Kürzlich, am 20. Januar, jährte sich das Datum der Wannsee-Konferenz zum 70. Mal. Hochrangige Vertreter des nationalsozialistischen Regimes waren 1942 in einer Villa in Berlin zusammengekommen, um die Vernichtung der Juden in Europa zu organisieren. Das Protokoll führte SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Was er niederschrieb, ist an Zynismus nicht zu überbieten. Sehr ruhig, sehr freundlich, sehr nett sei es zugegangen – und wörtlich: „Es dauert auch nicht lange. Es wird dann ein Cognac gereicht durch die Ordonanzen, und dann ist die Sache eben vorbei.“ Anschließend nahm die systematische Massenermordung von zwei Dritteln der europäischen Juden und Jüdinnen ihren Anfang.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute und besonders am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz von 1945, gedenken wir aller Opfer des Nationalsozialismus. Wir erinnern vor allem an die verfolgten und ermordeten Juden, aber auch an Sinti und Roma, an Kranke, Behinderte, an Homosexuelle und politisch Andersdenkende, an verfolgte Christen. Wir erinnern an die Opfer einer willkürlichen Wehrmachtsjustiz, einer dem Unrecht verschriebenen Gerichtsbarkeit. Das Böse der Menschheit trägt insbesondere einen Namen: Auschwitz! Hier stand nicht das einzige Konzentrationslager der Nazis, gleichwohl wurde es zum Synonym des Grauens. Der furchtbare Komplex Auschwitz bestand aus dem Stammlager Auschwitz I, in dem mehr als 70 000 Menschen ermordet wurden. In Auschwitz II, dem KZ, starben mindestens eine Million Männer, Frauen und Kinder – von grausamen Aufsehern geschunden, gequält, gefoltert, getötet.
Paul Celan, der große deutschsprachige Lyriker, der seine Eltern in Hitlers Konzentrationslagern verlor, wollte sich nach dem Krieg nie wieder in der „Sprache seiner Mörder“ ausdrücken und fand später doch zu ihr zurück. 1958 formulierte er als Bremer Literaturpreisträger: „Erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb dies eine: die Sprache.“ Deshalb: Reden über den Holocaust, das Gesagte dokumentieren, die Gräuel nicht vergessen – auch das vor allem schulden wir den Seelen und den Nachfahren der ermordeten Juden.
Meine Damen und Herren, ich begrüße an dieser Stelle eine von Herzen willkommene Delegation aus Israel, aus unserer Partnerstadt Haifa, darunter ganz besonders Frau Cipora Feivlovitsch, eine Zeitzeugin, die Auschwitz überlebt hat, und Oberbürgermeister Yona Yahav. Es ist eine große Ehre für uns, dass Sie den nach wie vor schmerzen- und tränenreichen Weg zu uns gefunden haben. Gerade erst hat der Literat
und Bürgerrechtler György Konr´ad in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf hingewiesen, dass es zwischen Juden und Deutschen keine Vergebung geben kann, aber eben auch keine Rache geben sollte. Bemühen wir uns also weiter um Versöhnung, die Voraussetzung für eine gemeinsame Zukunft! Es ist für uns eine besondere Ehre, dass Sie, lieber Yona Yahav, gleich in diesem Hause zu uns reden werden.
Meine Damen und Herren, heute sind wir dankbar, dass am 27. Januar 1945 das Todeslager von Auschwitz endlich befreit wurde. Gleichzeitig erinnern wir uns an die Geschichte vor der Befreiung, die uns beschämt, die uns unverändert fassungslos macht. Insbesondere aber nimmt sie uns in Verantwortung und verpflichtet uns auf Menschlichkeit und Respekt, Redlichkeit und Toleranz Toleranz gegenüber Fremden und gegenüber Anderssein und damit ein Plädoyer für ein Miteinander in Vielfalt.
Doch die Realität sieht häufig leider anders aus: antisemitische Übergriffe, völkerfeindliche Parolen, Pöbeleien gegenüber Migranten und Minderheiten, unerträgliche Holocaust-Leugnungen, HakenkreuzSchmierereien, Zerstörungen auf jüdischen Friedhöfen und von Gedenkstätten. In dieser Woche hat der von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkreis Antisemitismus eine unverändert weit verbreitete Judenfeindlichkeit in Deutschland festgestellt. Etwa 20 Prozent der Deutschen seien latent antisemitisch, und zwar bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, auf dem Fußballplatz oder im Internet. Das ist beschämend und verdeutlicht auch den eklatanten Mangel an Präventionsmaßnahmen.
Im vergangenen Jahr mussten wir mit Entsetzen erfahren, dass braune Ideologien Menschen in Deutschland wieder massiv bedrohen. Neonazis und ihr über Jahre nicht entdecktes Netzwerk haben erneut dazu geführt, Nicht-Deutsche mit System zu verfolgen und zu ermorden und die Opfer sogar der Mitschuld zu verdächtigen. Das ist eine Schande für die Zivilgesellschaft; das dürfen wir nicht ein weiteres Mal zulassen. Wir müssen endlich aus unserer Geschichte lernen und bei Entgleisungen alle Mittel des Rechtsstaats entsprechend einsetzen gegen Täter und gegen diejenigen, die deren Taten durch Zögern möglich machen.
Meine Damen und Herren, den Menschen, deren Leben die Nationalsozialisten auf bestialische Weise auslöschten, insbesondere unter unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, und den Menschen, die dem Terror in letzter Minute entkamen, sind wir es schuldig, der Aggression von Neonazis den Nährboden zu entziehen. Rechtsextremismus und Antisemitismus bilden eine Gefahr für die Menschen und für unsere Demokratie. Sie bedrohen die Basis einer humanen Gesellschaft, in der Menschenrechte und Menschenwürde höchsten Schutz genießen. Wir müssen wachsam und wir müssen wehrhaft bleiben.
Oberbürgermeister Yahav*): Sehr geehrte Parlamentsabgeordnete! Ich fühle hier eine große Last, vor Ihnen zu stehen zu diesem Ereignis, und ich beginne mit einem Gedenkgebet.
Der Junge Miki Goldmann war 16 Jahre alt und gehörte als Zwangsarbeiter im Ghetto Przemys´l einer Gruppe junger Lastenträger an. Die Gruppe hatte ein Pferd und einen Wagen, und sie wurde ausgeschickt, die Häuser der in die Vernichtungslager deportierten Juden auszuräumen. Den Hausrat transportierten sie dann unter der Aufsicht von Gestapo-Leuten in Lagerhäuser des Arbeitslagers, in dem sie lebten. Das geraubte Vermögen wurde von den ––––––– *) Die Rede wurde in hebräischer Sprache gehalten.
Eines Tages, im Sommer 1943, wurde die Gruppe in eines der Häuser außerhalb des Ghettos gefahren, um Hausrat abzuholen. Als die Jungen die Wohnung betraten, fanden sie eine riesige Bibliothek mit Tausenden von Büchern vor, darunter auch Bücher über Eisenbahnen. Da ihnen bereits bekannt war, wie sehr sich die Deutschen für dieses Thema – Züge zum Transport der Juden in die Vernichtungslager – interessierten, beschlossen sie in ihrer Naivität, die Bücher, die sich mit diesem Thema befassten, nicht abzuliefern.
Zwei Tage danach wurde der Junge zum Gestapo-Kommandanten, dem SS-Mann Josef Schwammberger, zitiert. Der Junge meldete sich zur Stelle. Schwammberger stand vor ihm, an seiner Seite ein riesiger Schäferhund und um seine Hüften ein dicker Ledergurt, der Schrecken aller Lagerinsassen.
„Wo hast du die Bücher versteckt?“, fragte Schwammberger. „Ich weiss es nicht“, antwortete der Junge. „Als wir die Möbel und die Kleider ins Lagerhaus brachten, hat sie jemand vom Wagen genommen.“ – „Lügner, bringt mir die Bank her“, befahl Schwammberger. Gemeint war eine spezielle Holzbank, auf welche derjenige gebunden wurde, dem Schwammberger mit seinem dicken Ledergurt 50 Hiebe versetzte. Falls der so Bestrafte die 50 Hiebe überlebte, zog Schwammberger seine Pistole und erschoss das bedauernswerte Opfer.
„Schwammberger begann, auf mich einzuschlagen“, erzählte Miki Goldmann, „ich zählte 13, 14, 15, dann verlor ich das Bewusstsein. Ich wachte mehrmals auf und wurde erneut ohnmächtig. Die ganze Zeit über spürte ich, wie er mich schlug, pausenlos und in gleichmäßigem Rhythmus, während alle Lagerinsassen, die man gezwungen hatte, dem Schauspiel zuzusehen, auf Befehl Schwammbergers jeden der Schläge laut mitzählten.
Zum Schluss hörten die Schläge auf, und man weckte mich, indem man einen Eimer Wasser über mich goss. Ich hörte Schwammberger laut rufen: ,Sofort aufstehen!’ Mit letzter Kraft und mit zerfetztem, blutüberströmtem Rücken kam ich auf die Beine.“ „Hau ab! Keiner ist bis jetzt nach 80 Schlägen am Leben geblieben!“
Dr. Josef Bushminsky, der im Eichmann-Prozess als Zeuge geladen war, saß und wartete, dass man ihn zum Untersuchungsbeamten rief, der mit ihm die schriftlich eingereichte Zeugenausage durchgehen sollte. Als er hörte, dass der Name dieses Offiziers Goldmann war, sagte er zu ihm: „Ich habe einen Jungen namens Goldmann gekannt, der von Schwammberger 80 Schläge bekam, doch später sagte man uns, er sei tot.“ Goldmann antwortete: „Er ist nicht tot, er steht vor Ihnen. Ich bin der Junge Miki Goldmann aus Przemys´l, der vom NS-Offizier Schwammberger 80 Schläge bekam.“
Dr. Bushminsky konnte sich nicht zurückhalten, und im Verlauf seiner Zeugenaussage vor Gericht erzählte er die Geschichte von den 80 Schlägen. Am Ende seiner erschütternden Aussage wurde er vom Ankläger, Rechtsanwalt Gideon Hausner, gefragt: „Kennen Sie den Jungen?“ „Er sitzt hier neben Ihnen“, sagte er und zeigte auf den Polizeioffizier Michael Gilead, den Jungen aus dem Ghetto Przemys´l.
Michael Gilead wurde im Jahr 1925 in Kattowitz in Polen geboren. Bei Kriegsausbruch floh er mit seinen Eltern, seinen Brüdern und seiner achtjährigen Schwester in die Stadt Przemys´l. Von dort wurde er in ein Arbeitslager deportiert und von dort im November 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er überlebte das Lager. Mit der Befreiung des Lagers Anfang 1945 wurde er auf den Todesmarsch geschickt, und von dort konnte er fliehen und sich bis zur Befreiung verstecken.