Jeweils einen halbrunden Geburtstag feierten am 1. Juli Herr Staatssekretär Franz Pschierer, am 4. Juli Frau Kollegin Kathrin Sonnenholzner und am 10. Juli Frau Kollegin Inge Aures. Heute hat Herr Kollege Josef Miller
Geburtstag. Ich wünsche Ihnen allen im Namen des gesamten Hauses und persönlich alles Gute und viel Erfolg für Ihre parlamentarischen Aufgaben.
Tagesordnungspunkt 1, Ministerin- oder Ministerbefragung - wohl hier zum letzten Male im Hause aufgerufen -, entfällt, nachdem die vorschlagsberechtigte CSU-Fraktion auf ihr Vorschlagsrecht verzichtet hat.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Hubert Aiwanger, Florian Streibl, Joachim Hanisch u. a. und Fraktion (FREIE WÄHLER) zur Änderung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes und anderer Vorschriften (Drs. 16/8945) - Erste Lesung
Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Änderung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes und anderer Vorschriften (Drs. 16/9081) - Erste Lesung
Gesetzentwurf der Abgeordneten Markus Rinderspacher, Helga Schmitt-Bussinger, Franz Schindler u. a. und Fraktion (SPD) zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern Schaffung der verfassungsmäßigen Voraussetzungen zur Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre bei Gemeinde- und Landkreiswahlen und Bezirkswahlen (Drs. 16/9191) - Erste Lesung
Gesetzentwurf der Abgeordneten Markus Rinderspacher, Helga Schmitt-Bussinger, Franz Schindler u. a. und Fraktion (SPD) zur Änderung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes und anderer Kommunalgesetze (Drs. 16/9192) - Erste Lesung
Herr Kollege Hanisch hat zur Begründung des Gesetzentwurfs seiner Fraktion das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.
munale Wahlrecht ist eines der Rechte, das den Bürger am ehesten berührt, bei dem er weiß, worum es geht. Bei Kommunalwahlen ist die Wahlbeteiligung am höchsten, weil jeder mitentscheiden will, wer Bürgermeister, wer Gemeinde-, wer Markt- oder Stadtrat wird.
Es ist gute Gepflogenheit, in der Mitte einer Legislaturperiode zu überprüfen, basierend auf den letzten Kommunalwahlen, inwieweit sich das Wahlrecht bewährt hat und wo Änderungen wünschenswert, möglich und erforderlich sind.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen die fünf wesentlichen Gesichtspunkte unseres Gesetzentwurfs in der Ersten Lesung kurz erläutern; Ihnen liegt der Gesetzentwurf vor. Wir werden uns in den Ausschüssen und auch in der Zweiten Lesung hier im Plenum noch das eine oder andere Mal damit beschäftigen müssen.
Meine Damen und Herren, der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen war bei der Beurteilung der Frage, wo jemand als Bürgermeister, als Gemeinderat oder Stadtrat kandidieren kann, ein gravierender Aspekt. In der Vergangenheit hat aber die Überprüfung, wo sich der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen befindet, immer zu Problemen geführt. Akribisch wurde nachverfolgt, wo der Einzelne tatsächlich übernachtet, wo er wohnt und wo er daheim ist.
Mehrere Gesetzentwürfe wurden eingebracht. Man kann den Aspekt des Schwerpunkts der Lebensbeziehungen, weil er Schwierigkeiten bereitet, jetzt nicht plötzlich wegfallen lassen. Wir sind der Auffassung, dass man das Ganze dadurch erleichtern sollte, dass die Wahlbewerber vor der Wahl eine eidesstattliche Erklärung darüber abgeben, wo der Schwerpunkt ihrer Lebensbeziehungen ist. Nach unseren Vorstellungen hat es keine Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Gremiums, wenn unwahre Angaben gemacht werden sollten. Wir wehren uns aber ganz vehement dagegen, dass man den Aspekt des Schwerpunkts der Lebensbeziehungen wegfallen lässt und plötzlich darauf abstellt, wo jemand zum Beispiel einen Zweitwohnsitz hat. Wer das Melderecht kennt, weiß, wie leicht man einen Zweitwohnsitz erwerben kann: Da wird irgendwo ein Zimmer angemietet, oder man findet bei einem Bekannten Unterschlupf und meldet sich dann an, und schon hat man die Voraussetzung erfüllt, um dort kandidieren zu können, wo man will.
Dagegen wenden wir uns, weil es unwahrscheinlich wichtig ist, dass der gewählte Gemeinde- oder Stadtrat seinen Ort kennt und weiß, welche Probleme in
der Gemeinde bestehen, welche Straßen, welche Kanäle und welche Schulen es gibt. Jemand, der in dem Ort, in dem er gewählt wurde, nicht den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat, wird das nicht wissen. Deshalb wenden wir uns dagegen, dass die Abschaffung des Aspekts des Schwerpunkts der Lebensbeziehungen gefordert wird.
Meine Damen und Herren! Der zweite Punkt ist das 65. Lebensjahr als Altersgrenze für den berufsmäßigen Bürgermeister und den Landrat. Bisher kann jemand, der älter als 65 Jahre ist, nicht mehr kandidieren, weder als Bürgermeister noch als Landrat. Das ist nach unserer Auffassung zu stark reglementiert. Inzwischen haben wir eine Generation, die älter wird. Die Lebenserwartung steigt, und wir haben den mündigen Wähler, auf den wir setzen, indem wir sagen: Wir streichen die Höchstaltersgrenze bei den berufsmäßigen Bürgermeistern und bei den Landräten, weil sie ohnehin bei vielen anderen Berufsgruppen überhaupt nicht zu finden ist. Jeder kann Minister werden, gleich, wie alt er ist. Jeder kann Abgeordneter werden, gleich, wie alt er ist. Dabei interessiert niemanden, wie viele Jahre er zählt. Und bei der Wahl der Landräte und berufsmäßigen Bürgermeister soll das plötzlich die große Schwierigkeit sein?
Wir sind dafür: Geben Sie das doch bitte frei! Unsere Wähler sind mündig genug und können entscheiden, ob sie einen 70-Jährigen als Bürgermeister oder Landrat wollen. Dazu müssen wir keine Altersbegrenzung einführen. Wenn Sie auf 67 statt auf 65 Jahre gehen - was soll das? Diese zwei Jahre können Sie mir x-mal mit dem Renteneintrittsalter erklären, nur: Was hat das Renteneintrittsalter zu besagen, wenn ein Abgeordneter oder ein Minister gewählt wird? Überhaupt nichts. Lassen wir es doch beim Bürgermeister und beim Landrat ebenfalls weg!
Dann geht es um die Briefwahl, meine Damen und Herren. Hierbei sind wir mit den meisten Vorschlägen d’accord. Wir sind der Auffassung: Briefwahl kann jeder beantragen. Dafür müssen keine Extragründe gefunden werden, zumal diese Gründe jetzt bereits teilweise an den Haaren herbeigezogen sind. Wer soll das noch überprüfen? Das wollen wir nicht, und das brauchen wir nicht. Mit dem Wegfall der Gründe haben wir kein Problem.
Was uns ein wenig stört, ist die Tatsache, dass ein ehrenamtlicher Bürgermeister bzw. Gemeinderat, wenn er nicht mehr dem Gemeinderat angehören will, einen Grund haben muss. Seine Entlassung ist nur
dann möglich, wenn er einen Grund angeben kann. Der hauptamtliche Bürgermeister musste nie einen Grund angeben. Er konnte sagen: Freunde, ich habe das Geschäft satt. Ab morgen mag ich nicht mehr. Das geht uns zu weit. Wir wollen, dass jeder, der einmal vom Bürger gewählt worden ist und dessen Vertrauen gewonnen hat, einen Grund angibt, wenn er von seinem Amt zurücktreten möchte.
Der Gesetzentwurf der Staatsregierung sieht vor, dass jeder zurücktreten kann, wann immer er möchte, wann immer er Lust hat, ohne einen Grund angeben zu müssen. Das geht uns zu weit. Noch dazu: Wer Böses denkt, könnte nun auf die Idee kommen, das Ganze mit der Tatsache zu verbinden, dass man zuerst einmal den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen abschafft, also dafür sorgt, dass jeder dort kandidieren kann, wo immer er will. Er kann jederzeit auch wieder ohne Angabe von Gründen zurücktreten. Das geht uns zu weit.
Der letzte Punkt ist das Mindestalter. Wir sind der Auffassung, das Kommunalwahlrecht ab 16 Jahren ist längst überfällig. Beim aktiven Wahlrecht sagen wir Ja, beim passiven Wahlrecht allerdings konsequent Nein, da wir meinen, zum passiven Wahlrecht gehört eine Portion Lebenserfahrung.
Danke schön, Herr Kollege Hanisch. - Als Nächster hat Herr Staatsminister Joachim Herrmann das Wort zur Begründung des Gesetzentwurfes der Staatsregierung. Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie es seit etlichen Legislaturperioden Brauch ist, hat das Innenministerium im Dezember 2009 dem Landtag wiederum einen Erfahrungsbericht über die letzten Gemeinde- und Landkreiswahlen im Jahr 2008 vorgelegt und dabei auch erste Vorschläge unterbreitet, wo es aus unserer Sicht Änderungsbedarf gibt bzw. dieser zu überlegen wäre.
Der Landtag hat sich damit bereits befasst und am 27. Oktober 2010 in einem Antrag den klaren Auftrag an die Staatsregierung formuliert, zu welchen Themen aus der Sicht der Mehrheit des Landtages Änderungen entwickelt werden sollen.
Auftrag gerecht zu werden. Ich möchte aus der Vielzahl von zum Teil detaillierten Änderungen nur einige wenige herausheben. Wir werden den Gesetzentwurf insgesamt anschließend in den Ausschussberatungen sorgfältig nachvollziehen.
Erstens, ich denke, darin herrscht breite Zustimmung im Hause: Die Briefwahl soll dadurch erleichtert werden, dass sie künftig ohne Angabe von Gründen zugelassen wird. Diesen Schritt konnten wir bereits im Bundeswahlrecht erleben, wir haben auch im Landeswahlrecht noch vor, dies einzuführen. Das würde in der Tat einen Bürokratieabbau bedeuten und die Ausübung des Wahlrechts insgesamt auch für die Bürgerinnen und Bürger einfacher machen. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass jeder, der dies möchte, von der Briefwahl Gebrauch machen kann.
Zweitens. Angesichts der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung soll das Erfordernis des Aufenthalts mit dem Schwerpunkt der Lebensbeziehungen im Wahlkreis beim passiven Wahlrecht abgeschafft werden. Unerfreuliche Nachforschungen über die persönliche Lebenssituation einzelner Bewerberinnen und Bewerber sollen damit der Vergangenheit angehören. Auch künftig muss es jedoch bei jeder sich bewerbenden Person einen Ortsbezug geben. Dieser wird dadurch sichergestellt, dass die sich bewerbende Person eine melderechtliche Wohnung im Wahlkreis haben muss. Es ist aber letztendlich gleichgültig, ob es der Hauptwohnsitz oder ein Nebenwohnsitz ist. Ich denke, der Ortsbezug ist wichtig, aber er ist so einfach wie möglich zu gestalten.
Lieber Herr Kollege Hanisch, wenn ich unmittelbar auf Ihre Ausführungen eingehen darf: Die eidesstattliche Erklärung, die Sie vorschlagen, löst das Problem natürlich nicht, sondern macht es eher noch schlimmer; denn das würde in all den Fällen, die wir in den letzten Jahren beobachtet haben, bedeuten, dass Einzelfälle, wenn jemand mit einem anderen in einem Ort spinnefeind ist und ihm vorgeworfen wird: "Der wohnt da ja gar nicht, der hat dort inzwischen ein Gschpusi, und die Mehrzahl der Nächte hat er im letzten Jahr in dem anderen Dorf verbracht, usw.", am Schluss bis zum Verwaltungsgericht gehen. Meine Damen und Herren, das ist leider die Realität.